Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Sara Hassan
Klischees, unrealistische Vorschläge, unsensible Stehsätze
Vor zwei Jahren ist mit #metoo ein Riss durch die Gesellschaft gegangen und seither sprechen wir öffentlich über Machtmissbrauch. Wenn es um den Umgang mit Betroffenen geht, stehen wir aber noch ganz am Anfang. Wer sich anderen anvertraut, bekommt oft abgeschmackte Klischees, unrealistische Vorschläge und im besten Fall unsensible Stehsätze zu hören. Solche Kommentare können einiges anrichten. Ich habe in den vergangenen Jahren viel über den Umgang mit sexueller Belästigung gelernt, zum Beispiel, dass Belästiger*innen immer wieder die gleichen Strategien anwenden, und auch die Reaktionen aus dem Umfeld oft sehr ähnlich sind. Im Umgang mit Menschen hätte ich mir gewünscht, ihnen weniger dieser Lektionen beibringen zu müssen.
Ich teile hier, was ich an persönlichen Erfahrungen und durch die Arbeit in einem feministischen Frauennetzwerk gesammelt habe. Natürlich kann und will ich aber nicht für alle sprechen. Viele Geschichten von sexueller Belästigung haben zwar Gemeinsamkeiten und folgen gewissen Mustern, aber jede Leidensgeschichte ist individuell und jede*r Betroffene braucht etwas anderes. Oft bedeutet das viel Zeit und, sofern das möglich ist, eine therapeutische Begleitung. Entscheidend ist aber auch, wie sich das Umfeld verhält und ob es ein unterstützendes Netzwerk gibt, das Betroffenen nicht das Gefühl gibt, zur Last zu fallen oder mit der Aufarbeitung zu lange zu brauchen.
Belästigung geht uns alle an!
Belästigung ist nicht einfach nur ein Problem Betroffener, es geht uns alle an. Wir müssen als Gesellschaft und in Communitys einfach besser darin werden, füreinander da zu sein. In all den Geschichten, die ich gehört habe, waren angeblich unbeteiligte Dritte oft ausschlaggebend dafür, wie eine Belästigungsgeschichte weitergeht. Darum richtet sich dieser Text auch an sie.
Insgesamt glaube ich, dass das Problem tiefer geht und mit mehr zu tun hat als mit Belästigung: Es fängt damit an, dass Menschen es nicht gewohnt sind, über Trauma, Trauer, und Schmerz zu sprechen und nicht wissen, wie man sich in solchen Situationen verhält. Bei Gesprächen über sexuelle Belästigung kommt für viele das zusätzlich ungewohnte Terrain dazu, für das oft die richtige Sprache fehlt. Aber: Selbst betroffen zu sein macht die Situation nicht normaler als für andere. Die betroffene Person hat sich ihre Lage nicht ausgesucht, sie wurde gegen ihren Willen hineingeworfen und muss erst einen Weg finden, damit umzugehen. Auch Betroffenen fehlt oft das Vokabular, die Gedanken rasen, die Einordnung fällt schwer. Gleichzeitig gibt es hohe Ansprüche an sie. Viele erwarten ein Expert*innentum zum Thema, dass Betroffene alles durchanalysiert haben und über Erlebtes mit einer emotionalen Distanz sprechen können, als wäre es nicht ihr eigenes Leben, das da aus den Fugen gestoßen worden ist.
