Das Lager Moria II auf der griechischen Insel Lesbos.
Foto: Guro Kulset Merakerås

Inside Moria: „Das Leiden der Menschen wird bewusst herbeigeführt“

Das Geflüchtetenlager Moria ist zu einem traurigen Symbol für den Umgang der EU mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ geworden. Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk arbeitete für Ärzte ohne Grenzen zwischen 2015 und 2023 immer wieder als Helferin und dokumentierte das Leben der Menschen im Lager. Sie fasste deren Geschichten mit ihrer Co-Autorin, der norwegischen Journalistin Guro Kulset Merakerås, in einem Buch zusammen: „Inside Moria“.

Moria 1 auf der griechischen Insel Lesbos war das größte Flüchtlingslager in Europa. Es wurde 2013 errichtet, um den wachsenden Zustrom von Flüchtenden und Migrant*innen aufzunehmen. Ursprünglich für etwa 3.000 Menschen ausgelegt, lebten dort zeitweise über 20.000 Personen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Am 8. September 2020 zerstörte ein Großbrand das Lager vollständig, wodurch tausende Menschen obdachlos wurden. Moria 2, auch bekannt als „Kara Tepe 2“ oder „neues Moria“, entstand nach dem Brand. Es befindet sich etwa zwei Kilometer entfernt vom ursprünglichen Lager, in der Nähe der Küste.

Was bedeutet es, wenn Menschen lange Zeit ohne Beschäftigung und in Unsicherheit an einem Ort ausharren? Wie erleben traumatisierte Menschen eine solche Situation? Und wie geht es den Kindern? Wir sprachen mit Katrin Glatz Brubakk und Guro Kulset Merakerås über ihr Buch „Inside Moria“, das im März 2023 erstmals in Norwegen und 2024 auch in deutscher Übersetzung beim Westend Verlag erschien. Guro und Katrin leben beide in Norwegen. Wir führten das Gespräch per Videocall.

Seit 2014 sind etwa 30.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Allein 2024 sind es bereits mindestens 1024 Menschen (Stand: Juni 2024). In Moria kommen traumatisierte Überlebende an, in der Hoffnung auf Schutz, Sicherheit und eine Zukunft. Warum ist es so wichtig, die Geschichten dieser Menschen jetzt zu erzählen?

Guro: „Wenn wir im Rahmen unseres Buches über Moria sprechen, sagen viele, das sei doch Vergangenheit. Aber Moria ist auch Gegenwart. Oberflächlich betrachtet und im Vergleich zu Moria 1 sieht das Lager aktuell gut aus: Sanitäranlagen sind gebaut worden, die meisten Menschen wohnen in Containern, es ist aufgeräumt, ruhig, nirgendwo herrscht eine sichtbare Unruhe. Aber wie steht es um das Innenleben der Menschen, was macht dieses endlose Warten mit ihnen? Sie erleben Tage ganz ohne Inhalt, sie können weder das eigene Leben beeinflussen noch die eigenen Ressourcen nutzen.“

Katrin: „Hier herrscht die totale Apathie, viele Menschen haben Depressionen. Es ist fast so, als nehme man ihnen auf psychologischer Ebene langsam die Luft zum Atmen, sie verlieren mehr und mehr die Lebenslust. Um das zu verstehen, muss man genauer hinsehen.
Hinzu kommt: Erst sollen die geflüchteten Menschen im Lager möglichst ruhig bis apathisch vor sich hin leben. Aber sobald sie in ein neues Land kommen, sollen sie sofort Eigeninitiative ergreifen, Behördengänge machen, sich zurechtfinden? Wir haben ihnen diesen extremen seelischen Schmerz zugefügt. Sie müssen damit leben und werden dann noch dafür verurteilt, dass sie nicht so funktionieren, wie sie sollten als ,Gäste in einem anderen Land’, weil sie keinen Job haben oder keine Steuern zahlen. Und das alles ist kein Zufall. Es sind unmittelbare Konsequenzen politischer Entscheidungen.“

Die Kinderpsychologin und Traumatherapeutin Katrin Glatz Brubakk und die Journalistin Guro Kulset Merakerås sind die Autorinnen von „Inside Moria“. Foto: Knut Bry

In den letzten Jahren ist es auffällig ruhig geworden rund um Moria. Warum?

