Foto: Nataliya Vaitkevich | Pexels

#CoronaEltern: Bedürfnisse zu äußern ist ein Zeichen von Stärke

Eltern sollen in der Corona-Krise nicht so viel jammern? Ein schräger Gedanke. Die Zeiten des „Stell dich nicht so an“ sind zum Glück vorbei. Ein Kommentar.

Der Kommentar von Hannes Leitlein wurde zuerst bei unserer Kooperationspartnerin „Zeit Online“ veröffentlicht.

Ängstlich, verzagt, wütend austeilend – so hat Anja Maier in einem Kommentar für „Zeit Online“ die Corona-Eltern beschrieben und ihr ständiges Gejammer beklagt. Und ich muss sagen: Das trifft es ziemlich gut. Ich bin Vater zweier Kleinkinder und spreche gerade wohl für sehr viele Eltern, wenn ich sage: Ja, ich habe eine scheiß Angst, ja, ich habe oft keine Ahnung, wie es weitergehen soll, und ja, ich bin verdammt wütend über das, was Eltern in dieser Krise zugemutet wird.

Anja Maier schüttelt den Kopf über uns. Warum wir unsere Kinder da mit reinziehen? Warum wir nicht – wie richtige Erwachsene – unsere Sorgen von den Kindern fernhalten? Und sie hat ja recht, es wäre besser, unsere Kinder dürften unbekümmert aufwachsen! Auch meine Frau und ich haben lange versucht, die Pandemie für uns zu behalten, unser älteres Kind teils sogar angelogen. Die Kita sei wochenlang geschlossen wegen Weihnachten; Freunde seien verreist, deshalb könne er sie nicht besuchen. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Inzwischen sitzen wir manchmal morgens zusammen auf der Bettkante, unser älteres Kind weint, weil Corona immer noch nicht vorbei ist, und wir weinen mit. Es bricht uns das Herz. Aber was sollte es bringen, so zu tun, als wäre nix? Hat ein „Stell dich nicht so an“ schon mal irgendwem geholfen?

Schluss mit dem Rekurs auf früher

Als ich ein Kind war, sagte meine Mutter, die sechs Jahre älter ist als Anja Maier, hin und wieder zu uns Kindern diesen gar nicht so seltsamen Satz: „Ich bin erschöpft, ich leg mich einen Moment hin, weckt ihr mich in einer halben Stunde?“ Mama war müde, wir Kinder fanden das nicht weiter komisch und beschäftigten uns eine Weile alleine – und waren stolz wie Bolle über die Verantwortung, die sie uns übertrug, sie rechtzeitig wachzurütteln (was manchmal gar nicht so leicht war). Maier nutzt den Rekurs auf ihre Kindheit, um zu sagen: Früher war es für Eltern auch hart, aber sie haben kein so großes Gewese darum gemacht! 

Ich hatte gedacht, diese Verklärung der Nachkriegseltern-Generation wäre überstanden. Denn natürlich hatte auch diese Generation ihre Mittel, um mit der Last fertigzuwerden. So hat etwa die Bestsellerautorin und Bindungsexpertin Susanne Mierau kürzlich treffend festgestellt: „Früher haben Frauen Frauengold getrunken, um zu entspannen, Kinder wurden schreien gelassen, haben Alkohol oder andere Drogen bekommen.“ Dass Erziehung früher vermeintlich ein Selbstläufer war, sei ganz wesentlich auch auf den Schultern der Kinder ausgetragen worden. Das betrifft sicher nicht alle Eltern dieser Generation, aber so zu tun, als wären die Kinder von damals völlig unbeschadet geblieben, übergeht doch viele familiäre Realitäten sowohl in Ost- wie Westdeutschland.

Nur die halbe Wahrheit

Ähnlich wie es Anja Maier beschrieben hat, verlief auch die Kindheit meiner drei Schwestern und mir im Westdeutschland der Achtziger- und Neunzigerjahre unbeschwert. Der Unterschied: Uns war irgendwie klar, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Auch unser Vater kam oft spätabends müde von der Arbeit im Betrieb, um nach dem Abendessen in seiner Metallwerkstatt im Keller für einen Zuverdienst weiterzuschuften. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er an der Drehbank steht, habe den Geruch von heißen Metallspänen und dem Schweißgerät in der Nase. Meine Mutter ging, als wir alle endlich in der Schule waren, vormittags putzen, um den Jahresurlaub der sechsköpfigen Familie zu finanzieren, da das Einkommen meines Vaters schon der Alltag aufgebraucht hat. Im Unterschied zu Maiers Eltern machten meine Eltern nie einen Hehl daraus, dass sie das vor allem machten, weil sie keine andere Wahl hatten und sich ein besseres Leben wünschten, wenn schon nicht für sich selbst, dann doch spätestens für uns.

