Foto: Ulf Aminde

„Produziere nicht nur gute Literatur, sondern bitte auch noch die Aufmerksamkeit dazu“

Svenja Leiber wurde für ihre Romane und einen Erzählungsband vielfach ausgezeichnet. Im Interview spricht die Autorin über den Platz an der Sonne, negative Kritik und über die Kunst als politische Kraft. 

Nur wenige Künstler*innen können allein von ihrer Kunst leben. Noch schwieriger ist der Sprung auf die großen Bühnen. Woran liegt das? Warum schaffen es die einen und die anderen nicht? Künstler*innen müssen sich von der riesigen Konkurrenz durch etwas Herausragendes abheben können. Sie müssen wiedererkennbar sein und doch immer mit der Zeit gehen. Und: Sie müssen authentisch sein. Leiden unter solch marketingstrategischen Überlegungen nicht die kreativen Prozesse? Und verändert sich nicht zwingend die Kunst, wenn sich die*der Künstler*in den Bedürfnissen der Konsument*innen entsprechend verformt? – Svenja Leiber ist seit fünfzehn Jahren hauptberuflich Autorin und balanciert seither auf dem schmalen Grat zwischen dem Ich als Marke und dem Ich als Schreibende. 

„Für einen Platz an der Sonne musst du die Sonne mitproduzieren!“

Wir treffen uns für das Gespräch im Leise-Park, Prenzlauer Berg. Familien begegnen uns in Grüppchen unter Einhaltung der Abstandsregeln. Es ist einer dieser pandemiegetrübten Frühsommerabende: Alles ist schön, aber etwas stimmt nicht. Überall summt es, aus jeder Ecke Kinderlachen, jemand zupft an den Saiten einer Gitarre. Im tiefen Gras stehen Weinflaschen und Kaffeebecher. Da tut er sich nun auf, unser Platz an der Sonne. Und während wir uns niederlassen, erinnere ich mich an einen Satz aus einem kapitalismuskritischen Essay von Svenja, der unter anderem den Literaturbetrieb genauer ins Visier nimmt: „Allen gemeinsam scheint die Sehnsucht nach der Sonne, die Sehnsucht nach dem Bemerktwerden im immer uferloser werdenden Meer des Produzierens. Es gilt: Produziere nicht nur gute Literatur, sondern bitte auch noch die Aufmerksamkeit dazu! Für einen Platz an der Sonne musst du die Sonne mitproduzieren!“

Svenja Leiber schreibt derzeit ihren fünften Roman. Foto: Ulf Aminde

Ihr jüngstes, bei Suhrkamp erschienenes Buch „Staub“ spielt in Riad und Amman. Ein deutscher Arzt geht nach Jordanien, wo ihm das Leben eines Kindes anvertraut wird und er sich schmerzhaft erinnert fühlt an seine eigene Kindheit in Saudi-Arabien. Die Geschichte bringt die Erstarrung des Individuums in der Enge gesellschaftlicher Zuschreibungen und die Macht längst überholter Systeme zum Vorschein. Und sie tut das mit literarisch überwältigenden und zugleich zärtlichen Bildern, die den Blick auf die Zukunft auch mit Hoffnung versehen. 

„Staub“ ist Svenjas viertes Buch, sie schreibt gerade am fünften. Mit den Jahren hat sich all das, was zum Autor*innenberuf dazugehört, sehr verändert. Wenn sie zurückdenkt an die Anfänge, sieht sie ihren ersten Verleger, Egon Ammann, vor sich. „Das war ein sehr besonderer Mensch mit einem sehr besonderen Team. Ich hatte vorher nichts anderes kennengelernt als diese Leute, die Vollblutliterat*innen und Literaturbegeisterte waren. So musste das alles im ersten Moment auch einfach als ganz wünschenswert und wahnsinnig toll erscheinen. Ich hatte das Gefühl: Einen tolleren Beruf kann es gar nicht geben!“

„Irgendwie ist das ja auch ernst“

Tatsächlich schiebt sich gerade eine dicke Wolke vor die Sonne, es wird etwas kälter im Leise-Park. Svenja zündet sich eine Zigarette an. Dem erstes Buch geht ja immer eine Unbedarftheit, eine gewisse Unschuld voraus. Da sind noch keine Erwartungen, noch keine Vermarktungsstrategien, noch nicht einmal der Umriss einer Marke, die geformt und optimiert werden will. Konnte Svenja etwas von diesem Freiheitsgefühl mit „hinüberretten“ in die Gegenwart? Sie überlegt. „Jede Kritik, jedes Feedback ist natürlich im Kopf. Leider bleibt vor allem die negative Kritik hängen. Es stellt sich die Frage, ob das speziell weiblich ist, diese negative Kritik eher als wahr anzunehmen und positive Kritik als unverdient. Negative Kritik frisst natürlich extrem, wenn sie richtig sitzt. Ständig muss ich das dann bei der Arbeit des Platzes verweisen und sagen: Das hilft nicht im kreativen Prozess. Oder ich muss es halt verwandeln. In Wut zum Beispiel. Wut kann ein super Motor sein.“