Guro: „Journalist*innen haben kaum noch Zugang zu den Lagern auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln. Wenn wir da nicht reinkommen und mit den Menschen sprechen dürfen, dann können wir auch ihre Geschichten nicht erzählen. Es ist somit unmöglich, der Krise ein menschliches Gesicht zu geben. Außerdem ist jede Veränderung auf den Inseln, jede neue Einschränkung, jede Verschlimmerung, zu klein, als dass es die ganz große Schlagzeile wert ist. Es ist das Gesamtbild, über das berichtet werden müsste! Dass das nicht geschieht, bedeutet große Freiheit für diejenigen in Machtpositionen und wenig Schutz für diejenigen, die dieser Macht unterworfen sind.“

Katrin: „Auch freiwillige Helfer*innen dürfen nicht mehr ins Lager. Organisationen, die vor Ort sind, müssen unterschreiben, dass sie nichts über das Lager oder dessen Innenleben berichten. Das bedeutet, dass über Menschenrechtsverletzungen, unzureichende Gesundheitsversorgung, ständige Kontrolle und Gewalt durch Wachen oder die fehlenden Spiel- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder nicht berichtet werden darf. Auch nicht, wenn man nicht mehr im Lager arbeitet. Alle Berichte werden gestoppt und die individuellen Geschichten der Menschen bleiben verborgen.

Zusätzlich werden Helfer*innen oft kriminalisiert. Kolleg*innen von mir wurden wegen Menschenschmuggels oder Spionage angeklagt, obwohl sie nichts anderes getan haben, als Wasser zu verteilen, Wolldecken oder Kleidung zu spenden oder Menschen vom Strand ins Lager zu transportieren. Auch unser Fotograf Knut Bry wurde verhaftet, weil er Fotos gemacht hat. So etwas schüchtert ein und führt dazu, dass noch weniger Leute kommen, dass wir weniger hören und die Menschen vor Ort weniger Aufmerksamkeit und Hilfe bekommen.“

Für mich ist „Inside Moria“ ein Appell an unsere Menschlichkeit. Insbesondere die Ergänzung des Buches um psychologische Fachbeiträge trägt dazu bei, denn die Erläuterungen bestimmter Begriffe oder Zustände sind so geschrieben, dass sich alle Menschen darin wiederfinden.

Katrin: „Es freut mich, dass du das so siehst. Das Buch zu schreiben ist für mich ein Teil meiner langjährigen Arbeit. Ich habe nicht nur auf Lesbos geholfen, sondern auch versucht, hier in Norwegen politisch aktiv zu sein, um die Leute wachzurütteln, damit sie erkennen, dass es sich um Menschen handelt. Das Buch soll nicht nur dokumentieren. Es soll das größere Bild zeichnen, Zusammenhänge herstellen und Fluchtgeschichten einordnen.

Bei den Fachbeiträgen haben wir sehr bewusst darauf geachtet, dass sie für alle Menschen gültig sind. Alle Menschen trauern ähnlich, alle Menschen werden auf ähnliche Weise traumatisiert, alle leiden psychisch, wenn sie ihre Ressourcen nicht nutzen können. Es ist ein menschliches Projekt, um zu zeigen, dass wir alle einfach Menschen sind. Und daher müssen wir auch empathisch für diejenigen sein, die auf der Flucht sind.“

„Wir wollten eine Stimme schaffen, die so laut ist, dass die Leute sie nicht ignorieren können.“

