Foto: Nane Diehl

Hunderte Frauen kommen jedes Jahr nach Deutschland, um abzutreiben – Sarah Diehl hilft ihnen dabei

In Polen ist es für Schwangere kaum noch möglich, legal abzutreiben. Für einen Schwangerschaftsabbruch kommen sie daher oft nach Deutschland. Sarah Diehl ist eine der Aktivistinnen, die Frauen dabei unterstützt, einen sicheren Schwangerschaftsabbruch zu bekommen.

Hunderte bis tausende polnische Frauen kommen jedes Jahr nach Deutschland, um eine Schwangerschaft abzubrechen. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Polen schränkt das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch seit 25 Jahren immer stärker ein. Eine legale Abtreibung ist dort kaum mehr möglich.

Seit einigen Jahren gibt es deshalb das Netzwerk Ciocia Basia, das für polnische Frauen Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland organisiert. Dutzende Frauen im Jahr nehmen die Hilfe des Netzwerks in Anspruch. Nun geht die AfD gegen Mitgründerin Sarah Diehl vor.

Im Interview spricht die Aktivistin und Autorin über ihren Kampf für Schwangerschaftsabbrüche.

Frau Diehl, die AfD hat Sie in einer kleinen Anfrage als Abtreibungsaktivistin erwähnt, in Polen standen vergangene Woche Mitglieder Ihres Netzwerkes vor Gericht. Was ist passiert?

„Die AfD aus Pankow behauptet, die Neutralität eines Frauenzentrums, das mich für einen Vortrag geladen hat, sei nur gewährt, wenn sie auch Abtreibungsgegner*innen einladen. Das ist ungefähr so, als würden sie sagen, eine*n Historiker*in über den 2. Weltkrieg darf man nur einladen, wenn man auch eine*n Vertreter*in der NPD einlädt. Abtreibungsgegner*innen operieren nicht mit wissenschaftlichen Fakten, sondern mit manipulativer Propaganda.“

Und in Polen?

„Dort wurde eine Aktivistin kürzlich verhört, dann aber freigelassen. Das war eine reine Einschüchterungstaktik, bislang noch ohne Konsequenzen. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt.“

Welche Auswirkungen haben die restriktiven Abtreibungsgesetze in Polen?

„Derzeit gibt es nur noch zwei Ärzte in ganz Polen, die in einer Klinik in Warschau Abtreibungen mit medizinischer Indikation durchführen. Die Klinik ist überfüllt und sehr selektiv. Die Ärzt*innen in Polen lassen sich nicht mehr fortbilden.“

Und das bedeutet?

„Sie können deshalb auch mit Fehlgeburten nicht richtig umgehen. Das ist ein Riesenproblem. Ein Gesundheitssystem, das Abtreibung stigmatisiert, hat ein generelles Problem mit der Qualität der Frauengesundheit. Deshalb kommen auch immer mehr polnische Frauen zum Gebären nach Deutschland.“

„Den Frauen werden Schuldgefühle und Schamgefühle gemacht, damit sie nicht darüber reden und nichts fordern.“

Bei Ihrem Netzwerk Ciocia Basia melden sich jährlich hunderte Frauen aus Polen, um eine Abtreibung in Deutschland machen zu können. Warum ist Ihre Arbeit notwendig?

„Wir sammeln die Scherben von Politik und patriarchalen Strukturen auf. Diese Strukturen verhindern, dass Leute verstehen, wie die Lebensrealität von Frauen aussieht. Es gibt beim Thema Abtreibungen einen Zirkelschluss. Den Frauen werden Schuldgefühle und Schamgefühle gemacht, damit sie nicht darüber reden und nichts fordern. Wir helfen den Frauen. Und wir stellen eine Gegenöffentlichkeit her.“

Wie sieht diese Gegenöffentlichkeit aus?

„Die meisten Frauen, die eine Abtreibung machen lassen, haben schon Kinder. Das ist statistisch in ganz vielen Ländern so. Aber das Bild in den Köpfen ist: Die Frau hat Spaß am Sex und ist zu blöd, um zu verhüten. Verhütung ist nie hundertprozentig sicher, und sie kostet viel Geld. In Polen sind Sexualaufklärung und Verhütung in Schulen durch den Backlash extrem unter den Tisch gefallen.“

Die öffentliche Meinung ist, wer richtig verhütet, wird auch nicht schwanger.

„Das ist ein Trugschluss, den vor allem Männer behaupten. Viele Verhütungsmittel haben noch immer eine recht hohe Fehlerqoute, die Verantwortung wird aber nur den Frauen zugeschoben. Zudem ist Sexualität nichts, was man komplett durchmanagen kann, es gibt Unfälle. Das zum einen.“

Und zum anderen?

„Zum anderen kann man doch auch einfach mal sagen: Es gibt Ambivalenzen. Mutterwerden ist ein Riesending. Frauen müssen das Recht haben, diese Ambivalenzen ausleben zu können. Und manchmal verhütest du nicht zu hundert Prozent, weil du nicht genau weißt, was du willst. Und du wirst schwanger und merkst: das ist doch nicht das Richtige. Das heißt nicht, dass ich Abtreibung als Verhütungsmethode fördern will. Ich will, dass Frauen diese Zweifel zugestanden werden, weil sie einfach menschlich sind. Alles andere ist scheinheilig.“

Ist diese Haltung in Polen und Deutschland vergleichbar?

