Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

„Die Tat in Potsdam war kein Einzelfall“

Hinter der Gewalttat, bei der vier Menschen mit Behinderungen getötet wurden, steckt ein behindertenfeindliches System. Unsere Autorin fordert: Menschen ohne Behinderung müssen zu Verbündeten werden. Ein Kommentar.

Eine Pflegerin wird verdächtigt, in der vergangenen Woche vier Menschen mit Behinderung in einer Einrichtung in Potsdam getötet zu haben. Die mutmaßliche Täterin soll die vier Opfer im Alter von 31 bis 56 Jahren mit einem Messer erstochen und eine weitere fünfte Person schwer verletzt haben.

An dieser Stelle könnte ich jetzt Details zur Beschuldigten angeben: Ich weiß ihren Namen, kenne ihre Familiensituation und bin darüber informiert, dass sie bis zum Tag des Verbrechens angeblich sehr geschätzt wurde. Was ich nicht weiß, aber gerne wissen würde: die Namen der Opfer, was ihnen wichtig war, welche (Familien)-Beziehungen ihr Leben bestimmten? 

Außerdem wüsste ich gerne: Wie geht es den anderen Bewohner*innen in der Einrichtung? Welche Möglichkeiten bekommen sie, um den Schock und die Trauer zu verarbeiten?

Mir ist bewusst, dass das sehr sensible Einblicke sein können, die Angehörige mit Recht ablehnen können. Aber ich habe mir eine Medien-Reaktion gewünscht, die diese Fragen berücksichtigt. Nicht, um eine eindeutige Antwort zu bekommen – sondern weil es wichtig ist, diese Fragen zu thematisieren. Denn so wären aus schattenhaften Opfern fühlbar Menschen geworden. Und es waren Menschen, die dort getötet wurden.

Das gefährliche Narrativ der „Erlösung“

Stattdessen fanden Medien wie der RBB genug Raum, um einen minutenlangen werbeartigen Bericht über die Angebote der betroffenen Einrichtung zu senden. In einer anderen Sendung konnte ein Psychologe kontextfrei über die möglichen Tathintergründe spekulieren: War es „Überforderung“, oder wollte die mutmaßliche Täterin vielleicht sogar die Opfer „erlösen“? Auch von Vorurteilen nur so triefende Kondolenzbriefe wurden in der Sendung vorgetragen, Zitat: „Im Himmel könnt ihr fliegen.”

Mir als behindertem Menschen zeigte sich medial ein bizarres Bild: Zwischen diskriminierenden Aussagen, sichtbarem Machtgefälle in der Gewichtung der Perspektiven und mehrheitlichem Schweigen bei den überregionalen Medien. Besonders gut zu sehen war das Machtgefälle in den sozialen Medien.

Immer wieder wurde die Perspektive des Pflegepersonals in den Fokus gerückt, das nach Meinung vieler Menschen „Außergewöhnliches“ leistet. Zweifellos müssen die Bedingungen von Menschen, die in der Pflege arbeiten, verbessert werden. Aber verdammt: Was ist mit der Situation von Menschen mit Behinderung? Wir erleben tägliche Diskriminierungen und Gewalt auf verschiedenen Ebenen, die nicht allein durch den Pflegenotstand zu rechtfertigen sind. Was ist mit den Änderungen für uns?

Kein überraschender Einzelfall

Das ist nämlich der Nagel, an dem das schiefe Bild der meisten Medienmacher*innen und vielen Zuschauenden hängt: Die Annahme, dass die Tat in Potsdam eine Überraschung sei. Eine Tragödie. Ihre Brutalität mag eine neue Ebene eröffnen, aber sie ist kein Einzelfall.

Diese Einordnung verdeckt ein gesellschaftliches System, dessen Gewalt seit Jahrzehnten durch fehlende Statistiken und nicht vorhandene Überwachung unsichtbar gemacht wird. Trotzdem schlagen einzelne Funken immer öfter bis an eine leider noch viel zu kleine Öffentlichkeit durch.

Erst Anfang des Jahres gab es 145 Anzeigen gegen Mitarbeiter*innen wegen Gewalt in der Einrichtung Wittekindshof. Eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung,

2017 deckte Team Wallraff in einer TV-Reportage mehrere Fälle von Gewalt an Menschen mit Behinderung in großen Einrichtungen auf.

2009 unterschrieb Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die Gewalt an Menschen von Behinderung so fest in Blick hat, das sie sogar in zwei verschiedenen Artikeln mit Hauptfokus thematisiert wird. In Artikel 16 allgemein und in Artikel 6 nochmals mit dem Fokus auf Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, Gewalt zu erleben. Eine vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene repräsentative Studie zeigt: Jede dritte bis vierte Frau mit Behinderung hat in der Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erfahren, das ist zwei- bis dreimal häufiger als bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Und auch im Erwachsenenalter sind Frauen mit Behinderungen fast doppelt so häufig (58 bis 73%) von körperlicher Gewalt betroffen.

Fehlender Druck der Öffentlichkeit

In Artikel 16 der UN-BRK heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-,Bildungs- und sonstigen Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen.”

Trotz der vergangenen 12 Jahre haben bis heute viele Bundesländer keine einheitlichen Regelungen zur Kontrolle und Überwachung von Einrichtungen, geschweige denn handlungsfähige Meldestellen für Betroffene.

Hätten solche Kontrollen das Verbrechen in Potsdam verhindern können? Vermutlich nicht. Angeblich wurde die Einrichtung auch erst am Tag vor der Tat kontrolliert. Würden regelmäßige und unangekündigte Kontrollen der alltäglichen Gewalt einen kleineren Raum bieten und die Rechte von Menschen stärken? Wenn sie wirksam genug gestaltet wären, auf jeden Fall. 

Wann schafft die Politik wirksame Maßnahmen am schnellsten? Genau, wenn es großen Druck aus der Öffentlichkeit gibt. Und der fehlt.

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Augenhöhe statt Katastrophen-Tourismus

Während viele Medien diese Einordnung der Tat an so gut wie allen Stellen verpassten, leisten viele Menschen mit Behinderungen auf Instagram oder Twitter unbezahlte Bildungsarbeit. Diese Arbeit wurde allerdings kaum von Medien und Multiplikator*Innen aufgegriffen. Das zeigt einmal mehr ein gesellschaftliches Bild, das Menschen mit Behinderungen permanent herabwürdigt. Behinderte Menschen werden nicht als aktive, laute Personen gesehen, die gegen Missstände und Missbrauch kämpfen. Wir dürfen immer nur die Rolle der leidenden Opfer übernehmen.

Es wird nie die perfekte Sicherheit für Menschen mit Behinderung geben, schon gar nicht in Einrichtungen, die allesamt auf dem Prinzip der Fremdbestimmung beruhen. Was es aber geben kann und was wir brauchen: Menschen, die nicht länger alltägliche Gewalt gegen behinderte Menschen passiv tolerieren oder sogar bewusst oder unbewusst unterstützen. Deshalb: Fangt jetzt an.

Lernt mehr über Machtstrukturen, hört Menschen mit Behinderung zu, stellt euch hinter uns, wenn wir abgewertet werden. Wir brauchen keinen Katastrophen-Tourismus und keine Sonnenschein-Solidarität; wir brauchen Verbündete auf Augenhöhe.

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