Nie, wirklich nie, haben auch meine Eltern den leisesten Eindruck erweckt, wir Kinder störten sie in ihren Ansprüchen an ihr eigenes Leben als Erwachsene, waren wir doch gerade die Erfüllung dieser Ansprüche. Dass sie uns liebten, dass wir gewollt und erwünscht waren, trotz all der Ängste und Sorgen, das ließen sie uns spüren. Ihre Sorgen sollten nicht unsere sein, aber sie ließen sie uns doch sehen, erklärten sie uns und nahmen uns behutsam und maßvoll dosiert mit hinein in die Erwachsenenwelt. Sie lebten uns vor, dass man eben gerade nicht selbst im Krieg gewesen sein muss, um erschöpft sein zu dürfen. So zählen bis heute die Angst vor dem Terror der RAF, der Super-GAU in Tschernobyl und der Mauerfall für mich zu prägenden Ereignissen, obwohl ich sie gar nicht selbst bewusst erlebt habe. Dass sogenannte transgenerationale Traumata inzwischen immer besser erforscht sind und beispielsweise die Psychotherapeutin Philippa Perry mit „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen“ einen Bestseller geschrieben hat, lässt doch hoffen, dass die Corona- Elterngeneration lernt, Gefühle nicht einfach zu unterdrücken.

Ein okayes Leben für alle

Auch meine Eltern hätten natürlich im Leben nicht daran gedacht, der Staat wäre für ihre Probleme und deren Lösung verantwortlich. Sie malochten vor sich hin und erarbeiteten Stück für Stück eine Freiheit, die vor allem uns, ihren Kindern, zugutekommt. Aber wieso eigentlich haben sie sich nicht an den Staat gewandt? Was soll daran so schlecht sein, von einem Staat auch etwas zu erwarten, als dessen Teil man sich versteht? Wofür genau sonst soll ein Staat eigentlich gut sein, wenn nicht für ein okayes Leben für alle? War es doch genau das, was die Kanzlerin bei der letzten Wahl versprochen hat: ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.

„Was soll daran so schlecht sein, von einem Staat auch etwas zu erwarten, als dessen Teil man sich versteht? Wofür genau sonst soll ein Staat eigentlich gut sein, wenn nicht für ein okayes Leben für alle?“

Natürlich kann es der Staat nicht allen recht machen in dieser Krise. Und doch ist es arg fragwürdig, von Menschen in Not zu verlangen, still zu sein, gerade wo doch in den letzten Wochen und Monaten allzu offensichtlich wurde, dass eben gerade jene zuerst versorgt werden, die am lautesten schreien oder die beste Lobby haben. Eltern haben diese Lobby nicht. Anstatt also über ihr Jammern zu jammern, wäre es da nicht eher angemessen, anzuerkennen, dass sie überhaupt noch Energie aufbringen, um ihre Situation zu beklagen?

Eltern in der Corona-Krise

Anders als Anja Maier feststellt, ist die Forderung der Eltern auch nicht, die Reproduktion als ausschlaggebendes Merkmal für Solidarität anzuerkennen, sondern ihre Doppelbelastung. Natürlich sind auch Kinderlose, Singles und Alte von dieser Krise hart getroffen, auch ihre Probleme müssen Beachtung finden. Aber es macht doch einen Unterschied, ob ich nach der Arbeit Feierabend machen kann, oder ob ich auch während der Arbeit, davor, danach, am Wochenende und auch im Urlaub zusätzlich Kinder zu betreuen oder gar zu beschulen habe.
Der Staat tut was, das ist schon richtig. Aber ist sein Handeln auch adäquat? Kommt die Hilfe an? Diese Fragen müssen gestellt und beantwortet werden. 

Nehmen wir die Kinderkranktage, ein Beispiel, das Maier anführt: Nimmt die überhaupt irgendwer in Anspruch, solange es auch irgendwie anders geht? Das lässt sich für 2021 natürlich noch nicht sagen und mit vorherigen Jahren lässt sich die Situation schwer vergleichen. Zu befürchten ist aber, dass die Sorge vor Jobverlust bei zu vielen Fehltagen in Zeiten befristeter Arbeitsverträge und absolut unsicherer Zukunft viel zu groß ist. Es wäre doch sinnvoller, hier die Arbeitgeberinnen in die Pflicht zu nehmen, Eltern freizustellen, wenn sie Kinder betreuen müssen. Das Beispiel Homeoffice zeigt ja, dass es mit freiwilligen Selbstverpflichtungen nicht getan ist.

Hauptsache Shopping ist wieder möglich

Oder nehmen wir den Kindergeldbonus, den Reiche nicht brauchen und der Armen nicht reicht. Was wirklich helfen würde, fordern Gewerkschaften und Verbände schon lange: Eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro und 100 Euro sofort als pauschaler Mehrbedarfszuschlag für die Dauer der Krise, die für viele Familien einen riesigen Unterschied machen würden. Und auch bei der Impfpriorisierung wurden Eltern nicht berücksichtigt, obwohl sie sich schwerlich von ihren Kindern abkapseln können, oft sogar Bett und Löffel mit ihnen teilen. Hier die Infektionsketten in den Familien zu unterbrechen, würde weite Teile der Gesellschaft schützen, weil das Virus nicht mehr von der Kita oder Schule in die Familien und von dort weiter in die Betriebe getragen werden würde.

