Foto: WDR/GAUMONT/LOTTA KILIAN

 Julia C. Kaiser: „Ich wollte einen Film über sexualisierte Gewalt machen, der nicht retraumatisiert“

Erzählt wird die Geschichte einer Vergewaltigung. Aber eben ohne das immer selbe zu reproduzieren. Sondern mutig und dem echten Leben entsprechend. Der Film „Nichts, was uns passiert“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Bettina Wilpert. Wir sprachen mit der Regisseurin Julia C. Kaiser.

Die 27-jährige Anna und der kaum ältere Jonas lernen sich über die Uni kennen. Die erste Anziehung führt zu einem unspektakulären One-Night-Stand, sie spielen mit ihrer Verschiedenheit, provozieren sich gegenseitig. Dann passiert etwas, das das Leben von Grund auf verändert: Jonas vergewaltigt Anna nach der Party eines gemeinsamen Freundes. Anna ist traumatisiert, erinnert sich an ihr „Nein“. Jonas erinnert sich an einvernehmlichen Sex.

Die Filmemacherin Julia C. Kaiser wollte das Thema der sexualisierten Gewalt aus queerfeministischer Perspektive bearbeiten – dabei aber nicht auf der Stelle treten, sondern den Diskurs weiterführen. Als sie gefragt wurde, die Verfilmung des Buches von Bettina Wilpert umzusetzen, hatte sie gerade das Buch „Vergewaltigung“ von Mithu Sanyal, gelesen. Nichts, was uns passiert ist ihr erster Fernsehfilm, aber ihr dritter Film als Filmemacherin, die „Lust daran hat, eine queer Joy zu verbreiten und komplex und interessant zu erzählen.“

Und das tut sie in diesem Film – zusammen mit einem offenen und funktionierenden Team, zu dem herausragende Schauspieler*innen wie Emma Drogunova (Anna) und Gustav Schmidt (Jonas) gehören – und Shari Asha Crosson, die Kelly spielt. Kelly ist Podcasterin – sie führt die Interviews, in deren Zentrum die Vergewaltigung steht.

Ist die Konstruktion, den Film mehrstimmig durch Gesprächspartner*innen der Podcasterin Kelly aufzuspannen, auch Teil des Buchs gewesen? Wie hast du dich dem Stoff angenähert?

Julia C. Kaiser: „Ich habe versucht, sehr nah am Roman zu bleiben. Im Fall der Podcasterin Kelly ist es so, dass diese Figur im Roman keinen Namen hat und auch keine eigene Storyline. Sie wird nur spürbar durch die Erzählperspektive und die Art und Weise, wie diese Erzählperspektive gewisse Dinge einordnet. Dadurch wird klar: So etwas wie eine objektive Klarheit gibt es nicht. Ich gucke immer durch die Augen von jemandem. Dieses Gefühl wollte ich im Film bewahren. Gleichzeitig bekommt man – obwohl die Podcasterin im Roman nur ganz leicht zu spüren ist – den Eindruck, dass da jemand sehr genau, sehr fair, sehr respektvoll nachfragt. Das hat mich berührt. Und deshalb wollte ich diese Person im Film sehen.“

Wie hast du dich auf die Dreharbeiten vorbereitet?

„Zunächst war ich die ganze Zeit bei der Herstellung des Films in engem Austausch mit der Autorin Bettina Wilpert, habe all die Recherchewege nachvollzogen, die sie gegangen ist und konnte hier von ihrem großen Wissen enorm profitieren.

Ich habe versucht, alle Interviews und Performances von Emma Sulkowicz zu konsumieren, und auch das Buch von Chanel Miller ,Know my name‘ hatte eine große Bedeutung. Das waren die zwei ersten Personen zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung von Bettina Wilpert, die meiner Meinung nach eine neue Diskussion in Gang gesetzt haben über das Thema sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung.