„Ich glaube schon. Die Selbstgerechtigkeit bei dem Thema ist unglaublich, auch das ganze Unwissen. Eines muss man mal klarstellen: Abtreibung ist kein traumatisches Ereignis per se, wenn wir es nicht zu einem traumatischen Ereignis machen. Weil wir den Frauen erzählen, wie schlimm das alles ist. Weil wir sie alleine lassen. Oder weil wir sie durch ein System schicken, das wirklich nicht sehr freundlich ist.“

„Abtreibung ist kein traumatisches Ereignis per se, wenn wir es nicht zu einem traumatischen Ereignis machen.“

Wie läuft so eine medikamentöse Abtreibung ab?

„Die Frau geht mit uns in die Klinik, in Berlin arbeiten wir mit der Familienplanungsklinik Balance zusammen. Dort hat sie das Beratungsgespräch und bekommt die erste Abtreibungspille. Das kappt die Nahrungsversorgung, das heißt der Embryo stirbt ab. Zwei Tage später nimmt die Frau die zweite Pille, Misprostol, das lässt den Unterleib krampfen, damit die Schwangerschaft ausgestoßen wird. Das sind die Blutungen. Wir gehen donnerstags mit den Frauen in die Klinik, damit sie am Wochenende wieder zu Hause sein können.“

Ist das legal?

„In Deutschland ist das Prozedere illegal, aber straffrei. Und die polnischen Gynäkologn*innenwissen, dass die Frauen en masse illegal abtreiben. Es sind schätzungsweise 80.000 bis 200.000 Frauen im Jahr. Die sehen im Zweifelsfall auch, dass eine Abtreibung gemacht wurde, wenn die Frauen hinterher zum Check-up kommen.“

Viele Frauen bestellen sich einfach die Abtreibungspillen im Internet, mit denen sie eigenständig eine Abtreibung durchführen können. Ist das wirklich eine gute Sache?

„Die Abtreibungspille ist ein Segen, besonders in Kombination mit Telemedizin. Ärztinnen mit einer Approbation für Telemedizin beraten überall in der Welt, bis nach Saudi Arabien. Wir kooperieren mit Women on Waves und Women Help Women, auch die haben auf ihrer Webseite eine gute Onlinekonsultation. Diese Strukturen wachsen, fast in einer Art Untergrund. Whatever works. Ich will, dass die Frauen die Infos, den Rückhalt und die Check-ups bekommen, die sie brauchen. Dann interessiert mich herzlich wenig, ob das illegal ist.“

„Was ist denn die Alternative? Dass die Frauen wieder Stricknadeln nehmen?“

Und wie viele davon werden verschickt?

„Women on Waves oder Women Help Women verschicken rund 4000 Pillen im Jahr per Post, für den Selbstkostenpreis von 70 Euro. In Polen machen sich die Frauen anders als in anderen Ländern nicht strafbar, aber die gesamte Hilfe um sie herum wurde gekappt.“

Wie stellen Sie die Gesundheit der Frauen sicher, wenn sie etwa aus Berlin alleine mit der Abtreibungspille nach Hause fahren?

„Wie klären auf und geben alle Informationen dazu, aber natürlich können wir nicht alles kontrollieren. Etwa, dass die Frauen wirklich zur Nachuntersuchung gehen. Frauen haben jeden Monat ihre Tage und kommen mit Blutungen und Krämpfen klar. Abtreibung ist näher an der Menstruation als am Kindsmord, erst Recht vor der zwölften Woche, was zu 97 Prozent der Fall ist. Die Abtreibungspille ist laut Weltgesundheitsorganisiation sehr sicher und hat eine extrem geringe Fehlerquote. Was ist denn die Alternative? Dass die Frauen wieder Stricknadeln nehmen?“

Wann gibt es Probleme?

„Kompliziert wird es erst, wenn weitere Reisen nach Holland organisiert werden müssen, bei Spätabbrüchen zum Beispiel, also Abtreibungen nach der 20. Schwangerschaftswoche. Das sind die schlimmsten Fälle, und wir beobachten, dass sie zunehmen. Die größte Hürde sind die Ärzt*innen: Wer ist bereit, das zu machen?“

Warum nehmen die Spätabbrüche zu?

„Die Androhung, Abtreibungen komplett zu kriminalisieren, wirkt in Polen schon jetzt. Spätabbrüche sind in Polen noch legal, wenn der Fötus kaum Überlebenschancen hat. Man findet aber schon jetzt keine Ärzt*innen mehr, die Abtreibungen durchführen. Und wir haben Fälle, in denen Gynäkolog*innen den Frauen sagen: ,Tut mir leid, in der 20. Woche sehen wir jetzt, dass die Herzkammer nicht funktioniert oder das Gehirn nicht ausgebildet ist, also wird das Kind nicht lebensfähig oder geistig stark behindert sein. Aber wir werden Ihnen nicht helfen.‘ Den Frauen wird nicht gesagt, wo sie hin können. Und dann finden sie uns und dann geht es los.“

Wie reagieren deutsche Ärzt*innen?

