Harvey Weinstein muss in den Knast. Das Gesicht von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt der letzten Jahre, dessen systematische Verfolgung von Frauen die Wahrnehmung der #Metoo-Bewegung wesentlich prägte, wurde zu 23 Jahren Haft verurteilt. Das ist nicht nichts, aber auch kein Triumph, findet unsere Autorin Nicole Schöndorfer.
Die Unschuldsvermutung ist Geschichte
Bis zu 100 Frauen waren es insgesamt, die Harvey Weinstein Übergriffe vorgeworfen hatten – verbale und physische, strafrechtlich relevant oder auch nicht. Über Jahrzehnte hatte Weinstein als Hollywood-Produzent seine Macht gegenüber Frauen, mit denen er zusammengearbeitet hatte, massiv missbraucht, sie erniedrigt, belästigt, attackiert, vergewaltigt. Es ist nicht mehr nötig, im Konjunktiv zu formulieren. Die Unschuldsvermutung ist endlich Geschichte.
Ende Februar wurde Weinstein von einer Geschworenenjury in New York in zwei von fünf Anklagepunkten für schuldig befunden und diese Woche hat der zuständige Richter James Burke das Strafmaß verkündet: 23 Jahre Gefängnis. 29 Jahre wären möglich gewesen, wenn Weinstein für beide Tatbestände, „criminal sexual act in the first degree” und „rape in the third degree”, jeweils die Höchststrafe erhalten hätte. Beim ersten Tatbestand – konkret geht es um erzwungenen Oralverkehr – beträgt das mögliche Strafmaß fünf bis 25 Jahre. Beim zweiten Tatbestand handelt es sich zwar um Vergewaltigung, aber mit einer grundsätzlich zum Einverständnis befähigten Person. Dass es diesbezüglich Abstufungen gibt, ist problematisch, aber eine andere Geschichte. Die Höchststrafe dafür beträgt vier Jahre.
Nun sind 23 Jahre bei einem möglichen Gesamtstrafmaß von 29 Jahren selbstverständlich nicht wenig, man darf allerdings nicht vergessen, dass Weinstein vom am schwersten wiegenden Verbrechen, das ihm angelastet wurde, freigesprochen wurde: „predatory sexual assault”. Das bedeutet in etwa, dass zu beweisen gewesen wäre, dass die sexualisierten Übergriffe von ihm auf Frauen System hatten. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Jury ihn davon freisprach. So hatte etwa die Schauspielerin Annabella Sciorra als Zeugin im Prozess ausgesagt, um das Bild von Weinstein als „sexual predator” zu vervollständigen. Sciorra wirft Weinstein vor, sie vor 27 Jahren vergewaltigt zu haben. Da die Tat mittlerweile verjährt ist, war sie selbst nicht Teil der Anklage, sie sollte sie aber stützen.
Diskussionen über die Glaubwürdigkeit von Frauen sind leider nichts Ungewöhnliches
Man könnte nun darauf hinweisen, dass die verantwortliche Jury aus sieben Männern und fünf Frauen bestand und sie sich nach der Verhandlung satte 30 Stunden beriet, bevor sie schließlich den Schuldspruch verkündete. Worum es dabei so lange ging, ist nicht bekannt, aber Diskussionen über die Glaubwürdigkeit und Beweggründe von Frauen, die mächtigen Männern sexualisierte Gewalt vorwerfen, sind ja leider nichts Ungewöhnliches.
Das Urteil gegen Weinstein ist erfreulich. Dass er vermutlich den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen wird, ist für die an der Aufklärung und Strafverfolgung beteiligten Frauen hoffentlich nicht nur eine Erleichterung, sondern auch eine Genugtuung. Sie haben einen unvorstellbaren Kampf durchgestanden, ein langes und kräftezehrendes Verfahren voller Victim Blaming und Demütigung, voller retraumatisierender Konfrontation durch die Öffentlichkeit und Weinsteins brutale Anwält*innen. Dass sie sich trauten, vor Gericht auszusagen, bleibt bemerkenswert. Mimi Haleyi, Jessica Mann, Annabella Sciorra, Lauren Young, Dawn Dunning und Tarale Wulff haben etwas erfahren, das nur die wenigsten Betroffenen erleben: dass der Mann, der ihnen Gewalt angetan hat, zur Rechenschaft gezogen und verurteilt wird.
Nur ein geringer Prozentsatz der Täter wird verurteilt
Jeder einzelne Täter, der wegen sexualisierter Gewalt gegen Frauen schuldig gesprochen wird, bedeutet einen kleinen Sieg, denn es ist ein Kampf um Gerechtigkeit, mit der man eigentlich nicht rechnen kann, wenn man sich die Anzahl der tatsächlichen Verurteilungen vor Augen führt. In Deutschland ist es nach einer Untersuchung des Kriminologen Christian Pfeiffer so, dass von 100 Frauen, die vergewaltigt werden, nur eine einzige erlebt, dass der Täter verurteilt wird. Das liegt daran, dass mindestens 85 Prozent der Frauen keine Anzeige erstatten und von den 15 Prozent, die übrig bleiben, werden letztendlich nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. 7,5 Prozent von den übriggebliebenen 15 Prozent.
