INTRO: Die unendliche Geschichte der Selbstfindung – wer ist hier der Boss?

Wer bist du, wer willst du sein und wie nehmen dich andere wahr? Diese Fragen stellt sich unsere Co-Gründerin Nora-Vanessa Wohlert regelmäßig. Eine kleine Reise zu den großen Identitätsfragen.

Viele von uns haben in ihrem Leben immer mal wieder kleine Identitätskrisen. Dafür kann es ganz unterschiedliche Gründe geben: Berufliche Veränderungen, eine beendete oder neue Liebe, so etwas Banales wie ein runder Geburtstag, gesellschaftliche Umwälzungen oder ein Anstoß von außen. Wer bin ich – und will ich überhaupt so sein? Das sind zwei Grundfragen, die ich mir regelmäßig bewusst stelle. Eine immer größere Rolle spielt dabei, wie mich andere wahrnehmen und wieso beides, mein Selbstbild und die Fremdwahrnehmung meiner Person, nicht immer zusammenpassen.

Einerseits ärgert es mich sehr, dass ich mich von äußeren Bewertungen und Erwartungen ein Stück weit abhängig mache, auf der anderen Seite zeigt das, dass mir die Welt da draußen und mein Umfeld nicht egal sind – also irgendwie auch ok, denke ich. In mir arbeitet es. Auch aktuell wieder. Das Corona-Jahr, das für so viele von uns eine Menge durcheinandergewirbelt hat, hinterlässt Spuren – auch bei mir. Viel stärker als je zuvor spüre ich, wie eng mein Selbstbild mit Faktoren wie Erfolg, positiven Rückmeldungen, Unabhängigkeit, unserem Unternehmen, unserer Vision und meinen Idealen verknüpft ist. Gar davon abhängt. Ungemein schwer wiegt das aktuell, weil Erfolge ausbleiben, es keine persönlichen Begegnungen bei Veranstaltungen gibt und es wirtschaftlich schwierig ist. Wer bin ich ohne all das?

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Ich frage mich in diesem Jahr noch intensiver als zuvor, wer ich bin, wer ich sein will und wie andere mich sehen. Und ob ich mein Glück zu sehr von der Bewertung anderer abhängig mache? Denn genau das passierte in der Vergangenheit bereits häufiger – wie die folgenden Situationen aus meinem Leben zeigen.

Wie Kritik fast alles zerstörte

Als wir 2018 unseren ersten FEMALE FUTURE FORCE DAY veranstalteten, steckte wahnsinnig viel Arbeit, Liebe und Teamanstrengung in diesem Tag. Nie zuvor hatten wir eine Konferenz mit tausenden Besucher*innen ausgerichtet, so ein großes finanzielles Risiko getragen und live in so viele glückliche Gesichter geblickt. Die Resonanz war wunderbar. Der Moment, in dem ich am Morgen mit Suse nach vier Tagen Möbelaufbau, Last-Minute-Chaos, Moderationsproben und sehr wenig Schlaf auf der Bühne in einer überdimensional großen Halle im Berliner Funkhaus stand und wir unsere Gäst*innen begrüßten, fühlte sich unwirklich an. Ein bisschen wie in Trance schwebte ich durch die Moderationen, war unglaublich stolz auf das Team und auch auf mich. Wir bekamen sehr viel Lob und positives Feedback. Am Abend schlief ich mit dem Gefühl ein, den Tag am liebsten gleich wiederholen zu wollen, alle Anstrengungen schienen vergessen.

Als wir am Vormittag des nächsten Tages zum Abbau fuhren, kippte meine Stimmung. Ein Erlebnisbericht einer Besucherin zerstörte mein eigenes Bild. Die Speaker*innen nicht divers genug, ihr Panel ein Desaster, die Sponsoren zu klischeehaft. Alle Liebe, der eigene Blick, alles Lob: weggewischt.

Kritik wiegt schwerer als Lob – und besonders schwer, wenn sie sich nicht wohlwollend konstruktiv, sondern zerstörend anfühlt. Es dauerte Monate, das aufzuarbeiten. Aus der Kritik zu ziehen, was wertvoll war, und die Lust zurückzugewinnen, den Tag zu wiederholen.