Schweigen brechen statt Isolation
Statt die Möglichkeit zu haben, das alles mit anderen herausfinden zu können, passiert aber oft das Gegenteil: Menschen, die nicht wissen, was sie sagen oder tun sollen, wenden sich ab. Oft tun sie das aus eigentlich noblen Beweggründen wie dem, dass sie das Gegenüber nicht verletzen wollen, aber die Wirkung ist verheerend – die Kluft zwischen Betroffenen und ihrem Umfeld wird so noch größer. Die Hürden, die man nehmen muss, um das Schweigen zu brechen, werden unüberwindbar. Dabei haben Betroffene ohnehin schon eine Tendenz zur Isolation. Wer helfen will, sollte sich dieser Dynamik bewusst werden und ihr entgegenwirken. Die Person wird sich nicht ohne Grund anvertraut haben und das Anvertrauen selbst ist schon schwierig genug. Sei dir dessen bewusst und wähle deine Worte mit Bedacht. Das führt zum nächsten Punkt:
Scham
Betroffene schämen sich oft für Übergriffe, weil uns gesellschaftlich eingebläut wird, dass wir selbst daran schuld sind, wenn wir belästigt werden oder einen Übergriff sogar provoziert haben müssen. Das Patriarchat hat ganze Arbeit geleistet, und diese Logik hat sich so tief im kollektiven Denken verankert, dass es unfassbar schwierig ist, über die Entstehungsgeschichte von Machtmissbrauch zu sprechen. Und zwar nicht nur einmal und in groben Zügen, sondern immer wieder und im Detail, bis es verarbeitet ist.
Internalisierte Schuldgefühle, Stigma und die Angst, anderen zur Last zu fallen führen oft dazu, dass sich Betroffene zurückziehen und nicht mehr recht wissen, wie sie die Hand ausstrecken sollen. Die Scham führt auch dazu, dass wir versuchen, die eigene Erfahrung kleinzureden, weil es ja noch schlimmer hätte kommen können, andere es noch schwieriger haben und sich das Leiden dann nicht legitim anfühlt.
Wenn das Umfeld sich dieser Prozesse bewusst ist, ist schon mal einiges gewonnen. Was hilfreich sein kann, ist, wenn andere signalisieren, dass die Betroffenen keine Belastung sind und ihnen nicht in den Ohren liegen.
Relativierungen
Weit verbreitet, gut gemeint aber wenig hilfreich ist der Versuch, die Situation zu relativieren, was Betroffene wie erwähnt ja oft genug selbst tun. Mit der Absicht, den Schmerz irgendwie zu verringern oder in Perspektive zu setzen, werden oft unpassende Vergleiche gemacht. Plötzlich ist die Rede von anderen Belästiger*innen, die noch viel grausamer agiert haben, oder davon, wie Belästigung eben überall stattfindet. Das ist ein schlechter Trost, denn was man eigentlich bräuchte, ist Anerkennung, und zwar ohne Wenn und Aber – gerade wenn Betroffene diese Relativierungen auch an sich selbst vornehmen. In einer Gesellschaft, die solche Fälle viel zu selten verurteilt und offiziell als ein Unrecht benennt, ist es extrem wichtig, dass man das auf anderer Ebene hört und andere betonen: „Das, was dir zugefügt wurde, ist furchtbar und ungerecht. Es hätte nicht passieren dürfen und dich trifft keine Schuld. Du verdienst alle Solidarität der Welt.”
Spannung aushalten
Ja, solche Situationen sind schwierig und Menschen, die beistehen wollen, versuchen oft fast gezwungen etwas Tröstliches zu sagen oder irgendetwas zu unternehmen, um den Zustand der Betroffenen zu verändern. Traumata lassen sich aber nicht mit einem „wird schon wieder” beheben und im Moment lösen. Was hilft ist, solche Spannungsgefühle aushalten zu können und den Zwang zu überwinden, ständig irgendetwas Passendes sagen oder tun zu müssen. Oft reicht es, einfach da zu sein auch wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Das schlimmste, was man machen kann, ist wohl, sich zurückzuziehen und die Betroffene mit der Spannung alleine zu lassen.
Selbstbild
Belästigung funktioniert über einschneidende Mechanismen von Kontrolle und psychischer Manipulation. Belästiger*innen arbeiten mit plötzlicher und brutaler Abwertung und Entwertung, um Kontrolle ausüben zu können. Betroffenen wird oft eingeredet, ihre Wahrnehmung sei falsch. Durch die Belästigungserfahrung wird man dazu gebracht, den eigenen Warnsignalen zu misstrauen, und anderen mehr zu trauen als sich selbst. Das kann zur völligen Erosion des Selbstwerts führen und das Selbstbild massiv infrage stellen. Gemeinsam darüber zu sprechen, wie eine Betroffene wirkt, kann sehr guttun. Das bedeutet zum Beispiel, ihr zu versichern, dass nicht alles dahin ist (obwohl uns das die Belästiger*innen gerne glauben lassen würden), und sie darin zu unterstützen, dieses verzerrte Bild wieder zu korrigieren.
