Immer wieder hören wir die Frage: Warum gehen die Frauen denn nicht einfach, wenn sie geschlagen werden? Dabei sollte die erste Frage sein: Warum schlagen die Männer?
Jahr für Jahr geht wieder ein entsetztes Raunen durch die Welt: Die Zahlen der Fälle im Bereich Häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt werden immer höher. Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von häuslicher Gewalt. Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Jeden Tag versucht ein Mann eine ihm nahestehende Frau zu töten. Alle zweieinhalb Tage schafft er das auch. Circa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren (Ex-)Partner. Zwei- bis dreimal häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt erleben Mädchen und Frauen mit Behinderung Gewalt. Etwa 80 Prozent der betroffenen Menschen sind Frauen. (Stand: 2023, Quelle: BMFSFJ). Wichtig: Häusliche Gewalt betrifft nicht nur die körperliche Gewalt, sondern jedes Verhalten, das Macht und Kontrolle auf die Betroffenen ausübt. Dazu gehört auch psychische Gewalt in Form von Erniedrigung, Manipulation, Drohung, Einschüchterung, sozialer Isolation oder wirtschaftlichem Druck.
Wenn es um häusliche Gewalt geht, werden Frauen stigmatisiert und beschuldigt, was dazu führt, dass sich nur etwa 20 Prozent der Frauen überhaupt Hilfe suchen. Kaum jemand zeigt auf den gewalttätigen Mann. Auch in den Medien ist noch immer häufig von einem „tragischen Familiendrama“ die Rede, statt den Begriff ,Femizid’ zu nutzen und auszusprechen, was passiert ist, nämlich: „Mann tötete Frau“.
Warum das so ist und weshalb wir alle – Betroffene und Nicht-Betroffene – dringend mitsamt unserer Wut aufstehen, laut werden und auf die Straße gehen müssen, darüber sprechen wir mit Stefanie Knaab. Sie hat eine App entwickelt, die Frauen ermöglicht, schnell, sicher und unkompliziert Hilfe zu holen und die durch den Mann erfahrene Gewalt zu dokumentieren. Stefanie Knaab hat den Verein ,Gewaltfrei in die Zukunft e.V.’ gegründet, sie arbeitet mit verschiedenen Expert*innen – von Bundesjustizministerium über Landeskriminalämter bis hin zu Frauenhäusern und Fachberatungsstellen – zusammen, und sie zeigt mit ihrer täglichen Arbeit die enorme Tragweite dieses Themas. Im Interview wird deutlich, was die häusliche Gewalt über unsere Gesellschaft und den Stand der Gleichberechtigung aussagt und warum dieses Thema jede*n Einzelne*n von uns etwas angeht.
Hinweis der Redaktion: Wir führten das Interview im Juli 2022. Es verliert nicht an Aktualität. Sämtliche Zahlen und Fakten sind aktualisiert.
Vor wenigen Wochen war ich Zeugin von häuslicher Gewalt in meiner Nachbarschaft. Die Polizei brauchte eine Stunde, bis sie vor Ort war. Ich habe oft den Eindruck, es passiert überall – aber niemand will es wahrhaben.
Stefanie Knaab: „Wir können nichts Neues erwarten in einem alten und von Männern gemachten System. Die strukturelle Gewalt gegen Frauen ist schon so lange kulturell in der Gesellschaft verankert. Die Corona-Zeit hat viel gebracht, da das Thema von Expert*innen, von Seiten der Medien und auch von der Politik angesprochen wurde, es wurde öffentlich davor gewarnt – aber wirklich passiert ist kaum etwas. Wenn man Expertinnen fragt oder Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser und Fachberatungsstellen, klagen diese seit Jahren über zu wenige Plätze. Obwohl die Istanbul-Konvention unterzeichnet wurde, fehlen weiterhin mehr als 14.000 Plätze (Stand: 2023, Frauenhauskoordinierung e.V.) in ganz Deutschland.
„Häusliche Gewalt ist im Kern stigmatisiert. Es wird den Frauen die Schuld gegeben für ihre Situation.“
Die Fachberatungsstellen und Frauenhäuser sind strukturell unterfinanziert. Das ist ein Symptom von falschen Prioritäten. Natürlich sehe ich auch den Wandel in den letzten Jahrzehnten – wenn man bedenkt, woher wir kommen: Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997 verboten. Das Gewaltschutzgesetz besteht seit 2001. Bis 1958 mussten Frauen noch ihren Ehemann fragen, wenn sie arbeiten gehen wollten. Bis 1977 durften sie nur arbeiten, wenn das „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war.
