Foto: Mariana Santos @Chicas Poderosas

„Du hast eine Stimme, eine Pflicht, anderen Frauen davon zu erzählen und ihnen zu helfen“

Bei den „Mächtigen Mädchen“, so heißen die „Chicas Poderosas“ auf Deutsch, unterstützen sich Frauen aus der Medienbranche länderübergreifend, vor allem in Lateinamerika. Für die heute preisgekrönte kolumbianische Journalistin Lía Valero war es der Einstieg in eine neue Welt.

Unbezahlbare Kontakte

Lía Valero ist ein mächtiges Mädchen. Carolina Guerrero, die Gründerin eines mehrfach preisgekrönten Podcasts mit Geschichten über Lateinamerika, ist auch eines. „Ich will einen Podcast machen und habe keine Ahnung?“, sagt Valero. „Dann schreibe ich in den Chicas-Chat: Carolina Guerrero von Radio Ambulante, ich habe da ein paar Fragen, kann ich dich anrufen und fünf Minuten deiner Zeit haben?“ Die prompte Antwort: „Klar, Lía!“ Und ja, Lía Valero hat mittlerweile einen eigenen Podcast.

Direkte Kommunikation, kurze Wege und unbezahlbare Kontakte – davon schwärmt Lía Valero, wenn sie über das Netzwerk „Chicas Poderosas“ spricht. Die „Mächtigen Mädchen“ halten zusammen. Auch wenn sie sich persönlich noch nicht kennen oder sie tausende Kilometer trennen: Valero ist meistens in Kolumbien, Guerrero meistens in New York City. Die Mehrheit der Chicas ist jung, manche sind kurz vor der Pensionierung, alle arbeiten in der Medienbranche, sind neugierig, lernbegierig – und der Meinung, dass Frauen zusammenhalten müssen. „Das vereinfacht viele Schritte, um dich weiterzuentwickeln in einer Branche, die in den meisten Fällen immer noch von Männern dominiert und geführt ist“, sagt die 27-jährige Valero.

Die Arbeit der lateinamerikanischen Journalistinnen ist gefährlich

Gegründet hat das Netzwerk im Jahr 2013 die Portugiesin Mariana Santos. Damals war sie Knight-Stipendiatin am International Center for Journalists (ICFJ) in Stanford. Im Interaktiv-Team der englischen Zeitung „The Guardian“ hatte die Datendesignerin neue Erzählformate mit Animation entwickelt – als einzige Frau und Latina im Team, mit einem Mentor an ihrer Seite.

Diese Grundidee wollte Santos in größerem Maßstab wiederholen. Ihr Traum: Journalistinnen, Frauen in der Öffentlichkeitsarbeit und Designerinnen Fähigkeiten und berufliche Kontakte zu vermitteln, um in ihrer Karriere voranzukommen und in der Medienindustrie zu Führungspersönlichkeiten zu werden. Für „Chicas Poderosas“ holte Santos Expert*innen großer Medien wie BBC, „New York Times“ und dem unabhängigen US-Radionetzwerks NPR nach Lateinamerika, damit sie Frauen die nötigen Werkzeuge für digitalen Journalismus beibringen.

Denn die Zahlen sind eindeutig: 2015 machten Frauen weltweit nur 24 Prozent der Menschen aus, über die in Zeitung, Fernsehen und Radio berichtet wurde oder die dort zu Wort kamen – genauso wie schon 2010. Laut Global Media Monitoring Project stammen nur 37 Prozent der Berichte in den Medien von Reporterinnen. Es handelt sich dabei um die größte Langzeitstudie zum Thema Geschlechter-Teilhabe in Medien und erscheint alle fünf Jahre. Demnach hat Santos einen Nerv getroffen.