Eine schmerzhafte Kündigung, die ich selbst wollte

Nach meinem Bachelor, einem Volontariat und während eines angefangenen und später abgebrochenen Masterstudiums machte ich meinen ersten Ausflug in die Startup-Welt. Ich hatte in der Kommunikation eines jungen Unternehmens angefangen und ziemlich viel gleichzeitig gerissen, so fühlte es sich für mich an. Mit dem Team verstand ich mich gut, mit dem Chef immer weniger. Er war Choleriker, seine Vision war für mich immer seltener nachvollziehbar. Ich wollte kündigen, ganz bald. Am letzten Tag meiner Probezeit kam er mir zuvor. Er legte die Kündigung auf meinen Platz. Auf mein Anfrage, ein gegenseitiges Feedbackgespräch zu machen, ging er nicht ein. Kein Interesse. Sein Ton scharf. Er wollte mich jedoch bis zum letzten Tag in der Firma behalten, keine Freistellung möglich. Warum ich zum Schluss noch eine Topübergabe machte, ist mir heute eher ein Rätsel.

Was mich im Nachhinein jedoch am meisten verwundert, ist der Schmerz, den ich fühlte, als mir gekündigt wurde. Es war wie eine Abwertung meiner Person, meiner Leistungen. Mein Selbstbild verrutschte, geriet zeitweise aus den Fugen.

Familienalltag: Keine Augenhöhe

Die Familie ist für uns alle so etwas wie der größte Schutzraum. Hier zeigen wir uns offen, verletzlich. Gerade Corona war für unsere kleine Familie, wie für viele, eine ziemliche Zerreißprobe: Die unklare Situation in beiden Unternehmen, bei EDITION F und auch in der Firma meines Freundes; eine 16-jährige Tochter (mein Bonuskind) zu Hause, der man erst einmal den Ernst der Lage vermitteln musste und das zu einer Zeit, in der Selbstständigkeit und Abnabelung so wichtig sind wie nie zuvor; und schließlich die Schule, die Kindern bisher kaum vermittelt hat, wie selbstständiges Lernen und Priorisieren funktionieren.

Alle, die Kinder haben, kennen das. Wir wollen immer alles richtig machen, fair sein und haben doch auch Sorgen. Inmitten des Corona-Chaos war ich plötzlich konfrontiert mit ziemlich viel Konfliktpotenzial und einem Wunsch meiner Tochter, der mich erst einmal hart, weil gefühlt unvermittelt traf: Sie wünschte sich von mir und ihrem Vater Augenhöhe, die sie bisher vermisste. Ich würde immer alles besser wissen als sie. Es zumindest denken.

So hatte ich das selbst bisher gar nicht gesehen, ich persönlich hatte immer gedacht, sehr viel Freiheit und Augenhöhe möglich zu machen. Nichts verletzt uns mehr, als wenn die Menschen, die uns nahestehen, das Bild von uns selbst gerade rücken. Es dauerte, zumindest ein paar Minuten, bis ich annehmen konnte, was sie gesagt hatte.

Du bist keine gute Chefin

Ich hatte schon gute und schlechte Chef*innen in meinem Leben, die meisten machten einiges richtig und genauso viel falsch. Als wir unser eigenes Unternehmen gründeten, wollte ich natürlich vieles besser und anders machen. Transparenter agieren, fairer sein, Leistung anerkennen, eine andere Unternehmenskultur schaffen. In Teilen ist uns das gelungen, in Teilen jedoch nicht. In einem kleinen Unternehmen wird man so etwas wie Familie. Ein Bruch fühlt sich dann jedoch doppelt so schlimm an, auf beiden Seiten. Als die ersten negativen Feedbacks von Mitarbeiter*innen kamen, begann ich stärker zu reflektieren, an mir zu arbeiten. Mit der Zeit spürte ich, dass es unglaublich hohe Erwartungen an mich und uns gab und wir immer wieder daran scheiterten, diesen Erwartungen gerecht zu werden.

