„Hast du abgenommen? Du siehst toll aus!” Das ist immer noch ein Klassiker für viele Leute, wenn sie anderen ein Kompliment machen wollen. Warum wir damit schleunigst aufhören sollten.
Yeah, andere merken, dass ich dünner bin!
Jahre-, wenn nicht sogar jahrzehntelang hätte man mir kein schöneres Kompliment machen können als: „Oh, du hast abgenommen, oder?” Hurra, hatte sich das akribische Notieren der Kalorienanzahl jeder zu sich genommenen Mahlzeit in ein samtbezogenes Büchlein gelohnt! Ich bin dünner, und die Welt sieht es, yeah!
Schon seit längerem vermeide ich, Menschen zu einem Gewichtsverlust zu gratulieren, ich glaube, unterbewusst spielen da jene Gründe eine Rolle, weshalb ich auch niemanden mehr frage, ob er/sie denn nicht so langsam mit der Kinderplanung anfangen wolle: Ich suggeriere mit dieser Frage, dass der vorherige Zustand (mehr Kilos/keine Kinder) nicht ganz in Ordnung war beziehungsweise ist.
Und das ist bei weitem nicht der einzige Grund, warum „Oh toll, du hast abgenommen” kein Kompliment ist, auch wenn es so daherkommt. Die amerikanische Bloggerin und Body-Positive-Aktivistin Kristina Bruce erklärt hier, warum wir niemandem zu seinem*ihrem Gewichtsverlust gratulieren sollten. Dafür will sie ihren Leser*innen erstmal bewusst machen, warum dieser Satz, „Hast du abgenommen?”, in unserer Gesellschaft als Kompliment gilt. Der Satz suggeriert: Alles richtig gemacht, Erwartungen erfüllt, den richtigen Weg eingeschlagen. Das Körperideal „dünn” ist weiterhin derart stark in unserer Kultur verankert, dass sehr viele Menschen wahrscheinlich überhaupt nicht auf die Idee kommen, dass es problematisch sein könnte, Menschen wegen ihres Gewichtsverlusts ein Kompliment zu machen.
„Wir haben die Botschaft ,Dick ist schlecht’ und ,Dünn ist gut’ von dem Moment an aufgesogen, in dem wir geboren wurden”, schreibt Kristina Bruce – und meint damit, dass Kinder dieses gesellschaftliche Denkprodukt dann von klein auf in sich einsaugen, wenn es ihnen vorgelebt wird.
Und sie zählt fünf Gründe auf, warum man das vermeintliche Kompliment nicht machen sollte:
1. Die Kinder hören womöglich zu
Kinder beginnen immer früher, sich Gedanken über ihr Gewicht zu machen, selbst Fünfjährige überlegen bereits, ob sie womöglich zu dick sind. Die meisten Mädchen, schreibt Bruce, würden im Alter von acht Jahren mit der ersten Diät beginnen. Kinder saugen auf, was sie von Erwachsenen hören, und wenn sie mitbekommen, dass man nebenbei einer Freundin zu ihrem Gewichtsverlust gratuliert, dann verinnerlichen sie natürlich die Botschaft: Dünner ist besser.
2. Wir wissen nicht, ob die Person eine Essstörung hat
Wenn jemand abgenommen hat, können wir nicht wissen, wie und warum das passiert ist, wir wissen nicht, ob die Person sich im Fitnessstudio gequält hat oder extrem gehungert hat. Wir wissen nicht, ob die Person eine Essstörung hat. Bei „Esstörung“, schreibt Bruce, würden viele automatisch an ausgemergelte Mädchen denken – und wüssten nicht, dass auch dicke Personen eine Essstörung haben können. Menschen, die eine Essstörung haben und stark an Gewicht verlieren, bekommen dafür Komplimente – die bei einer Gewichtszunahme (sprich: auf dem Weg in Richtung gesundes Esssverhalten) ausbleiben. Das könne für Menschen mit einer Essstörung ein gefährlicher Trigger sein, der sogar in einen Rückfall münden könne.
3. Dünner ist nicht gleich gesünder!
Bruce geht hier auf eine Frage ein, die ihr oft gestellt wird: Was ist, wenn eine dicke Person (ohne Essstörung) aus gesundheitlichen Gründen bewusst Gewicht verlieren will, und ich ihr zu ihren Fortschritten gratulieren und sie bestärken will? Hier stellt Bruce klar: Nicht alle dicken Menschen sind nicht gesund; nicht alle dünnen Menschen sind gesund; Menschen gibt es von Natur aus in allen unterschiedlichen Größen und Formen.
Durch das Kompliment erhält man nach Bruces Ansicht also die gefährliche Annahme am Leben, dass der Gewichtsverlust einer dicken Person automatisch gut für deren Gesundheit ist.
4. Wir haben keine Ahnung, ob jemand krank oder in einer Krise ist
Wenn uns jemand von einer bestimmen Diät oder Ernährungsumstellung erzählt, dann wissen wir, warum er*sie abgenommen hat. In allen anderen Fällen haben wir schlicht keine Ahnung; er*sie könnte eine schwere Krankheit haben, eine persönliche Krise durchmachen, unter extremem Stress leiden – alles Situationen, in denen viele Menschen Gewicht verlieren. Eine Person leidet also, und von außen bekommt sie Komplimente dafür, abgenommen zu haben – keine besonders hilfreiche Botschaft.
5. Das Stigma, dick zu sein
Dicksein ist mit unzähligen negativen Stereotypen und Bewertungen verbunden. Unser kulturelles Narrativ, schreibt Bruce, umfasse unzählige Perspektiven auf die eine Botschaft: Dick ist schlecht und dünner ist besser. Dabei handle es sich aber nicht um einen Fakt, sondern um eine Ansicht, und Ansichten würden sich mit der Zeit verändern. Bruce fordert, dicke Menschen nicht automatisch mit gesundheitlichen Problemen zu assoziieren, sondern sich bewusst zu machen, dass es vielmehr das Stigma des Dickseins sein kann, das Menschen krank macht; sie weist darauf hin, dass Menschen, die als „übergewichtig” oder „fettleibig” diagnostiziert werden, häufig „Gewichtsabnahme” als Weg zur Heilung verordnet werde, anstatt sorgfältig alle Symptome zu prüfen.
Bruce weist außerdem darauf hin, dass dieses Stigma in unserer Gesellschaft so tief verwurzelt ist, dass dicke Menschen mit Nachteilen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, konfrontiert sind. Und schlussfolgert: Wer Komplimente zum Gewichtsverlust macht, füttert damit automatisch dieses gesellschaftliche Stigma.
Und sie schließt mit einem Appell: Selbst wenn man tatsächlich weiterhin der Meinung sei, dass dünner besser ist, sollte man darüber nachdenken, auf das vermeintliche Kompliment in Zukunft zu verzichten.
Zumal es wahnsinnig einfach sei, einer Person zu einer anderen Äußerlichkeit ein Kompliment zu machen (zu ihren positiven Eigenschaften sowieso): ihr Lachen, ihre Haare, ihr Schmuck, die Jacke, die Schuhe … die Liste ließe sich fast endlos fortsetzen. Kristina Bruce fasst das alles in einem Satz zusammen: „Letztendlich wollen wir alle dafür wertgeschätzt werden, wer wir sind. Wie viel wir zu einem bestimmten Zeitpunkt wiegen, hat damit beim besten Willen nichts zu tun.”
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