Es gab außerdem viel Diskussionsstoff aus queerfeministischer Perspektive, zum Beispiel im Zuge von Mithu Sanyals Buch ,Vergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens‘. Und natürllch habe ich viele Gespräche geführt mit Jurist*innen und Polizist*innen. Dadurch, dass sexualisierte Gewalt und Rape Culture alltäglich für mich sind, musste ich nicht lange suchen nach persönlichen Erfahrungsberichten oder dem Gespräch mit Betroffenen – es ist leider Alltag.“

„Ich erlebe Menschen und ihre Konflikte immer als sehr komplex und widersprüchlich und meistens – oder fast immer – am Guten interessiert. Ich möchte diese Widersprüchlichkeit oder Komplexität abbilden und dadurch Spannung erzeugen.“

Julia S. Kaiser

Die Erwartungshaltung an das klassische Fernsehen wird bei diesem Film gesprengt. Die Figuren sind komplex, es gibt keine einfachen Antworten. War das auch etwas, was du dem Film als Haltung vorausgesetzt hast?

„Ich erlebe Menschen und ihre Konflikte immer als sehr komplex und widersprüchlich und meistens – oder fast immer – am Guten interessiert. Für mich besteht eine sehr große Lust darin, diese Widersprüchlichkeit oder Komplexität abzubilden oder wiederzugeben und dadurch Spannung zu erzeugen. Denn ich persönlich finde das interessant, ich finde das spannend, wenn wir Ambiguität zulassen.“

Stichwort Ambiguität: Durch Kelly kommen mehrere Stimmen zu Wort, die sich zur Vergewaltigung äußern. Ich habe gemerkt, dass ich mich im Kopf oft gegen die Zwischentöne stemme, nach einem klaren Gut oder Böse suche. Hast du damit gespielt, dem Publikum genau diesen Spiegel vorzuhalten?

„Ja, es gibt Schattierungen und es gibt vor allem Geschichten. Geschichten über das gute Opfer und die bösen Täter. Was genau ist eine Vergewaltigung? Wie reagiert eine Person auf so eine Vergewaltigung? Das sind ganz enge Geschichten, die wir uns bisher dazu erzählen. Doch diese erzählten Geschichten stimmen nicht mit der Vielfältigkeit der Auswirkungen von sexualisierter Gewalt überein. Zum Beispiel diese Idee, dass der Betroffenen eine Mitschuld zugerechnet wird, wenn sie übermäßig Alkohol konsumiert – das ist eine Rhethorik, die immer wieder benutzt wird und dadurch bleibt der Diskurs an ein und demselben Punkt stehen.

Bettina Wilpert hat das in ihrem Roman meisterlich verstanden, diese Ideen und Geschichten aufzudecken und mich dazu zu bringen, zu überlegen und zu reflektieren: Was wiederhole ich denn da jeden Tag? Von welchen Wahrheiten gehe ich da aus?“

Wie gestaltete sich das Casting und wie habt ihr als Filmcrew den Drehalltag erlebt?

„Casting-Direktorin Karimah El-Giamal hat es durchgeführt und im Prozess des Castings haben Emma Drogunova und ich uns total gefunden. Das war eine extrem empowernde und inspirierende Zusammenarbeit. Emma stand ganz früh schon fest, ich habe von ihrer Seite ein großes Commitment gespürt. Eine große Lust daran, dieses Projekt zu machen – und das kann ich vom gesamten Cast behaupten.

Ich hatte das Gefühl, wir standen in einem sehr intensiven künstlerischen Austausch. Wir hatten im Vorfeld spannende Proben, bei denen wir viel gesprochen haben und auch, wenn beim Dreh die Zeit knapp bemessen ist, gab es in dieser Zeit sehr bereichernde Gespräche, die den Film jetzt noch viel besser gemacht haben.“

Wie genau sahen diese Gespräche aus?

„Es ist eine Kombination aus einem konkreten Arbeiten an diesem Projekt, wir gleichen ab, was das mit uns macht und erarbeiten uns diese Figuren und Themen. Ich denke, was wir in den Proben vor allem gemacht haben ist, dass wir ausgelotet haben: Wie fühlt sich diese Situation an? Gerade wenn wir über die Szenen sprechen, die aus mehreren Perspektiven gezeigt werden, versuchen wir herauszufinden: Wie fühlen sich diese unterschiedlichen Perspektiven an und wie können wir das rausarbeiten und sichtbar machen?