Guro Kulset Merakerås

Guro: „Katrin wurde immer wieder interviewt, sie hat Berichte und Essays geschrieben und ihre Erfahrungen geteilt. Doch das schien nicht genug zu bewirken. Wir dachten, wenn wir all diese Geschichten, all die Jahre und Aufenthalte und die Begegnungen in einem Buch zusammenfassen, könnte es mehr erreichen als ein einzelnes Interview. Mit dem Buch wollten wir eine Stimme schaffen, die so laut ist, dass die Leute sie nicht ignorieren können. Natürlich lesen nicht alle Menschen das Buch. Aber wir hoffen, dass es immer mehr werden und dass es ähnliche augenöffnende Momente auslösen wird.“

Warum ist die Flucht als Frau besonders herausfordernd und gefährlich?

Katrin: „Frauen auf der Flucht werden sehr oft ausgenutzt. Ich habe nicht nur in Moria gearbeitet, sondern auch in Ägypten, wo Frauen aus der Region südlich der Sahara flüchten. Sie wissen alle, dass die Chance, vergewaltigt zu werden, hoch ist. Es wird als unvermeidlich angesehen. Zudem treffen sie viele vermeintliche ,Helfer’, die ihnen Unterkunft und Arbeit versprechen, nur um sie dann unter sklavenähnlichen Bedingungen auszubeuten, oft auch sexuell; sie arbeiten ihre ,Schulden’ ab, um dann weiterreisen zu können. Frauen sind auf der Flucht sehr häufig Gewalt und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Das kommt durchaus auch bei Männern vor, aber seltener und nicht in der Intensität.
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Eine Mutter, die flüchtet, ist extrem verzweifelt, denn einerseits sagt sie ihren Kindern, dass man fliehen muss, weil es zu gefährlich ist oder weil es nichts zu essen gibt. Gleichzeitig weiß sie, dass die Flucht selbst auch ungeheuer gefährlich ist. Sie rettet die Kinder also aus einer gefährlichen Situation und bringt sie in eine andere, in der Hoffnung, dass man Europa erreicht und dort sicher ist. Stattdessen landet man in Moria oder anderen Lagern, die furchtbar sind. Moria I war extrem schlimm, Moria II ähnelt einem Gefängnis. Man hat keinen Einfluss darauf, wie es weitergeht, sieht die eigenen Kinder leiden und kann ihnen nicht versprechen, dass es besser wird, weil man es selbst nicht weiß. Es gibt weder Geborgenheit noch Sicherheit.

„Moria 1 war extrem schlimm, Moria 2 ähnelt einem Gefängnis.“

Katrin Glatz Brubakk

Das stellt eine zusätzliche Belastung für alle Eltern dar, vor allem aber für Mütter, die oft allein unterwegs sind, weil die Väter im Krieg gestorben, zurückgeblieben oder zuvor geflohen sind. Viele Mütter folgen später mit ihren Kindern nach, und die Last, die sie tragen, weil sie ihre Kinder auf die Flucht mitgenommen haben, ist schwer auszuhalten.

Ich habe eine Mutter getroffen, die sagte, sie überlege, sich das Leben zu nehmen, weil ihre Kinder dann als unbegleitete Minderjährige eine bessere Fürsorge erhalten und die Chance, in Europa bleiben zu dürfen, größer ist. Sie wollte ihre Kinder nicht verlassen, sondern sah dies als einzige Möglichkeit, ihnen Sicherheit zu geben, die sie selbst nicht bieten konnte.

Alle Mütter wollen für ihre Kinder das Beste, sie möchten ihnen eine gute Zukunft bieten. Viele Mütter, insbesondere afghanische, erzählen mir, dass es ihnen egal ist, was mit ihnen passiert, solange ihre Töchter zur Schule gehen und arbeiten können – Möglichkeiten, die ihnen in Afghanistan verwehrt sind. Das sind alles Dinge, die wir hier nicht nachvollziehen können.“

Die Flucht und das Leben im Lager sind für die Kinder besonders belastend. Darüber schreibt ihr auch ausführlich im Buch. Wie hast du, Katrin, die Kinder in Moria erlebt?