Die Istanbul-Konvention entstand in der Türkei und wurde dort gestoppt. Deutschland ratifizierte die Konvention erst 2017 und wurde für die mangelnde Umsetzung 2020 vom unabhängigen Gremium des Europarates (GREVIO – group of experts on action against violence) gerügt. Es ist einfach so: Häusliche Gewalt ist ein Prestige-Thema – es wird nicht an der Wurzel gepackt. Sie ist im Kern stigmatisiert und es wird den Frauen die Schuld gegeben für ihre Situation.“
Was ist die Istanbul-Konvention?
Das „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ wurde am 11. Mai 2011 von 13 Staaten in Istanbul unterzeichnet und trägt somit den Kurztitel Istanbul-Konvention.
Bis März 2020 wurde das Übereinkommen von 45 Staaten unterzeichnet und von 34 ratifiziert. Das türkische Parlament hat es als erstes der Unterzeichnerstaaten am 14. März 2012 ratifiziert, aber bis zu seinem Wiederaustritt 2021 (als einziges Land) nie angewendet.
Österreich ratifizierte die Konvention am 14. November 2013, Deutschland am 12. Oktober 2017 und die Schweiz am 14. Dezember 2017.
Die Frauen werden für die Gewalt, die ihnen von Männern angetan wird, verantwortlich gemacht – was setzt das für ein Zeichen und tragen wir als Gesellschaft hier nicht eine Verantwortung?
„Die Verantwortung als Gesellschaft ist immens, und viele Länder gehen mit gutem Beispiel voran. Schauen wir auf Spanien: Im Jahr 1997 war dort eine Frau von häuslicher Gewalt betroffen und hat ihren Mann fünfzehnmal angezeigt, die Polizei konnte aber nichts tun, das Gericht urteilte gegen sie. Ihr Mann übergoss sie schließlich auf offener Straße mit Benzin und zündete sie an. Daraufhin gingen Hundertausende Menschen auf die Straße, auf den anhaltenen Druck der Bevölkerung wurde 2004 das „Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt“ verabschiedet, was den Kampf gegen häusliche Gewalt zur staatlichen Aufgabe machte und zeigte, dass häusliche Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist. Das Gesetz ist innovativ und die Zahlen belegen, dass es wirkt. Sowas haben wir in Deutschland in diesem Ausmaß noch nicht erlebt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder, die häusliche Gewalt erleben, später selbst Opfer oder Täter*in werden, ist sehr hoch, weil sie das Verhalten ,erlernen’. Das ist ein Teufelskreis, aus dem wir nur durch Bildung ausbrechen können. Vorbild dafür sind skandinavische Länder, die vor einigen Jahren ein Pilotprojekt gestartet haben zum Thema Empathie und Psychologie – Kinder in der Schule lernen den Umgang mit Gefühlen. In unseren Schulen hingegen ist noch sehr viel zu tun.“
Was fehlt unserer Frauenbewegung im Vergleich zu der in Frankreich oder Spanien? Die Wut ist ja da und auch groß, denn alle zweieinhalb Tage wird eine Frau getötet, jeden Tag gibt es einen Tötungsversuch, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.
„Das Stigma ist auch unter den Frauen noch zu groß. Als ich mit dieser Arbeit begann, habe ich mit vielen Freundinnen über das Thema gesprochen, einige sagten zu mir: ,So etwas würde mir nie passieren‘. Da fängt es schon an. Die Abgrenzung zwischen ,ich‘ und ,die anderen‘. Dabei ist es ein WIR! Sogar Menschen in sozialen Berufen grenzen sich ab, weil das einfacher ist als sich einzugestehen, dass es auch mich treffen kann. In Deutschland gibt es diese Abgrenzung und somit kein Solidaritätsgefühl mit den Frauen.
Viele denken auch: Häusliche Gewalt betrifft Frauen mit Migrationshintergrund, psychisch Erkrankte oder es ist ein Phänomen, das in bestimmten marginalisierten Gruppen beobachtet wird. Das ist falsch!
„Dies ist ein System, in dem wir Frauen beibringen, wie sie sich nachts wehren können, statt Jungen im Kindesalter beizubringen, dass sie Frauen nicht schlagen oder vergewaltigen sollen.“
Keine Frau trifft irgendeine Schuld. Dies ist ein System, in dem wir Frauen beibringen, wie sie sich nachts wehren können, statt Jungen im Kindesalter beizubringen, dass sie Frauen nicht schlagen oder vergewaltigen sollen, und ich glaube, das ist das Kern-Problem.