Schlechtes Gewissen
Wir wissen, dass Belästigung nicht im luftleeren Raum stattfindet. Übergriffige Personen spielen mit der Öffentlichkeit und testen oft vor versammelter Runde aus, wie weit sie gehen können. Es gibt also immer Zeug*innen, Menschen, die wissen und spüren, was vor sich gegangen ist und weggesehen haben. Nachdem so ein Fall publik wird, haben diese passiven Umstehenden ein schlechtes Gewissen. Die wahrscheinlich übelste Art damit umzugehen, ist, damit zu Betroffenen zu gehen und das eigene Gewissen an ihnen zu erleichtern. Wenn ihr wisst, dass ihr euch nicht richtig verhalten habt, übernehmt die Verantwortung dafür und gebt Betroffenen keine zusätzliche emotionale Arbeit. Nehmt euer schlechtes Gewissen und überwindet es, indem ihr handelt und Betroffenen konkrete Unterstützung anbietet (und akzeptiert es, wenn sie die von eurer Seite ablehnen.)
Übergriffige Personen decken
Tolle*r Politiker*in, Lieblingskünstler*in, gute*r Freund*in – viele Menschen wollen nicht wahrhaben, wenn sich Leute, zu denen sie aufschauen, als übergriffig herausstellen. Um diesen Konflikt aufzulösen, greifen sie tief ins Arsenal der Abwehrmechanismen: Entweder tun sie die Aussagen von Betroffenen ab oder sie beschließen einfach, die machtmissbrauchende Person trotz allem weiter zu unterstützen. Statt die Person zur Verantwortung zu ziehen, spaltet man die unbehaglichen Handlungen einfach von ihr ab. Dabei lässt sich das natürlich nicht voneinander trennen: Wenn jemand seine*ihre Macht in einem Bereich seines*ihres Lebens missbraucht, lässt das Rückschlüsse darüber zu, wie diese Person sich in jedem anderen Bereich verhalten wird, wenn sie die Möglichkeit dazu hat. Ich habe es nicht nur einmal erlebt, dass einem Belästiger trotz allem ein Persilschein ausgestellt worden ist. Dieses kritikbefreite Hochloben und die Sicherheit, dass das Umfeld ihnen den Rücken freihält, bringt Belästiger*innen erst in die Situation, so handeln zu können. Diese Konsequenzlosigkeit signalisiert Betroffenen: Du bist verhältnismäßig egal. Und liefert Menschen aus, die in Zukunft mit der Person zu tun haben werden.
Geht immer ohne Wenn und Aber
Das klingt jetzt vielleicht alles etwas komplex. Aber es gibt ein einfaches Prinzip, mit dem man arbeiten kann. Das lautet: Unterstützung rein, Belastung raus. Ist das, was ich der betroffenen Person sagen will, etwas, das ihr zusätzlich etwas auflädt und Spannung für sie erhöht? Dann weg damit. Nimmt es ihr etwas ab? Dann gerne. Bin ich mir unsicher? Dann direkt nachfragen statt etwas anzunehmen.
Hier nochmal Ratschläge, die immer gehen: Mit Zuhören hat noch nie jemand etwas falsch gemacht. Niemand, der sich dir anvertraut, erwartet, dass du die Lösung aller Probleme findest. Aber du kannst da sein. Du kannst klarmachen, dass du bereit bist, zuzuhören und du kannst immer wieder die Hand ausstrecken, gerade im Wissen darum, dass es den Betroffenen umgekehrt schwerer fallen kann, Kontakt zu suchen. Die wirst wissen, wann die Sache verarbeitet oder abgeklungen ist, aber bis dahin, bleib dran.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).