„Für Kinder ist die Flucht besonders schwer, da sie nie die Wahl getroffen haben zu flüchten. Viele Kinder sind wütend auf ihre Eltern und sagen: ,Wir sind geflüchtet, weil ihr gesagt habt, dass es sicher ist. Und nun sind wir in Moria, wo es überhaupt nicht sicher ist. Wie konntet ihr uns das antun?’

„Es bräuchte eine eigene Diagnosekategorie, die ich ,Moria’ nennen könnte.“

Katrin Glatz Brubakk

Die meisten geflüchteten Kinder haben traumatische Erlebnisse im Heimatland oder auf der Flucht durchgemacht. Sie bräuchten das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Vorhersehbarkeit, um zu wissen, was der Tag bringt und um sich entspannen zu können. Sie brauchen den Schulbesuch, der von den schlechten Erinnerungen ablenkt. All das gibt es einfach nicht.

Stattdessen verstärken die Bedingungen in den Lagern die traumatischen Symptome und Erlebnisse noch, und manchmal werden die Kinder sogar retraumatisiert. Wir fügen durch diese Bedingungen bewusst neues Leid hinzu.

Ich sage oft: Ich wünschte, es gäbe eine eigene Diagnosekategorie, die ich „Moria“ nennen könnte. Die Kinder, die ich dort behandle und immer wieder sehe, werden oft erst in und durch Moria schwer psychisch krank. Dieses bewusste Zufügen von Leid ist als Helferin und Therapeutin kaum zu ertragen, denn es wäre nicht nötig! Wir könnten es anders machen!“

Im Buch sprichst du über zwei Reaktionsweisen, die du bei Kindern beobachtest: Du unterscheidest zwischen dem Ausagieren und dem Rückzug. Was heißt das?

Katrin: „Wir sehen, dass Kinder auf das Leid und den psychischen Druck hauptsächlich auf zwei Arten reagieren. Das Ausagieren ist leichter zu erkennen: Es sind Kinder, die wegen innerer Unruhe, Unsicherheit und traumatischer Symptome anfangen, den Kopf gegen die Wand zu schlagen, sich zu beißen, bis sie bluten, sich die Haare auszureißen, riskante Aktivitäten zu unternehmen oder sich die Handgelenke aufzuschneiden. Dabei geht es nicht um einen Todeswunsch oder das Bedürfnis, sich selbst zu schaden und auch nicht um einen direkten Hilferuf. Vielmehr sind sie innerlich so unruhig, dass sie nicht wissen, wohin mit sich. Sie schimpfen, schreien oder greifen andere Menschen an. Fünfjährige, die Zeug*innen von Messerstechereien waren, drohen plötzlich anderen Menschen mit einem Messer. Ja, auch sehr junge Kinder zeigen dieses Verhalten.

Die andere Kategorie ist genau das Gegenteil: der totale Rückzug. Es ist, als ob ihr Nervensystem überlastet ist. Das ist kein bewusster Entschluss, sondern eine Reaktion des Körpers. Sie können die Unsicherheit, die Erinnerung an schlimme Ereignisse oder die ständige Anwesenheit von bewaffneter Polizei nicht mehr ertragen und ziehen sich komplett zurück. Das bedeutet, dass sie im Zelt sitzen bleiben. Sie spielen nicht mehr mit anderen Kindern. Manche Kinder hören auf zu sprechen oder öffnen ihre Augen nicht mehr, weil sie nichts mehr sehen oder hören wollen. Sie haben Schwierigkeiten beim Essen. Eine 9-Jährige, die ich betreut habe, musste wieder Windeln tragen, weil sie nicht mehr ausdrücken konnte, wann sie zur Toilette musste.

In extremen Fällen haben wir das Resignationssyndrom beobachtet. Diese Kinder waren so lange unter Druck und in Unsicherheit, dass sie völlig kollabiert sind. Sie essen nur noch Babybrei, weil sie nicht mehr richtig kauen können. Sie reagieren nicht, wenn man ihren Arm streichelt oder ihren Namen sagt, sie sind fast komatös. Wenn es ganz schlimm wird und sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten, sterben Kinder daran, weil sie keine Nahrung mehr aufnehmen können. Der Körper gibt einfach auf.