In den USA sieht es laut dem Rape, Abuse & Incest National Network folgendermaßen aus: Von 1.000 sexuellen Übergriffen werden 230 bei der Polizei angezeigt, wovon 46 quasi angenommen werden. Davon kommt es bei neun Anzeigen zur Strafverfolgung, die wiederum in fünf Fällen mit einer Verurteilung endet. Das bedeutet, dass Tätern in 995 von 1.000 Fällen nichts passiert. Alleine deshalb ist Weinsteins Verurteilung erfreulich. Aber wie bedeutsam ist sie strukturell? Worüber muss man sprechen, wenn man den Fall in einen gesellschaftspolitischen Kontext setzen will? Ist das Urteil wirklich ein Meilenstein? Ein Triumph für die #Metoo-Bewegung, wie vielerorts euphorisch geschrieben wurde?
Der Kampf hat erst begonnen
Ja, der Fall Weinstein war aufgrund seiner Schwere und der medialen Aufmerksamkeit eines der Aushängeschilder der #Metoo-Bewegung. Das Urteil als einen Triumph dieser Bewegung zu bezeichnen, behandelt diese fast schon so, als wäre sie ein von realen gesellschaftlichen Gegebenheiten isoliertes Ereignis. Dabei ging es ja von Anfang an darum, aufzuzeigen, wie tief verankert patriarchalische Strukturen in der Gesellschaft sind, wie normalisiert und weit verbreitet Machtmissbrauch und Gewalt, ausgeübt von Männern gegenüber Frauen, sind und wie sexistische Beleidigungen mit sexualisierten Übergriffen verknüpft sind.
Oft wirkt es in der Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung so, als würde #Metoo mit diesem über Jahrhunderte etablierten Machtungleichgewicht gleichgesetzt. Als wäre #Metoo mit der Inhaftierung Weinsteins „vollendet” und damit das Problem überwunden. So simpel ist es nicht. Metoo ist kein anderes Wort und kein Überbegriff für sexualisierte Gewalt. #Metoo hat sich als eine Art globale Plattform, nicht nur für Betroffene, etabliert, um die perfide Systematik von Machtmissbrauch und Gewalt offen zu legen. Der Kampf hat erst begonnen.
Einer weniger, alle anderen müssen folgen
„Wir” haben es nicht geschafft, „wir” haben als Gesellschaft mit dem Weinstein-Urteil nichts gewonnen. Die involvierten Frauen ja, „wir” nicht. Machtmissbrauch und Gewalt gehen Tag für Tag weiter. Es hat sich nichts geändert an ihrer Kontinuität und an der Verharmlosung von sexuellen Übergriffen. Von einem Meilenstein und Triumph zu sprechen, verschleiert die Systematik. Es individualisiert ein strukturelles Problem und wirft diejenigen unter den Bus, die keine mediale Bühne haben und nicht gehört werden. Anhand der #Metoo-Bewegung wird oft so getan, als würde man sich des Themas annehmen, die Betroffenen ernst nehmen und die Gewalt verurteilen. Wenn es dann aber das nähere Umfeld betrifft, also weit weg passiert von den reichen Vorzeigebösewichten in L.A., schwindet die Empörung und die Solidarität wird dünner.
Alle konnten stets viel damit anfangen, dass Hollywood ein Nährboden für Gewalt ist. Doch das lässt sich über jedes System, jede Institution, jeden Betrieb, jede Familie – über alles, was auf Hierarchien und ungleichen Machtverhältnissen aufgebaut ist – sagen. Man muss nicht nach Hollywood schauen, um sexualisierte Gewalt zu finden und zu benennen. Hollywood ist in dieser Vorstellung ein abstrakter, fast schon fiktiver Ort. Für viele war die Weinstein-Enttarnung mehr vorzügliches True-Crime-Entertainment als eine Realität, mit der Frauen überall konfrontiert und die Täter nicht nur schmierige Milliardäre sind.
So gut wie niemand hat sich getraut, ein „Monster” wie Weinstein zu verteidigen, bei ihm waren sich alle einig. Es wäre selbst für patriarchalische Verhältnisse zu krass gewesen, wäre er nicht auch von Männern kollektiv verachtet worden. Aber Weinstein ist eben nicht der beste Kumpel, den man schon lange kennt und der so etwas niemals machen würde. Er ist nicht der loyale Kollege, der so gute Arbeit macht. Er ist nicht der geschätzte Politiker, der sich für das vermeintlich Gute engagiert. Es ist einfach, für Männer und Kompliz*innen, Weinstein aus der Ferne zu verurteilen, um sich selbst zu versichern, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Es ist nur nicht die richtige Seite, wenn sie an anderer Stelle schweigen und verharmlosen. Denn Weinstein ist nur einer weniger. Alle anderen müssen folgen.