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„Was nützt ein iPad von der Schule, wenn ich zu Hause kein WLAN habe?“

„Schule ist ein Schauplatz für Fragen der sozialen Gerechtigkeit“, sagt die Lehrerin Lisa Graf. Was genau bedeutet das für Schüler*innen, die schon vor der Corona-Krise abgehängt waren? Eine digitale Unterrichtsstunde.

Azra würde gern einen Kurzfilm über ihre Zukunft sehen, um sich selber die Angst zu nehmen. Die Angst vor verpassten Chancen und verschlossenen Türen.
Azra ist die letzte Kachel, die zum Interview im Videochat erscheint. Nach und nach kommen drei Schülerinnen und eine Lehrerin so zusammen, wie der Unterricht seit fast einem Jahr immer wieder für sie aussieht, zwischen Wechselunterricht, selbstorganisiertem Lernen und Onlineunterricht.
Alma erscheint als erste und entschuldigt sich gleich für ihre Mitschülerinnen, die sich verspäten: „Sie kommen gleich. Sie haben gerade geschrieben, dass sie schon wach sind.“ Es ist kurz nach zwölf an einem Freitagmittag.

Es dauert noch ein paar Minuten, bevor zwei weitere schwarze Kacheln erscheinen, Mikrofon stumm, nur ihre Vornamen stehen da: Alma, Mariam und Azra. Dann bekommen sie Gesichter und Stimmen: Azra und Alma sind 17, Mariam ist 16. Sie besuchen die zehnte Klasse einer Haupt- und Realschule in Ludwigshafen, Rheinland-Pfalz. Die drei Schülerinnen erzählen, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen ist, in ihrem letzten Schuljahr. Sie sprechen von Wünschen und den Zukunftsängsten, die sie plagen, vor allem, seit sie das Klassenzimmer gegen ihr Kinderzimmer eintauschen mussten und es plötzlich keine Vormittags- und Nachmittagswelt mehr gab, sondern nur noch die eine von Corona geprägte.

In der Jugend kommt vieles zusammen: Stress mit den Eltern, Stress mit der Schule – und nicht zuletzt Stress mit sich selbst. Schüler*innen wie Azra, Alma und Mariam sind schon in der neunten oder zehnten Klasse mit der Frage konfrontiert, wohin es beruflich gehen soll – diese Entscheidung während einer weltweiten Pandemie treffen zu müssen, ist ein emotionaler Kraftakt. 2021, ihr zehntes Schuljahr, ist für die drei und ihre Mitschüler*innen ein Jahr, das über ihre Zukunft entscheidet und auch über die Klassenfrage, darüber wie viel Anerkennung und Geld sie verdienen werden: Wer findet einen Ausbildungsberuf, wer entscheidet sich für das Abitur und wen verliert man irgendwo zwischen Arbeitsblättern, Videoanrufen und Sprachnachrichten der Lehrkräfte? 

Alte Schule

Eine, die Sprachnachrichten verschickt, Arbeitsblätter hochlädt und die Schüler*innen in Videocalls trifft, ist Lisa Graf. Sie ist auch die Lehrerin von Alma, Azra und Mariam und erzählt im Interview von Schüler*innen, denen es „einfach nicht gut ging und für die die Schule in letzter Zeit oft eine Herausforderung war. Das sind Schüler*innen, die jetzt komplett abtauchen.“ 

„Schule ist ein Schauplatz für Fragen der sozialen Gerechtigkeit.“

Lisa Graf

Mit dem Ende des Präsenzunterrichts löste sich die feste Tagesstruktur vieler Schüler*innen fast komplett auf. Einige bearbeiten ihre Aufgaben lieber nachts, um tagsüber mit Freund*innen abzuhängen, so auch sie selbst, erzählt die 16-jährige Mariam. Dann am nächsten Morgen pünktlich wieder zum Onlineunterricht oder im Wechselmodell in der Schule zu erscheinen, ist wie ein Schichtwechsel von der Nacht- zur Frühschicht: eine Katastrophe für den Schlafrhythmus. Das Browserfenster ist für Mariam, Alma und Azra seit einigen Monaten der Hauptzugang zu Bildung geworden. Ein Fenster mit vielen schwarzen Kacheln – aus Datenschutzgründen und damit die Verbindung nicht zusammenbricht, lassen die Schüler*innen ihre Kameras im Unterricht normalerweise aus. Manchmal schaffen sie es nicht, morgens rechtzeitig aufzustehen und das Browserfenster zu öffnen. 

Foto: Marc Zimmer

Lisa Graf berichtet auf „Meine Klasse“ über ihren Alltag als Lehrerin an einer sogenannten Brennpunktschule. Eine Haupt- und Realschule, die sie an ihre Herkunftsschule erinnert. Sie schreibt über ihren eigenen hindernisreichen Weg zum Uniabschluss, die Frustration über ein milieugeprägtes Bildungssystem und die Wut über fehlende Chancengleichheit.