„Der Körper gibt einfach auf.“

Katrin Glatz Brubakk

Spielen und soziale Aktivitäten sind für Kinder entscheidend, um neue Fähigkeiten zu erlernen – motorische Fähigkeiten, soziales Miteinander und neue Informationen. Wenn sich ein Kind komplett zurückzieht, verliert es diese Entwicklungsmöglichkeiten.

Diese Kinder haben, wenn sie schließlich nach Deutschland, Norwegen oder in ein anderes Land kommen, extrem viel nachzuholen. Sie haben Probleme in sozialen Beziehungen, Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, Risikoabschätzungen zu machen und den Tag zu planen. All das, was unser Denken eigentlich leisten soll, ist unterentwickelt, und diese Defizite können ein Leben lang anhalten.

Ich mache mir die größten Sorgen, wenn Kinder nicht mehr spielen, da dies ein Zeichen für eine fehlende Entwicklung ist. Deshalb spielen wir viel, wenn ich in Krisengebieten arbeite, um die Entwicklung der Kinder zu fördern.“

Eine Verlagskollegin von euch hat die Notwendigkeit des Buches noch mal anders erkannt. Sie organisierte in Norwegen eine Spendenaktion mit dem Ziel, das Buch sämtlichen Parlamentarier*innen im Land auszuhändigen. So geschah es dann auch. Warum sollten alle Politiker*innen in Europa dieses Buch lesen?

Katrin: „Es muss begriffen werden, dass die getroffenen Entscheidungen fatale Konsequenzen für Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer haben. Ich habe immer gesagt, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg seine moderne Identität darauf aufgebaut hat, mitmenschlich zu sein und die Menschenrechte als grundlegenden Wert anzusehen. Wir sollten zu diesen Prinzipien zurückkehren und sicherstellen, dass alle Lösungen, die wir finden, auf Menschenrechten basieren.

Migrationspakt
Nach etwa zehn Jahren sich hinziehender Debatten besiegelte der Rat der Europäischen Union, also die Vertretung der 27 Mitgliedsstaaten, im Mai 2024 eine grundlegende Reform der Asylverfahren in der EU. Der aus zehn Gesetzten bestehende Migrationspakt soll die Zahlen der Neuankömmlinge reduzieren, Asylverfahren beschleunigen und an die Außengrenzen verlagern. Kritiker*innen aber sagen: Pushbacks werden noch mehr zunehmen und das Sterben im Mittelmeer wird nicht aufhören.

Was wir stattdessen sehen, insbesondere mit dem neuen Migrationspakt, ist eine Politik, die viele Menschenrechtsverletzungen beinhaltet und diese nun sogar offiziell anerkennt. Es wird akzeptiert, dass Asylverfahren nicht individuell behandelt werden, Kinder unter gefängnisähnlichen Bedingungen leben und die Gesundheitsversorgung miserabel ist. All das widerspricht den Werten, die wir eigentlich für Europa wollten.
Ich wünsche mir wirklich, dass wir einen Schritt zurückgehen und sagen: ,Okay, was sind die Menschenrechte? Die wollen wir schützen, das ist für uns wichtig.’ Danach sollten wir über mögliche Lösungen sprechen.“