Einiges Feedback konnte ich annehmen und die entstandenen Kritikpunkte mir selbst zuschreiben. Bei anderem habe ich immer wieder eine auseinanderklaffende Sicht wahrgenommen, die es mir bis heute erschwert, daraus zu lernen. Inzwischen versuche ich aus Kritik vor allem das zu ziehen, was ich für mich verarbeiten kann.

Selbst- und Fremdwahrnehmung können nicht identisch sein

Hunderte Situationen mehr zeigen jedem Menschen individuell, das Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht identisch sind. Es nicht sein können. Und die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen liegt. Weder das Selbst- noch das Fremdbild muss auf Tatsachen beruhen – beide sind das Ergebnis von persönlichen Eindrücken und Bewertungen.

Wie wir uns selbst sehen, ist von vielen Faktoren abhängig und verändert sich täglich leicht und im Laufe unseres Lebens stärker. Auch ich selbst schaue jeden Tag neu auf mich, und vergehen die Jahre, ändern sich Erwartungen an uns selbst und die eigene Wahrnehmung. Unser Selbstbild orientiert sich daran, wie wir sein wollen. In der Psychologie bezeichnet das Selbstbild denn auch die Vorstellung über die eigene Person.

Die Fremdwahrnehmung bezeichnet das Bild, das andere von uns haben. Es setzt sich zusammen aus Wahrnehmungen, Bewertungen und Gefühlen.

Doch das Bild, das andere von uns haben und uns spiegeln, kann unser Selbstbild beeinflussen. Das hat eine positive und eine kritische Seite. Wir können daraus lernen, uns entwickeln, Glücksgefühle und Bestätigung daraus ziehen. Stolz und Selbstbewusstsein entwickeln. Doch wir können uns auch verlieren, wenn wir uns abhängig machen von dem Bild anderer.

Kürzlich habe ich ein ganzes Wochenende darüber nachgedacht, wieso andere von mir denken, wie sie denken. Und wieso das so viel mit mir macht. Ein Telefonat mit meiner Mutter half mir dann ein wenig dabei, die Dinge wieder klarer zu sehen. „Dein ganzes Leben“, so sagte sie mir, „wolltest du die sein, die die Eins bekommt. Dabei hast du wahnsinnig hohe Ideale und wenn du ihnen nicht gerecht werden kannst, verzweifelst du. Dabei ist es gut, sich Fehler zuzugestehen, es ist gut, dass du weißt, dass du nicht perfekt bist und stets an dir arbeitest. Aber verabschiede dich davon, immer und überall eine Eins zu haben, das wird nicht passieren. Und lerne, es auszuhalten, dass du nicht immer allen gefallen kannst und dass nicht jede*r dein Bedürfnis teilen wird, entstandene Konflikte aufzuklären.“

Ich muss nicht immer überall eine Eins haben. Das ist bei mir hängengeblieben. Ich darf Fehler machen und daran wachsen und ich darf meine Ideale haben, auch wenn ich ihnen auch heute noch nicht immer gerecht werde.

Ich bin mein eigener Boss

Ich bin mein eigener Boss, ich darf und muss entscheiden, wie viel ich von außen an mich heranlassen kann und will.

Dazu habe ich in diesen Tagen einen Buchauszug gelesen, der mich sehr nachdenklich gemacht hat, weil er – glaube ich – für viele in diesem Jahr exemplarisch ist; ich fand ihn traurig und schön zugleich:

„There are a few times in life when you leap up and the past that you’d been standing on falls away behind you, and the future you mean to land on is not yet in place, and for a moment you’re suspended, knowing nothing and no one, not even yourself.

Ann Patchett in „The Dutch House“

Selbstfindung ist eine lebenslange Aufgabe. Auf dem Weg lohnt es sich, laufend zu reflektieren und dazuzulernen, unser Glück jedoch nicht von der Bewertung anderer abhängig zu machen, sondern unseren eigenen Pfad zu finden.

Der Blick auf uns. Wie du mit Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung umgehst.

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