„Ob es ohne den Protest der Eltern überhaupt zu irgendwelchen Hilfen für die Familien gekommen wäre, ist fraglich. Wer ihre berechtigten Klagen jetzt auch noch als Gejammer abtut, individualisiert ein strukturelles Problem.“

Ob es ohne den Protest der Eltern überhaupt zu irgendwelchen Hilfen für die Familien gekommen wäre, ist fraglich. Wer ihre berechtigten Klagen jetzt auch noch als Gejammer abtut, individualisiert ein strukturelles Problem. Es ist allzu offensichtlich, dass diese Krise immer mehr eine Krise politischen Versagens ist, die auch noch nachwirken wird, wenn das Virus eines Tages besiegt sein sollte. Wenn der Staat es nicht hinbekommt, die Last dieser Krise von unten nach oben zu kanalisieren, sie also den Schwächsten von den Schultern zu nehmen, hat er versagt.

Doch genau das ist der Fall: Auch in der dritten Welle bleiben die Eltern schon wieder allein mit Homeoffice und Homeschooling gleichzeitig, nur halt nun auch am Ende ihrer Kräfte. „Für mich ist klar, die Schulen und Kitas werden als Letztes geschlossen, Schulen und Kitas werden als Erstes geöffnet“, sagte der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder im vergangenen Herbst. Das hätte aber bedeutet, im vergangenen Sommer alle mit Luftfiltern auszustatten und die Schulen zusätzlich mit Laptops. Stattdessen sind die Kitas im April 2021 wieder zu, die Regelungen in den Schulen überblickt kein Mensch mehr, aber Hauptsache Terminshopping ist wieder möglich.

Alternativen werden erst gar nicht diskutiert

Fünf Monate nachdem sich die Bund-Länder-Konferenz auf einen halbgaren Lockdown verständigt hat, in dem wir noch immer festhängen, sagen Politiker*innen und Unternehmer*innen: Man kann aber doch jetzt nicht alles zumachen! Wer soll das denn bezahlen? Dass es beispielsweise in Portugal (bekanntlich kein fernöstlich autoritäres Insel-Regime) genau so geklappt hat, die Inzidenzen in zwei Monaten von 878 auf 30 und damit unter Kontrolle zu bringen, wird weiter ignoriert. Und es ist das, was auch Eltern helfen würde und was Wissenschaftler*innen schon im November gefordert haben: ein kurzer und schmerzhafter, aber wirkungsvoller Gesamtlockdown, wie er bereits in der ersten Welle geholfen hat. Schulen dicht, Kitas dicht, ÖPNV, Grenzen, aber jetzt, weil die Zahlen noch höher sind, eben auch die Büros und Betriebe. Alles zu, was nicht systemrelevant ist. Das würde sehr viel Geld kosten, aber es wäre der effektivere und damit womöglich sogar günstigere Weg – ganz zu schweigen von den vielen Leben, die dadurch gerettet werden würden. Doch solch alternative Vorschläge, wie sie von der Wissenschaft breit befürwortet werden und wie sie Initiativen wie Zero Covid vorschlagen, werden erst gar nicht ernsthaft diskutiert.

Maier belächelt, dass junge Eltern vermehrt von „Care-Arbeit“ sprechen. Dabei liegt in dieser Umdeutung womöglich der nötige politische Paradigmenwechsel, um diese Krise zu bewältigen. „Wenn wir die politisch-strukturellen Rahmenbedingungen an Menschen mit Kindern ausrichten, werden auch Menschen ohne Kinder ein besseres Leben haben“, schreibt die Journalistin Mareice Kaiser in ihrem Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“, das in Kürze erscheint. Weil es, wie sie ausführt, um eine Politik geht, die Mütterlichkeit ermöglicht, sich also – unabhängig vom Geschlecht – um andere Menschen zu kümmern. Genau das ist es, was bei allen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus am besten funktioniert: Wir tragen Masken in erster Linie, um andere vor einer Infektion zu schützen. Wir impfen möglichst viele Menschen, sodass auch jene geschützt sind, die sich nicht impfen lassen können. Schwangere beispielsweise, Menschen, die eine Impfung nicht vertragen würden, Kinder. Die Fürsorge ist das beste Mittel gegen die Pandemie.

„Die Fürsorge ist das beste Mittel gegen die Pandemie.“

Heute, da ich selbst Vater zweier Kinder bin, frage ich meine Mutter manchmal, wie sie das eigentlich geschafft hat, damals, als wir vier klein waren. Und ihre Antwort ist so bitter wie selbsterklärend: Sie weiß es nicht. Die Erschöpfung hat die Erinnerung mitaufgefressen. Ich habe ihr auch Anja Maiers Text geschickt und gefragt, was sie davon hält. Sie schrieb, was ich von ihr schon als kleines Kind mitbekommen habe: „Bedürfnisse zu äußern, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.“

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