Wie ist das Leben mit einer Behinderung, die man nicht sehen kann – und die einen trotzdem im Alltag einschränkt? Davon und welche Reaktion sie auf ihre Behinderung gar nicht leiden kann, erzählt unsere Communityautorin Lisa Mücklich.
Nicht todkrank, aber auch nicht gesund
Es wird über gesunde Menschen berichtet, die dem Wahn verfallen immer noch gesünder zu werden, als sie sowieso schon sind. Und als krasses Kontrastprogramm werden Geschichten über Todkranke erzählt, über die, die täglich mit dem Leben kämpfen. Aber die dazwischen, die nicht ganz gesund und nicht todkrank sind, die werden außer Acht gelassen. Diese Menschen sind uninteressant, weil sie weder das eine, noch das andere Extrem darstellen. Aber auch über sie sollten wir reden. Ich bin so eine dazwischen und ich möchte davon erzählen, wie es ist, nicht ganz das Eine und nicht ganz das Andere zu sein.
Und immer wieder: Zimmer 3
Der große Mann im weißen Kittel schüttelt mir so heftig die Hand, dass ich denke sie fällt jeden Moment ab. Als ich mich seiner Hand entziehe, sind weiße Stellen an meiner Hand zu sehen, die erst langsam wieder an Farbe gewinnen. Das der Mann mit den großen Händen meinen Kopf und meinen Bauch aufgeschnibbelt hat, als ich 39 Zentimeter groß war, macht mir ein bisschen Angst. Aber das ist nicht schlimm, damit hat er mir nämlich das Leben gerettet. Das weiß ich, weil meine Mutter mir das immer erzählt.
Ich sitze auf der Behandlungsliege von Zimmer 3 und schaukel mit meinen Beinen. Zimmer 3, da werden meine Mutter und ich immer reingeschickt. Ich frage mich oft warum wir nie mal in Zimmer 1 oder 2 gehen dürfen. Zimmer 3 ist das Janosch Zimmer. An den Wänden hängen Poster mit Tiger und Bär beim Picknik. Vielleicht denken die Ärzte, ich mag Janosch. Dabei ist mir Janosch vollkommen egal. Ich mag Winnie Pooh, ich sollte den Ärzten mal ein Winnie Pooh Zimmer vorschlagen. Dann würde ich
bestimmt viel lieber hier her kommen.
Der Arzt wirft mir einen Blick zu. Seine Haut an der Stirn wird ganz runzelig und seine Augenbraun schieben sich zusammen. Er sagt etwas zu meiner Mama und ich schnappe ein paar Worte auf: „Überforderung in der Schule. Ergotherapie, Krankengymnastik….“ ich tue so, als würde ich nicht zuhören und konzentriere mich auf meine schaukelnden Beine. Vor, zurück, vor, zurück. Ich bin zehn Jahre alt und ich glaube, ich bin nicht so, wie andere Mädchen mit zehn Jahren sind.
Der posthämorrhagische Hydrocephalus … Hydro was?
Ich bin fast drei Monate zu früh auf die Welt kommen. Mein ausgerechneter Geburtstermin war der 28.11.1994. Mein Geburtstag ist der 09.09.1994. Ich bin ein Fan von Schnapszahlen. Im Bauch meiner Mutter, habe ich mich wohl wegen irgendetwas ziemlich erschrocken. Jedenfalls habe ich mich so gedreht, dass ich queer im Bauch lag. Als meine Mutter dann Wehen bekam, wurde mein Kopf ziemlich zusammengedrückt. Und jede Frau, die eine Geburt hinter sich hat, weiß was für Kräfte da am Werk sind. Durch den Druck auf meinen weichen Kopf, wurde mein Gehirn so zerdruckt, dass
ich Gehirnblutungen bekam. Vielleicht dachte sich mein Körper dann: „Naaa, wenn schon Scheiße, dann auch so richtig!“
Jedenfalls, hat das Blut dann meinen Rückenmarkskanal verstopft. Über den Rückenmarkskanal fließt bei gesunden Menschen das Gehirnwasser ab. Der Mensch besitzt vier Gehirnwasserkammern. Auch Liquorkammern genannt. Das ist sozusagen der Airback fürs Gehirn. Dieses Gehrinwasser wird ständig erneuert. Während der Körper frisches Wasser produziert, muss das Alte irgendwo hinfließen. Das passiert, nicht nur, aber vor allem über den Rückenmarkskanal. Das Gehirnwasser tritt dann ins Blutsystem
über und wird über die Venen abtransportiert. Täglich werden ca. 500ml Liquor neu gebildet. Bei mir konnte das Liquor durch die Verstopfung nicht mehr abfließen. Es wurde aber weiterhin neues Liquor produziert, was meine Kammern hat anschwellen lassen. Im Volksmund ist diese Krankheit unter dem Namen Wasserkopf bekannt. Auf medizinisch heißt das Ganz posthämorrhagischer Hydrocephalus.
Das Ganze wurde dann durch ein sogenanntes „Shuntsystem“ wieder in den Normalzustand zurückversetzt. Ein Shunt ist ein kleines Ventil in Kopf, daran ist ein Schlauch angeschlossen. Der Schlauch und das Ventil liegen unmittelbar unter meiner Haut. Der Schlauch führt enlang meines Brustkorbs bis in meine Bauchhöhle. Da kommt dann mein Liqor an und wird weiter in das Blutsystem geleitet. Weil der Schlauch so nah unter meiner Haut liegt, ist er für andere sichtbar. An meinem Hals sieht das ziemlich interessant aus, weil alle die das sehen denken, ich hätte eine
Halsschlagader zu viel. Was mir wiederum schon ziemlich amüsante Gespräche bereitet hat.