Mariana Santos und Lía Valero (v. l.). Foto: Chicas Podersosas

Aus ihrem Traum wurde ein Netzwerk von mehr als 5.500 Frauen (und einigen Männern) verschiedener Altersgruppen, Berufsfelder und Vorgeschichten, die in 18 Ländern aktiv ist. Der Schwerpunkt von „Chicas Poderosas“ liegt auf Lateinamerika und den USA. In Europa gibt es in Spanien und Portugal Ableger. „Ich weiß nicht, ob wir die größte Vereinigung sind,“ sagt Mariana Santos, „aber wir sind sicher die, die am engsten verbündet ist und am meisten die Welt verändern will.“ Womöglich liegt diese Einigkeit auch daran, dass Journalistinnen in lateinamerikanischen Ländern vieles gemeinsam haben: Ihre Arbeit ist gefährlich, die Pressefreiheit in Gefahr, der Sexismus groß – gleichzeitig ist die feministische, länderübergreifende Gegenbewegung stärker als in Deutschland.

„Wir werden die Welt verändern“

Die Kolumbianerin Lía Valero ist seit der Gründungsphase dabei. Sie war zufällig 2013 in Costa Rica, als sie von der allerersten Veranstaltung hörte, die dort stattfand. „Ich schrieb Mariana über Twitter – und bekam sofort eine begeisterte Antwort“, erinnert sie sich. „Mariana ist so jemand: Klar, machen wir! Ich kenne dich nicht, aber das ist egal, wir werden die Welt verändern!“ Damals war Valero 20 Jahre alt und studierte Journalismus und Öffentliche Meinung in Bogotá. Heute ist sie eine von fünf Botschafterinnen der Chicas in Kolumbien. Sie hält Verbindungen in die anderen Länder, ist Ansprechpartnerin und organisiert Veranstaltungen mit.

So hatte Valero zusammen mit einer Kollegin in Kolumbien die Idee, für die Präsidentschafts- und Kongress-Wahlen 2018 eine Veranstaltung zum Faktencheck zu machen – um einander darin zu schulen, Lügen, Gerüchte und falsche Zahlen im Wahlkampf zu enttarnen. Sie lud Journalistinnen und Programmiererinnen aus ganz Kolumbien ein. Das war die Keimzelle ihres eigenen Projekts „El Poder de Elegir“, zu Deutsch „Die Macht zu wählen“. Dabei ging es darum, WhatsApp-Kettenbriefe mit Wahl-Propaganda auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und in ansprechendem Design und mit Humor, korrekte Informationen zu liefern.

Laut dem Technologie-Ministerium nutzen 60 Prozent der Kolumbianer*innen den Chatdienst. Vor der Volksabstimmung über das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla hatte sich 2016 aber gezeigt, wie beide Seiten WhatsApp für gezielte Falschinformation und Manipulation nutzten – und wie sich diese Botschaften rasend schnell im Bekannten- und Freundeskreis verbreiteten. Dem wollten die kolumbianischen Chicas etwas entgegensetzen: So konnten Nutzer*innen dubiose Nachrichten an das Netwerk schicken – und das Team recherchierte dazu und verbreitete die Erklärung an die WhatsApp-Abonnent*innen per Audio, als GIF, Meme oder Text.

In Brasilien siegte Bolsonaro mit Hilfe von WhatsApp

Basierend auf dem kolumbianischen Vorbild gründeten die Ableger in Brasilien, Mexiko und Venezuela eigene Projekte. Mit Routine und Verbesserungen wuchs die Zahl der Nutzer*innen: Hatten sich beim Erstling in Kolumbien gerade einmal 65 Menschen für den Service angemeldet gewesen, nutzten ihn in Brasilien schon 670. Doch nicht genug: Laut Reporter ohne Grenzen spielte systematische Falschinformation über WhatsApp beim Wahlsieg des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasilien eine entscheidende Rolle.