Steile Kurve

Über verpasste Unterrichtsstunden, Videocalls und Chancen schreibt die Lehrerin Lisa Graf auf ihrem Blog „Meine Klasse“. Frau Graf, wie Mariam, Alma und Azra sie nennen, berichtet aus einer besonderen Perspektive über ihre Schüler*innen – aus der Perspektive einer Verbündeten: „Nein, ich war nicht auf einem Gymnasium, sondern habe mich auf dem zweiten Bildungsweg fürs Abitur entschieden, weil ich keine Ausbildung bekommen habe, weil ich keine Bewerbung schreiben konnte, weil ich keinen Plan hatte, wie sowas geht. Und kein‘ Bock. Auf irgendwas“, beschreibt die Lehrerin ihren eigenen Bildungsweg auf ihrem Blog. 

Lisa Graf hat Gymnasiallehramt studiert und das erste Mal an einem klassischen Gymnasium am Unterricht teilgenommen, als sie ihn selber gegeben hat. Ihren Job an der Haupt- und Realschule hat sie entgegen der Vorstellung ihrer Schüler*innen nicht angenommen, weil sie „Scheiße gebaut hat“, sondern durch Zufall: Nach ihrem Referendariat war keine Stelle an einem Gymnasium in ihrer Nähe frei. „Du Arme musst jetzt an die Brennpunktschule“, empfingen sie einige ihrer Kolleg*innen. 

Der Ruf von Hauptschulen ist schlecht, die Chancen der Schüler*innen oft auch. Der Deutsche Gewerkschaftsbund stellte fest: Fast zwei Drittel aller Ausbildungsplätze in der IHK-Lehrstellenbörse schließen Hauptschüler*innen von vornherein von Bewerbungen aus. Deutschland hat 16 Bildungssysteme. Jedes Bundesland regelt die Bildung für sich. Die Debatte über Chancengleichheit hat in einigen Bundesländern zwar zur Aufweichung des dreigliedrigen Schulsystems geführt, selektiert wird trotzdem. Ein vollständig eingliedriges Schulsystem, bei dem alle Schüler*innen bis zur zehnten Klasse die gleiche Schule besuchen, gibt es in keinem Bundesland. Dabei konnte die PISA-Studie von 2018 belegen, dass eine größere soziale Durchmischung in Schulen zu besseren und gerechteren Bildungschancen führt.

Kurzum: Das deutsche Schulsystem zementiert die bestehende Ungleichheit der Gesellschaft geradezu. Denn Bildung ist der Zugang zu beruflichen Chancen, sozialen Positionen und den mit ihnen verbundenen Privilegien.

„Ihre unsicheren Augen fucken mich ab, weil ich sie kenne. Ich habe schon unzählige Male in den Spiegeln irgendwelcher Unitoiletten in diese Augen geguckt und tief durchgeatmet.“

Lisa Graf

Auch Lisa Graf macht diese Beobachtungen: „Schule ist ein Schauplatz für Fragen der sozialen Gerechtigkeit.“ Die Lehrerin spricht in einem Telefonat ohne die Schülerinnen immer wieder von einer Vormittags- und einer Nachmittagswelt ihrer Schüler*innen und von den gesellschaftlichen Räumen, die sie für einige von ihnen für unzugänglich hält: „Ich kenne dieses Gefühl, das auch meine Schüler*innen häufig haben, dass es da so eine Welt gibt, für die sie nicht vorgesehen sind.“ 

Lisa Graf will ihren Schüler*innen dieses Gefühl nehmen und weiß, was ihnen helfen könnte. Sie müssen gesehen werden, auch politisch – und es braucht eine Förderung, die wirklich an den unterschiedlichsten Bedürfnissen der Schüler*innen ansetzt: „Was nützt ein iPad von der Schule, wenn ich zu Hause kein WLAN habe?“ Und auch in der Gesellschaft müssten sie sichtbarer werden: im Theater, im Sportverein, bei Freizeitaktivitäten, die sonst eher „der klassische Gymnasiast“ macht, so könnten Vorurteile abgebaut werden – auch in die andere Richtung. 

Immer Gegenwind 

Alma, Azra und Mariam wollen in diese vermeintlich andere Welt eindringen und nach der zehnten Klasse von der Haupt- und Realschule für das Abitur auf eine Gesamt- und eine Berufsschule wechseln. Auch wenn das Schulsystem durch die Schulreform durchlässiger werden sollte, begegnen die drei einigen Hürden und Unsicherheiten, die durch die Pandemie noch größer geworden sind. Azra sagt: „Wir hatten schon Angst und die wurde jetzt nochmal verstärkt.“ Selbst wenn die Zeit des Homeschoolings vorbei ist: Bleiben die Monate der Videocalls, des allein und selbstorganisierten Lernens in ihren Leben? 

