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Nina Wolf: Wie ich es geschafft habe, meine Essstörung zu überwinden

Erschütternd ehrlich erzählt die Autorin Nina Wolf in ihrem Buch „Zurück ins Leben: In 12 Schritten aus der Bulimie“ von dem täglichen Wettkampf gegen sich selbst. Ihre Geschichte zeigt, dass es möglich ist, eine Essstörung zu überwinden – auch wenn dazu viel Kraft und Eigendisziplin nötig sind.

 

„Mir wurde ein neues Leben geschenkt“

Als erfolgreiche Immobilienmanagerin führt Nina Wolf ein scheinbar perfektes Leben – doch die Fassade trügt. Denn keiner weiß von ihrer Krankheit, bis sie eines Tages nach einer Fressattacke auf einer öffentlichen Toilette erwischt wird. Diese Begegnung bringt sie über Umwege zu dem 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, mit dem sie es schließlich schafft, ihre Bulimie nach 25 Jahren zu besiegen und sich ein neues Leben aufzubauen. Mit ihrem Buch will sie Betroffenen die Augen öffnen, Anregungen geben und vor allem Mut machen, einen Weg aus der Sucht zu finden. Wir stellen euch einen Auszug aus „Zurück ins Leben: In 12 Schritten aus der Bulimie” vor:

Heute hat Nina Wolf eine normale, gesunde Einstellung zum Essen entwickelt. Quelle: Privat

„War ich jetzt in einer Sekte gelandet oder was?“ 

(…) In dem Raum saßen etwa 20 Frauen. Die Tische waren kreisförmig angeordnet, so dass wir uns alle gegenseitig anschauen konnten. Ich starrte vor lauter Verlegenheit auf den Boden, konnte es mir aber nicht verkneifen, aus den Augenwinkeln einen Blick in die Runde zu werfen, um mich mit den anderen zu vergleichen (da war es wieder, mein krankes Denken). Die meisten hatten eine normale Figur und für mich war klar, dass sie diese nur haben, weil sie – genau wie ich – nach dem Essen alles wieder erbrachen. Die Vorstellung, dass man normal essen und trotzdem schlank sein könnte, war für mich immer noch absurd. „Lasst uns nach einem Moment der Stille gemeinsam das Gelassenheitsgebet sprechen.“ – Diese Worte rissen mich aus meinen Gedanken heraus. Was ging denn hier ab? War ich jetzt in einer Sekte gelandet oder was? „Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Das war definitiv zu viel für mich. Ich spürte den starken Drang, einfach aufzustehen und zu gehen, blieb aber aus Rücksicht auf Christiane sitzen. Gleich nach dem Meeting würde ich ihr mitteilen, dass ich mit Gott nichts am Hut habe und somit raus bin aus dem Programm. Ich war nie ein gläubiger Mensch und konnte mit diesem ganzen Kram nichts anfangen. „Ist heute jemand zum ersten Mal dabei?“ Die Frau, die das Meeting leitete, schaute in die Runde und unsere Blicke trafen sich. Ich spürte, dass alle Augenpaare auf mich gerichtet waren und wäre am liebsten im Boden versunken. Diese zusätzliche Aufmerksamkeit war mir richtig unangenehm, wollte ich das Geschehen doch nur still und heimlich aus dem Hintergrund beobachten.

Der erste Schritt

Da ich zum ersten Mal an einem Meeting teilnahm, wurde das Programm für den Abend wegen mir geändert. Immer, wenn ein Neuling dabei ist, wird als Programmpunkt der Erste Schritt durchgenommen. „Schlauer Schachzug von
Christiane“, dachte ich mir. So kann sich alles, was sie mir zu diesem Schritt
erzählt hat, noch einmal vertiefen. Es wurde gelesen und dann haben einige
Frauen ihre diesbezüglichen Erfahrungen mit den anderen Teilnehmern geteilt.
Sie waren alle sehr nett, manche waren schon seit vielen Jahren abstinent (was hatten sie dann noch hier zu suchen?), andere standen noch ganz am Anfang ihrer Genesung oder waren – so wie ich – noch voll in der Sucht drin. Nach und nach entspannte ich mich und hörte aufmerksam zu. Ich konnte mich mit vielen der Geschichten identifizieren, und es war eine große Erleichterung für mich zu spüren, dass ich mit meiner Sucht nicht alleine war. Dennoch hatte ich immer wieder das Gefühl, nicht hierher zu gehören. „Ich glaube fest daran, dass ich meine Probleme aus eigener Kraft nicht lösen kann. Ich habe meine Machtlosigkeit akzeptiert“, sagte eine junge Frau, die sich Katharina nannte (hier nennt jeder nur (s)einen Vornamen, damit die Anonymität gewährleistet bleibt). „Und ich bin sehr dankbar dafür, dass Gott für mich das getan hat, was ich selbst nicht für mich tun konnte.“

„Du liebe Güte, auf was für einem Trip ist die denn?“, dachte ich insgeheim und als zum Schluss wieder das Gelassenheitsgebet gesprochen wurde, war ich mir sicher, dass ich bei einer als Selbsthilfegruppe getarnten Sekte gelandet war.
„Warum hast du mir nicht von Anfang an gesagt, was das für ein Verein ist?“, warf ich Christiane direkt nach dem Meeting vor. „Was ist das denn für ein Verein?“, erwiderte sie (mal wieder) mit einer Gegenfrage. Aaaah! Wie ich das hasste! „Du weißt genau, was ich meine! Was soll das ganze Geschwafel über Gott? Ich will einfach nur essen, worauf ich Lust habe, und ich will dünn bleiben. Und dabei kann mir weder dein Gott noch Gelassenheit helfen.“

„Was hat das Ganze überhaupt für einen Sinn?“

„Dann suche dir doch deinen eigenen“, erwiderte sie mit einem Lächeln. Ich schaute sie mit einem großen Fragezeichen in den Augen an: „Einen eigenen was?“
„Na einen eigenen Gott, so wie du ihn verstehst.“
„Vergiss es“, winkte ich ab. „Das haben meine Großeltern schon versucht, als ich ein kleines Kind war. Immer wenn ich etwas ausgefressen hatte, wurde mir gedroht, dass Gott mich bestrafen würde. Ich hatte viele Jahre panische Angst vor diesem Gott und ich bin froh, dass ich dieses Thema für mich abgeschlossen habe. Was hat das Ganze überhaupt für einen Sinn?“

„Ganz einfach: Im ersten Schritt haben wir das Problem erkannt und akzeptiert, dass wir dem Essen gegenüber machtlos sind und unser Leben alleine nicht mehr meistern können.“ Ich schaute sie an und nickte zustimmend. Sie fuhr fort: „Im zweiten Schritt liegt nun die Lösung: Wir erlangen den Glauben an eine Macht, die größer ist als wir selbst, und die uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“

aus: „Zurück ins Leben: In 12 Schritten aus der Bulimie“, Tectum Verlag, Februar 2018, 172 Seiten, 17,95 Euro

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