Länderübergreifend zusammenarbeiten, lokal wirken: Das ist eine Konstante in der Arbeit von „Chicas Poderosas“. Neben Trainings, Treffen und Unterstützung produziert das Netzwerk auch zunehmend eigene Geschichten und Medienprojekte. Ein Beispiel ist das  grenzüberschreitende Multimedia-Projekt über die Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika, das die Chicas kurz vor der Abstimmung im argentinischen Senat online stellten. Zwar scheiterte die Abstimmung am Ende, doch die Bilanz der Aktivistinnen ist beeindruckend: 27 Frauen in 18 Ländern arbeiteten dafür zusammen und internationale Medien in Spanien, Argentinien, Mexiko und den USA griffen Ergebnisse der Recherche auf.

Keine einzige Frau auf dem Podium

Lía Valero glaubt, dass das Netzwerk ihre Karriere entscheidend beeinflusst hat. „Ohne Chicas würde ich nichts von HTML verstehen, hätte nie erfahren, was sich hinter einer Internetseite verbirgt, wie man eine App entwickelt, Gruppenarbeit organisiert, Projekte managt, mit Geldgebern verhandelt. Wenn du diese Werkzeuge kennst, eröffnen sich dir beruflich ganz neue Möglichkeiten.“ Gerade in Kolumbien, wo die alteingesessenen Medienunternehmen zuletzt massenhaft Journalist*innen entließen.

Lía Valero interviewt eine Angehörige eines gewaltsam Verschwundenen am Río Magdalena für das Medium Rutas del Conflicto. Foto: privat

Heute arbeitet Liá Valero bei zwei spendenfinanzierten Online-Projekten: als Reporterin und Projektleiterin bei „Rutas del Conflicto“, einem Medium, das Daten zum bewaffneten Konflikt in Kolumbien für die Öffentlichkeit aufarbeitet und Geschichten dazu erzählt. Ihr Team wurde dafür sogar mit dem internationalen Data Journalism Award ausgezeichnet. Daneben arbeitet sie bei „Mutante“ und gibt Schulungen in Cyberaktivismus. Ihre Schwerpunkte sind die Erinnerung an den bewaffneten Konflikt, Menschenrechte und Geschlechterfragen.

Die Treffen mit den „Chicas Poderosas gäben ihr für ihren Alltag Kraft und Inspiration, sagt sie. So wie damals in El Salvador. Als sie dort eine Chicas-Tagung besuchte, fand zufällig auch die wichtigste Journalismus-Konferenz in Zentralamerika statt. Die Frauen waren sauer, weil bei der Eröffnung zum Thema „Blick auf die Welt aus Sicht des Fußballs“ keine einzige Frau auf dem Podium sein sollte. Sie bastelten Steckbriefe mit Angaben zum Frauenanteil in Institutionen, die wie rote Karten aussahen und klebten sie auf alle Stühle des Auditoriums. Während der Debatte stand ausgerechnet eine Fußballerin im Publikum auf und zeigte den Männern auf dem Podium symbolisch die Rote Karte.

„Das sind Dinge, die du nicht kontrollieren kannst. Aber das ist die Magie, die passiert, wenn Chicas zusammenkommen“, so Lía Valero. „Das ist eine verändernde Kraft, die ich nicht erklären kann. Du verlässt diese Treffen mit neuer Energie. Du fühlst: Du hast einen Platz, eine Stimme, eine Pflicht, das anderen Frauen weiterzuerzählen und ihnen zu helfen.“

Hintergrund: „Chicas Poderosas“ ist eine gemeinnützige Nichtregierungsorganisation. Die Aktivitäten sind für die Teilnehmerinnen bislang gratis. Sponsoren sind unter anderem die Open Society Foundation sowie die Google News Initiative, die technische Innovationen und Kollaborationen in Medien unterstützt. Die Organisation begann mit Trainings für Frauen in Medien. Seit 2017 unterstützt sie mit dem Format „New Ventures Lab“ darüber hinaus Medien-Gründerinnen in Lateinamerika. Derzeit entwickelt Gründerin Mariana Santos ein Geschäftsmodell, damit „Chicas Poderosas“ langfristig existieren und weibliche Führungspersönlichkeiten mit aufbauen kann.

Von Katharina Wojczenko, Bogotá

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