Ich bin behindert – was dagegen?
Die Blutung traten in meiner linken Gehirnhälfte auf und waren so stark, dass es einige Areale des Gehirns zerstört wurden. Die linke Gehirnhälfte ist für die Lenkung der rechten Körperseite zuständig, die rechte Gehrinhälfte lenkt die linke Seite. Durch die Blutung entstand bei mir eine rechtsseitige Lähmung, auch Spastik oder Hemiparese genannt. Hemi = altgr. „halb“ ; Parese = altgr. für „Erschlaffen“. Eine Hemiparese bezeichnet also eine Lähmung, der linken oder rechten Körperseite. Bei dem Wort Lähmung denken viele zuerst an Menschen im Rollstuhl. Ich kann laufen, ich laufe sogar ziemlich normal. So wie jeder andere auch, der zwei gesunde Beine besitzt. Die besitze ich zwar nicht, aber scheiß drauf, das Leben gibts nur einmal. Das auch mein rechter Arm gelähmt ist, fällt noch weniger auf. Ich habs zwar nicht so mit der Feinmotorik, aber wann muss ich zum Beispiel schon mal irgendetwas ausschneiden? Sehr selten. Und wenn doch, dann ist das Herzchen oder was auch immer, eben nicht sauber ausgeschnitten. So what. Außerdem bin ich sowieso Linkshänderin. Ich wurde
nicht umgeschult, wie früher, weil Linkshänder als verpönt galten. Mein Körper hat das einfach von sich aus so gedreht. Ziemlich ausgefuchst, wie ich finde.
Durch die Gehirnblutungen wurden noch einige andere Gehirnareale zerstört oder angefressen. Mein Zentrum für abstraktes Denken ist zum Beispiel nicht besonders ausgeprägt. Hiermit bedanke ich mich dann recht herzlich für die Sechsen in Mathe. Ich habe in meinem Leben aber schon einige Menschen kennengelernt, die ebenfalls keine Mathegenies sind. Und in deren Gehirnen gibt es keine toten Synapsen. Wären meine Synapsen alle quicklebendig, wäre ich sicherlich trotzdem kein zweiter Einstein geworden. Aber erklär mal deinem Mathelehrer, der weinend vor deiner Klausur sitzt, dass dein Gehirn Denkprozesse anders verarbeitet. Für manche Prozesse hat sich mein Gehirn einfach andere Synapsen gesucht. Ganz nach dem Motto: „Wenn du das nicht kannst du Lusche, dann nehm ich mir eben wen anderes!“
Eigentlich ganz praktisch. Wenn es aber darum geht, deinem Mathelehrer zu erklären, wie du auf die Lösung der Aufgabe gekommen bist, weil er es selbst nicht versteht und auch du dir dieses Phänomen nicht erklären kannst, erst recht nicht im Nachhinein, dann wirds schwierig. Mein Mathelehrer hat das einfach irgendwann so hingenommen. Die Qualifikation fürs Gymnasium habe ich wegen der 5 in Mathe trotzdem nicht bekommen.
Hä? Wo bist du denn bitte behindert?
Heute bin ich 21 Jahre alt. Ich habe meine Fachoberschulreife mit einem Durchschnitt von 2,8 abgeschlossen. Ich habe eine abgeschlossene Berufsausbildung in der Tasche. Ich mache Sport und möchte nächstes Jahr an einem Marathon teilnehmen. Meine Behinderung sieht und merkt mir keiner an. Und trotzdem ist sie da. Jeden Tag. Ich werde fast täglich daran erinnert, dass ich irgendwie anders bin. Im Sommer, gehe ich selten ins Schwimmbad. Ich kann nicht schwimmen. Mein Gehirn bekommt es koordinationsmäßig nicht hin, dass ich Arme und Beine gleichzeitig bewegen muss, um mich im Wasser fortzubewegen. Ich mache auch keine Fahrradtour mit Freunden. Ich kann kein Fahrrad fahren. Mein Gehirn bekommt es gleichgewichtsmäßig nicht hin, dass ich mich auf ein Fahrrad setze.
Wenn dir niemand deine physische oder psychische Einschränkung anmerkt, ist es schwierig den Leuten klar zu machen, wo deine Grenzen sind. Du erntest Missverständnis, Bewunderung oder neugierige Blicke. Eine gute Feundin von mir hat Epilepsie. Und eine Andere hat nur einen Lungenflügel. Und wir alle werden angeguckt und gefragt: „Hä? Wo bist du denn bitte behindert? oder dir werden Löchern in den Bauch gefragt warum hast du das? Und wie wirkt sich das denn aus? Wie jetzt, du kannst kein Fahrrad fahren? Warum das denn nicht?“
Ich finde ehrliches Interesse sehr schön. Dann rede ich gerne über meine Krankheit und darüber, was ich wegen ihr alles nicht kann. Aber sobald ich Bewunderung in den Augen meiner Mitmenschen sehe, stoppe ich meistens. Bewunderung für andere empfinden tut jeder und diese Empfindung ist nur menschlich. Aber ich bin nicht der Affe im Zoo. Ich bin ein Mensch, wie jeder andere auch. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, egal in welcher Form und meistert trotzdem sein Leben. Ich habe meins unter schärferen Bedingungen gemeistert, als manch anderer und tue dies immer noch. Aber ich kenne es nicht anders, weshalb diese Bedingungen für mich normal sind. Ich will nicht für etwas völlig normales bewundert werden. Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Nur eben irgendwie anders.
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