In diesen Szenen lügt ja niemand aktiv, denn es sind unterschiedliche Perspektiven und Wahrheiten, die aufgrund von Sozialisation entstehen. Das war mit Gustav Schmidt und Emma Drogunova eine sehr bereichernde Arbeit, und es hat sich auch in der Kameraarbeit gezeigt von der Kamerafrau Lotta Kilian, die sich mit mir immer wieder die Frage gestellt hat: An welcher Figur bin ich dran, welche Perspektive zeige ich? Wir haben uns zum Beispiel bemüht, das fortzusetzen, was Bettina Wilpert im Roman macht – nämlich niemals eine objektive Kameraposition einzunehmen, sondern die Kamera immer mit einer Figur zu verknüpfen.“

Du sagtest: „So etwas wie ‚objektive‘ Gewalt gibt es nicht, sondern wir als Gesellschaft legen fest, was wir als Gewalt wahrnehmen und welche Körper schützenswert sind und welche weniger.“

„Durch Gesetze einigen wir uns als Gesellschaft darauf, was als Gewalt gilt und was nicht. Zum Beispiel darf ich nicht klauen, weil das die Eigentumsrechte einer anderen Person verletzt. Und gerade, wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen, können wir durch die Vergangenheit bis heute eine extreme Veränderung erkennen, was als Gewalt eines weiblichen Körpers wahrgenommen wird und was nicht. Zum Beispiel konnte in den 70er Jahren innerehelicher Sex niemals eine Vergewaltigung sein. Glücklicherweise haben wir einen riesigen Schritt gemacht und heute gilt der Grundsatz: Nein heißt nein.

Trotzdem ist es auch heute noch so, dass die Bewertung der Situation ganz eng mit der Reaktion der Betroffenen verknüpft ist und das festlegt, ob es ein Akt sexualisierter Gewalt ist oder nicht. Anders zum Beispiel als beim Klauen: Wenn mir mein Handy geklaut wird, muss ich nicht erst ganz schrecklich weinen, damit mir geglaubt wird, dass meine Rechte verletzt wurden.“

„Ich wollte gern einen Film über sexualisierte Gewalt machen, der mich als jemand, die jeden Tag von Sexismus und Rape Culture betroffen ist, nicht retraumatisiert, sondern in meinem Sinne erzählt.“

Julia C. Kaiser

Mit welchem Gefühl soll der*die Zuschauer*in am Ende aus dem Film herausgehen?

„Ich wollte gern einen Film über sexualisierte Gewalt machen, der mich als jemand, die jeden Tag von Sexismus und Rape Culture betroffen ist, nicht retraumatisiert, sondern in meinem Sinne erzählt.

Es gibt Narrative, Erzählmuster, die immer und immer wiederholt werden, so oft, bis du das Gefühl bekommst, dass sie eine Wahrheit sind. Und gerade, wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen, ist das sehr stark. Es gibt immer die fünf gängigen Darstellungen. Das bedeutet auch, dass es noch ganz viele andere Geschichten gibt, die mir nicht erzählt werden. Und diese Geschichten, diese Perspektiven wollte ich sichtbar machen.“

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Nichts, was uns passiert – in der Mediathek

Ihr möchtet „Nichts, was uns passiert“ jetzt unbedingt sehen? Am 1. März 2023 läuft „Nichts, was uns passiert“ im Rahmen des „FilmMittwoch im Ersten“. In der ARD Mediathek ist er im Anschluss zu sehen, und wir sind gespannt, wie ihr ihn findet. Teilt eure Meinungen, Gefühle und Reaktionen gern mit uns bei Instagram oder per Mail an editorial@editionf.com.

Für Betroffene, Angehörige und Personen aus dem sozialen Umfeld gibt es zahlreiche Hilfsangebote, etwa das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ oder der Verein „Weißer Ring“.

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