„Ich beobachte den moralischen Zusammenbruch Europas.“

Guro Kulset Merakerås

Guro: „Ich beobachte den moralischen Zusammenbruch Europas. Wenn man das Gesamtbild betrachtet, ist eine schleichende Rechtsdrehung zu beobachten. Was 2015 noch als rechtsextrem und inakzeptabel galt, wie die Lösungsvorschläge von Viktor Orban, wird mittlerweile als normal und vernünftig betrachtet.
Ja, die Politiker*innen sind wichtig, aber wer wählt sie? Das Volk. Also, wacht auf und erkennt, dass diese Verschiebung nach rechts stattfindet. Jede Entscheidung, jedes Kreuz auf einem Wahlzettel, hat Konsequenzen. Durch das Buch und das Projekt habe ich gelernt und verstanden, was uns Europäer*innen verbindet und auch, welche Werte wir gemeinsam haben oder haben könnten. Wir rühmen uns gerne mit diesen Werten und betonen, dass andere Teile der Welt diese Werte nicht teilen.“

Hat Europa vor allem eine gute Marketingabteilung, die sehr bewusst bestimmte Sachen erzählt und andere nicht?

Katrin: „Ja, so ist es. Und diese Marketingabteilung Europas spricht immer davon, dass wir begrenzen, abschieben und abschrecken müssen, weil unser Lebensstil sonst gefährdet ist. Diese Botschaft kommt bei den Menschen gut an, weil sie Angst haben. Im Kleingedruckten steht dann, dass wir Menschenrechtsverletzungen in Kauf nehmen müssen. Das wird aber nicht offen kommuniziert.

Dieses Leiden der Menschen wird bewusst herbeigeführt. Es ist kein Zufall. Aber das behält die Marketingabteilung für sich. Wir müssen die Gegenstimme sein. Diese Verschiebung nach rechts macht Angst, aber für mich ist es auch ein extremer Motivator. Es ist wichtig, dass wir zusammenstehen und nicht aufgeben.“

Ein Fachbeitrag im Buch behandelt die Hoffnung. Meine Frage zum Schluss: Was gibt euch Hoffnung, wenn ihr jetzt an die nächsten Monate Jahre denkt?

Katrin: „Hoffnung gibt es überall und zu jeder Zeit. Hoffnung liegt darin, dass du Interesse zeigst und darüber schreibst. Hoffnung ist jeder Mensch, der dem Geschehen nicht den Rücken zukehrt, sondern sagt: ,Ich will das alles wissen, ich will mich engagieren.’ Hoffnung entsteht auch durch die Aktionen, die wir in Norwegen durchgeführt haben, um Menschen zu informieren und Politiker*innen zu beeinflussen, auch wenn das Kapitel nur in der norwegischen Ausgabe des Buches enthalten ist.

Wenn die Menschen wissen, wie sie helfen können, sind sie dazu bereit. Wir müssen ihnen nur zeigen, wie – sei es durch das Unterschreiben von Petitionen oder das Senden von E-Mails an den Außenminister. Einmal haben wir 7500 Paar Kinderschuhe gesammelt, um die Anzahl der Kinder in Moria zu verdeutlichen. Menschen, die sich früher nie engagiert haben, nahmen plötzlich an solchen Aktionen teil.

Es gibt immer Hoffnung, weil Menschen, wenn sie erfahren, was los ist und was sie auf menschlicher Ebene tun können, mitfühlend reagieren. Das gibt mir jeden Tag Hoffnung.“

„Auch kleine Handlungen können eine überraschend große Bedeutung für Einzelne haben.“

Guro Kulset Merakerås

Guro: „Die Erfahrung zeigt, dass politische und systemische Änderungen schwer sind und dass man als Einzelperson oft wenig bewirken kann. Aber auch kleine Handlungen können eine überraschend große Bedeutung für Einzelne haben. Das war für mich ein Weckruf, den ich durch Gespräche mit verschiedenen Flüchtlingen erfahren habe. Einzelne Menschen haben manchmal etwas getan, was einen riesigen Unterschied gemacht hat, weil es im richtigen Moment geschah. Das hat den Betroffenen die Kraft und Hoffnung gegeben, die sie brauchten, um weiterzumachen.
Jedes Mal, wenn wir denken, dass wir als Einzelperson nichts bewirken können, sollten wir daran denken, dass etwas, das klein erscheint, für jemanden anderen groß sein kann. Deshalb sollten wir niemals nichts tun.“

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