„Meine Figuren sind aufgespannt zwischen Sehnsucht nach Selbsterkenntnis und Selbstverlust. Es sind Suchende. Damit entsprechen sie mir.“ Foto: Ulf Aminde

Ich war bei einer der ersten Lesungen aus Svenjas literarischem Debüt (Büchsenlicht, 2005, Ammann Verlag) dabei: Der Leseraum, eine geblümte Hotellobby, war durchzogen von Interesse, Wohlwollen, Konzentration. Das Internet hatte noch einen arglosen Charakter und das Publikum war nicht gekommen, um sich alle zwei Minuten auf die Schenkel zu klopfen und Tränen zu lachen. „Irgendwie ist das ja auch ernst. Und dieser Ernst hatte bei meinem Verleger eine Berechtigung, was mich wahnsinnig ermutigte. Er sagte einfach: Mach dein Ding. Kämpf deinen Kampf. Stirb deinen Tod. Und dann wirst du leben.“ Auch ihr heutiger Verlag biete Svenja maximalen Freiraum. Und dieser Freiraum, die Loyalität, der Rückhalt sind für den Schaffensprozess eine wichtige Voraussetzung. „Ich bekomme heute noch oft zu hören: Warum sind deine Bücher so ernst? – Und ich glaube, ich brauche das, um diesen Teil von mir und meine eigentlichen Fragen auszuarbeiten. Diese Figuren sind alle aufgespannt zwischen Sehnsucht nach Selbsterkenntnis und Selbstverlust. Es sind Suchende. Damit entsprechen sie mir, auch wenn sie in vollkommen anderen Lebensverhältnissen und oft männlich sind. Ich bin ja tatsächlich von einem Verlag weggegangen, weil man mir dort gesagt hat, ich solle doch lustiger sein. Da dachte ich: Ich bin aber nicht lustiger. Da muss ich also gehen.“

„Wer oder was sind wir? Woher kommen wir? Und wie kommt das Neue in die Welt?“

In dem eingangs erwähnten Essay schreibt Svenja: „Natürlich betrachte ich als Schriftstellerin die künstlerische Freiheit als die Basis und den Sinn der gesamten Veranstaltung. Denn worum geht es? Es geht um die uralte Frage: Wer oder was sind wir? Woher kommen wir? Und wie kommt das Neue in die Welt? Dass die Arbeitsprozesse und ihre Ergebnisse auch unterhaltsam und verwertbar sein dürfen, ist selbstverständlich. Dies bedeutet aber nicht, dass sie unterhaltsam und verwertbar sein müssen. Der erste Angriff auf die Freiheit wäre also der Imperativ: Sei unterhaltsam und damit verwertbar!“ Womit wir beim Begriff der „Marke“ wären. 

Aber was bedeutet überhaupt die Vermarktung des eigenen Produktes? Und wann genau ging es nicht mehr um das Produzieren des Produktes, sondern um das Verkaufen? „Das ist ja ein Riesen-Paradigmenwechsel, auch in der Kunst“, sagt Svenja. „Da muss man vielleicht zurückgehen bis ins 19. Jahrhundert, wo die ganze Künstler*innenkritik ihren Ursprung findet; in der Romantik, wo dieses Ich oder Individuum entsteht. Die Künstlerfigur arbeitet sich ab an der Bourgeoisie, am Kapitalismus, übt Kritik an der Gesellschaft und hat eine Stimme, weil man ihr einen Wert beimisst, der geradezu transzendent ist – wie eine Art Ersatzpriester. Und diese Rolle führt dann zu diesem ganzen Geniekult, der die Künstler*innen eine ganze Weile lang trägt – das sind damals fast ausschließlich Männer. Und da ist ja schon der erste Keim oder Kern der Marke „Künstler*in heute“: Jetzt gibt es im 20. Jahrhundert, eigentlich seit den 50er-Jahren, den Umstand, dass die ganze Kreativität eingegangen ist in die Wirtschaft. Die Kunst soll nun beides machen: Nicht mehr nur das Kunstwerk an sich, sondern sie soll auch noch die Kompetenz mitliefern, dass sie sich selbst vermarktet.“

– „Nicht nur den Sonnenplatz, sondern auch die Sonne?“

„Ja, genau. Und das ist ein riesiges Problem, denn wir als Künstler*innen sind dadurch ja fast nicht mehr interessant. Was einmal Freiheit war, ist ja allgemeine Forderung. Und alle Welt will das Neue! Jede*r soll kreativ sein, jede*r beschreibt sich und ihr*sein Leben und Denken überall und öffentlich. Es gibt keine Tabus mehr zu brechen, keine persönlichen Geheimnisse mehr zu versprachlichen. Wir verausgaben uns und geben die Trennung auf zwischen dem künstlerischen Produkt und uns selbst, in dem wir sagen: Ich bin das ja schon selbst. Nicht mehr unbedingt die alten Formen von Bildung und Suche nach Transzendenz sind gefragt, sondern die Identität direkt. Sie wird plötzlich zum Inhalt. Zum Inhalt des Produktes ,Buch‘, aber auch zum Inhalt der Marke. Das heißt, dieses Identitätstheater ist ganz stark zu spüren, ich bin das und ich bin das, ich habe den und den Hintergrund, ich komme aus einer Sekte, ich habe Migrationshintergrund, ich komme aus einer Arbeiterfamilie – all das wird in dieser Identitätspolitik eingesetzt und verschmilzt: Produzent und Produkt werden plötzlich eins. Das hat, finde ich, einerseits eine Seite, die wahnsinnig interessant ist und wichtige Diskurse anregt. Und auf der anderen Seite wird es natürlich extrem subjektiv. Ich weiß gar nicht, wie man das wieder verobjektivieren soll, weil das eigentlich nur noch die jeweilige Person sagen kann aus ihrer privaten, subjektiven Erfahrung. Und ich bin total gespannt, was danach kommt und wie sich in Zukunft doch immer mehr Identitätsgrenzen überschreitende Gemeinschaften bilden können.“