„Das Thema ist extrem stigmatisiert. Sie sind vorsichtig, weil sie Angst haben, dass wir öfter kommen. Es gab einen Fall mit einer Klinik im Ruhrgebiet, welche die Ultraschallbilder und Diagnose des Fötus hatten und dem Schwangerschaftsabbruch zugestimmt hatten. Wir sind mit der Frau dorthin gereist und dann hat der Chefarzt in letzter Minute gesagt: ,Wir machen das nicht, weil wir keinen Abtreibungstourismus wollen.‘ Für die Frau war das ein Horror: Diese Anspannung, dieser Stress, plus totale Traurigkeit, weil du gerade dein Kind verlierst. Es handelt sich ja häufig um gewollte Schwangerschaften.“

Spätabbrüche sind enorm umstritten. Können Sie die Kritik daran verstehen?

„Natürlich ist die Diskussion wichtig, wie sehr die ganze Pränataldiagnostik normierend wirkt. Aber am Ende stehe ich mit den Frauen da, die das dringend brauchen, weil nur sie realistisch einschätzen können, ob sie Kapazitäten haben mit einem behinderten Kind umzugehen oder nicht. Da helfen ihnen Diskussionen über Behindertenfeindlichkeit auch nicht weiter. Ich habe in zwölf Jahren noch nie eine Spätabtreibung erlebt, die ich nicht gerechtfertigt fand.“

„Solidarität hat etwas Kraftvolles. Es ist genau das, was Gesetze wie 219a verhindern.“

War das Ihre Motivation, das Netzwerk mitzugründen?

„Der Anlass war eine Zahl, die ich in meinem Studium erfahren habe: 78.000 Frauen sterben weltweit jedes Jahr an einer selbstgemachten Abtreibung. Ich habe Gender Studies studiert und gedacht: Warum weiß ich das nicht? Warum ist das Thema in meiner Generation so unter den Tisch gefallen? Mittlerweile sind es nur noch 48.000, aber das sind natürlich immer noch viel zu viele.“

Haben Sie jemals gezweifelt, ob Sie das richtige tun?

„Niemals. Stattdessen habe ich gelernt, volles Vertrauen in die Frauen zu haben. Ich bin ihr Handwerkszeug zur Unterstützung. Ich höre mir an, was die Frau will und braucht. Diese Solidarität hat etwas Kraftvolles. Es ist genau das, was Gesetze wie 219a verhindern.“

Sarah Diehl ist Autorin des Buches Die Uhr, die nicht tickt: Kinderlos glücklich. Darin interviewt sie Frauen, die bewusst auf Kinder verzichtet haben über ihre Beweggründe, um zu zeigen, wie vielfältig sie sind und den Blick auf die Lebensentwürfe von Frauen zu erweitern.

Was man zum Thema Abtreibung wissen sollte

Weltweit werden jährlich 57 Millionen Schwangerschaftsabbrüche durch­geführt. Dies geht aus einer Untersuchung der WHO von 2017 hervor. 22 Millionen der Abbrüche finden unter unsicheren medizinischen Bedingungen statt, an denen fast 50.000 Frauen sterben. 25 Prozent aller Schwangerschaften enden mit Abtreibungen.

In vielen Ländern werden Schwangerschaftsabbrüche heute zu 50 bis 80 Prozent medikamentös durchgeführt. In Deutschland sind es nur etwa 17 Prozent. Das deutsche Ärzteblatt beschreibt die medikamentöse Abtreibung als „sehr sicher“, es kann jedoch zu Komplikationen wie Fieber, starken Blutungen und Schmerzen kommen. Medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche können in Deutschland bis zur neunten Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, chirurgische Abtreibungen bleiben bis zur zwölften Woche straffrei.

So arbeitet „Ciocia Basia“

Die Frauen kontaktieren das Netzwerk per E-Mail oder Hilfstelefon. Die Fälle werden einer Koordinatorin zugeordnet. Dann werden Optionen ausgelotet, Termine, Anreise und Finanzierung besprochen. Kommen die Frauen in Berlin an, begleiten die Aktivistinnen die Frauen in die Familienplanungsklinik Balance und übersetzen.

Andere Fälle werden ins Ausland weitervermittelt – häufig nach Holland, weil dort die Fristen für eine Abtreibung später sind. Teilweise übernimmt Ciocia Basia die Finanzierung: eine medikamentöse Abtreibung in Deutschland kostet 340 Euro, eine chirurgische 470 Euro. Das Netzwerk besteht aus einem ehrenamtlichen Kernteam von zehn Personen und gründete sich vor drei Jahren. Übersetzt lautet der Name der Organisation „Tante Barbara“.

Edition F veröffentlicht das Interview von Juliane Löffler in Kooperation mit BuzzFeed. Mehr Nachrichten und Recherchen der Kolleg*innen findet ihr auf Twitter und Facebook.

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