Es sind Details, die nur sie kennen, die Abschlussschüler*innen des Jahres 2021, die vielleicht noch Jahre davon erzählen werden untereinander, in Bewerbungsgesprächen, als Eltern oder Großeltern – immer dann, wenn es um ihre Chancen in unserer Gesellschaft gehen wird. In den Gesichtern der drei sieht man, wie schwierig es ist, in der Jugend Teil eines Moments zu sein, das mit den Worten „In Zeiten von…“ eingeleitet werden kann. 

Die Angst der drei vor der Lücke zwischen ihrem Wissen und dem ihrer neuen Mitschüler*innen in der Oberstufe ist nicht unbegründet. Eine Studie zeigt, dass Gymnasiast*innen während und nach dem ersten Lockdown häufiger per Videokonferenz beschult und besser mit Unterrichtsmaterialien versorgt wurden als andere Sekundarschüler*innen.

Eine Umfrage der Landeselternkonferenz NRW hat außerdem ergeben, dass es Ungleichheiten in der Bereitstellung von Hardware gab: Insbesondere Förder-, Grund-, Haupt- und Realschulen haben weniger von den Angeboten profitiert.

Die Schulschließungen infolge der Corona-Krise führen deutlich vor Augen, wie ungleich das deutsche Schulsystem ist, aber auch, wie stark der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängt. Denn die bestimmt nicht nur darüber, welche Schulform man überhaupt besuchen kann, sondern in Zeiten von Homeschooling auch, wie die Ressourcen der Herkunftsfamilie sind, um ein Lernen zu Hause überhaupt möglich zu machen. 

„Meine größte Angst ist, dass ich es nicht schaffe, mein Abitur zu machen. Dass ich dazu nicht in der Lage bin, weil mir Unterrichtsstoff fehlt.”

Alma

Azra, Alma und Mariam werden zu Hause unterstützt, nicht alle von den dreien sind die ersten, die in ihrer Familie ein Abitur machen werden. Trotzdem war der Schritt zur Anmeldung für einen Platz auf der Gesamt- und Berufsschule ein Kampf. Die drei fühlen sich mit ihrem Wunsch, Abitur zu machen, allein gelassen. Welche Leistungskurse sie wählen wollen, wie sie das Anmeldeformular ausfüllen müssen, all das mussten sie alleine herausfinden. 

Normalerweise gibt es dafür einen Infotag an der Schule, aber auch solche Veranstaltungen leiden in der Pandemie: „Eine Schule hat sich bei uns online vorgestellt. Aber an dem Tag war auch Wechselunterricht und die Hälfte der Klasse hat das gar nicht mitbekommen“, sagt Azra. Alma fasst ihr Gefühl nach der Anmeldung so zusammen: „Meine größte Angst ist, dass ich es nicht schaffe, mein Abitur zu machen. Dass ich dazu nicht in der Lage bin, weil mir Unterrichtsstoff fehlt. Weil ich vielleicht etwas nicht kann, wo ich mehr Hilfe gebraucht hätte, oder weil mir halt diese Zeit zum Lernen gefehlt hat, die wir verloren haben.“

Wo dir niemand sagt, dass es ein gutes Ende nimmt 

Lisa Graf hört häufig von solchen Sorgen in der Schule und kennt es, sich im Bildungssystem klein und unzulänglich zu fühlen – auch ohne Corona. „Ihre unsicheren Augen fucken mich ab, weil ich sie kenne. Ich habe schon unzählige Male in den Spiegeln irgendwelcher Unitoiletten in diese Augen geguckt und tief durchgeatmet“, schreibt Lisa auf ihrem Blog.

Manchmal erzählen Alma, Azra und Mariam mit so viel Druck und Tempo von ihrer Zukunft, dass einem schwindelig werden kann. Dann wieder sprechen sie von ihren Ängsten und man kann sehen, was sie zurückhält. Azra möchte gern Ingenieurin werden: „Mir gefallen Sachen, die eher Männer machen – mit Handwerk und so. Aber ich habe Angst, dass, wenn ich mir so einen Beruf aussuche, dann gesagt wird: ,Was suchst du hier, du bist eine Frau.‘“ Mariam trägt ein Kopftuch: „Da jetzt bestimmt wurde, dass Arbeitgeber*innen teilweise das Kopftuch am Arbeitsplatz verbieten dürfen, fürchte ich mich davor, später keinen Job zu finden.“  

Wie sieht für die drei eine gute Zukunft, ein gutes Leben aus? Familie, Freund*innen und ein Job, der Spaß macht und vor allem: das alte Leben zurück. Da sind die drei sich einig. Nur Azra will noch ein kleines bisschen mehr: Sie will in ihre Zukunft sehen – Azra als Zuschauerin ihrer eigenen Geschichte: „Das würde mir die Angst nehmen.“ Würde sie in ihre Zukunft sehen können, wäre da zumindest nicht mehr diese Unsicherheit.

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