Svenja Leiber wuchs in Norddeutschland auf. Als Kind lebte sie einige Zeit in Saudi-Arabien. Foto: Ulf Aminde

„Für mich ist das Schwarzweißfoto so eine Art Maske“

Zur Vermarktung der Künstlerin gehört heute mehr denn je der öffentliche Auftritt, und zwar online und offline. Im EDITION F-Interview erzählte Hundreds-Sängerin Eva Milner von dem Mythos, der von Anfang an rund um die Band aufgebaut wurde und damit auch eine Art Maske oder Schutzschild für sie war. So etwas kennt Svenja auch: „Für mich ist das Schwarzweißfoto so eine Art Maske. Es ist ein bisschen abstrakter und gibt mir einen gewissen Abstand, ist also nicht so ,privat’ wie so ein farbiges Foto. Das ist der einzige Punkt, bei dem ich das Gefühl hab, ich kann mich hinter einer Art Maske verbergen, ohne ganz zu verschwinden. Es wäre irgendwie gut, wenn man als Schwarzweißfoto herumlaufen – und so auch auf Betriebspartys gehen könnte.“

Betrachtet man die professionellen Autorinnen-Fotos von Svenja, dann fällt die Unnahbarkeit in ihrem Blick auf; als verweise er auf ihr Buch, auf den Inhalt, die Figuren – die Kunst. Was müssen Frauen, insbesondere Künstlerinnen in der Inszenierung ihrer Marke aushalten? „Klar, da hab ich tausend Punkte. Und da komme ich an die gleichen Grenzen wie alle Frauen. Zum einen natürlich eine immer wiederkehrende Reduktion auf Äußerlichkeiten. Alter und Aussehen werden völlig unnötigerweise gern erwähnt. Aber es gibt auch die internen Hürden und Ängste. Das sogenannte ,Impostor-Syndrom’, also die Angst, als Hochstaplerin entlarvt zu werden, ist eine häufig von Frauen formulierte Angst, die mit einer bestimmten Erziehung zusammenhängt und nicht mit den realen Leistungen. Ich merke das auch immer wieder in Diskussionen mit meiner Mutter. Meine Mutter wollte immer Malerin werden und dann wurde sie in eine Gymnastik-Schule gesteckt, damit sie eleganter ist und letztlich einen guten Mann abkriegt. Das hat sie natürlich irgendwie eingeatmet.“

Aktivistin und Autorin

Es ist noch nicht lange her, da war der Leise-Park am südlichen Ende der Winsstraße ein Friedhof. Einige uralte erhalten gebliebene Grabsteine erinnern noch daran zwischen Kletterparcours und Asthütten. Auch eine Fuchsfamilie soll hier leben. Inzwischen sind Kinderlachen und Gitarrentöne verklungen. Die Abenddämmerung durchzieht die verwilderte und zugleich geordnete Grünanlage. 

Wir nähern uns auf dem schmalen Trampelpfad und zwischen dichtem Gestrüpp dem Ausgang. Sicher ist: Ein Roman bedeutet ungeheure Arbeit und Vertiefung. Ein*e Autor*in geht durch tiefste Krisen und Selbstzweifel. Svenja, die Mutter zweier Töchter ist, nimmt all das in Kauf. Und das tut sie auch aus dem Grund, weil sie politisch arbeiten will. „Ich glaube“, sagt sie schließlich, „dass wir in dem Moment, in dem wir sprechen und schreiben, politisch sind. Immer. Als Sprachkünstler*innen suchen wir ständig Seitenwege und sind nie die Majorität, nie der Mehrheitsgedanke. Sondern wir suchen den Minderheitsgedanken und damit sind wir eigentlich eine politische Kraft und ein politischer Widerstand. Das kann man nun unterstreichen und sagen: Das ist gut und das ist wichtig. Und das müsste man immer mehr übertragen in eine Art Aktivismus. Für mich ist es nicht mehr so getrennt, Aktivistin und Autorin zu sein. Andere trennen das ganz bewusst und sagen: Die Kunst ist völlig frei. Und ich würde sagen: Genau! Weil sie frei ist, ist sie politisch und weil sie frei ist, ist sie eine Kraft. Und die kann man nutzen, in tausend Wendungen: gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung, gegen Gewalt.“

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