Die Wut müsste schon längst immens groß sein, aber wir schauen nicht nur bei Mord weg, sondern auch bei all den Schritten davor. Studien zeigen, dass es viele sogar richtig finden, eine Frau zu schlagen, wenn sie zum Beispiel fremdgegangen ist.
Wir analysieren Strafjustizakten zu schon bestehenden und abgeschlossenen Fällen. Justizakten zeigen in einer Analyse (2012) von 235 Fällen, dass die Täter als Hauptgründe für Gewaltübergriffe auf ihre Partnerinnen unter anderem nannten, dass die Frau nicht gut genug gekocht hat, der Fernseher zu laut war, die Frau mit anderen Männern sprach oder die Frau zu spät nach Hause gekommen ist. Diese Gründe machen fassungslos.
„Täter nannten als Hauptgründe für ihre Gewaltübergriffe, dass die Frau nicht gut genug gekocht hat, der Fernseher zu laut war, die Frau mit anderen Männern gesprochen hat oder die Frau zu spät nach Hause gekommen ist.“
Ich frage mich auch: Warum gehen nicht mehr Männer auf die Straße? Häusliche Gewalt wird als Frauenthema deklariert. Jede vierte Frau in Deutschland, jede dritte Frau in Europa erfährt Gewalt in ihrem Leben, alle 45 Minuten verletzt ein Mann eine Frau schwer, das heißt: Wir alle kennen Betroffene, aber auch Täter. Und wir müssen offen über dieses Thema sprechen, um es zu entstigmatisieren. Wobei ich das Gefühl habe, dass seit Corona die Empathie zurückgegangen ist.“
In der Pandemie waren viele Menschen ständig zu Hause, auch die Kinder. Man konnte doch kaum wegsehen: Frauenhäuser, Jugendpsychiatrien und andere Hilfseinrichtungen waren in kürzester Zeit vollkommen überlaufen.
„Viele Menschen sind sehr mit sich selbst beschäftigt, schützen sich vor schlechten Nachrichten, und das ist ja auch gesund. Dennoch fehlen mir die Wut, das Mitgefühl und die Fassungslosigkeit über das, was uns Frauen angetan wird.
In Frankreich sind die Frauen außer sich vor Wut. Im Jahr 2003 gab es einen prominenten Fall von häuslicher Gewalt bei der Band Noir Desire. Der Sänger hatte seine Freundin und Mutter von vier Kindern so heftig und wiederholt geschlagen, dass sie ins Koma fiel und kurz darauf starb. Dafür saß er gerade mal dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Heute arbeitet er an seinem Comeback, aber zu jedem Konzert kommen wütende Frauen, um es zu torpedieren, sodass die Konzerte letztlich nicht stattfinden.
Ich denke, wir haben immer noch ein großes strukturelles Problem, solange solche Gewalttaten in den Medien noch als ,Beziehungsdrama‘ bezeichnet werden. Das spiegelt sich dann auch vor Gericht wider. Ich kann nur jedem das Buch von Christina Clemm – ,AktenEinsicht‘ – empfehlen. Darin schreibt sie über Fälle, bei denen die Beweise eindeutig sind, die Gewalttäter aber trotzdem mit zum Teil milden Strafen davonkommen. Und sie klärt darüber auf, wie dringend Richter*innen und Staatsanwält*innen für das Thema sensibilisiert werden müssen. Letztes Jahr im Winter zum Beispiel wurde ein Profi-Boxer, der seiner Freundin mit einem Schlag mehrfach den Kiefer gebrochen hatte, freigesprochen, der Richter argumentierte, die Frau hätte wissen müssen, dass ihr (Ex)-Partner ein Meister der Fäuste und kein Meister der Worte sei. Der deutsche Juristinnenbund und viele weitere Organisationen fordern seit Jahren eine Sensibilisierung für Richter bei solchen Fällen – und auch bei der Polizei.
Im eingangs erwähnten Fall in meiner Nachbarschaft wurde ich bei der Polizei befragt. Hier sagte man mir, dass die häusliche Gewalt in der Familie bereits seit einigen Jahren bestehe. Warum wird eine oft lebensbedrohliche Situation nicht ernst genommen?
„Das Problem bei häuslicher Gewalt ist, dass sie sich nicht in der Mitte unserer Gesellschaft abspielt, sondern hinter verschlossenen Türen. Es ist ein privates Problem. Aber das sollte es nicht sein, denn häusliche Gewalt und/oder sexualisierte Gewalt beziehungsweise Vergewaltigung in den eigenen vier Wänden ist eine Straftat und keine Privatsache.
Oft wird gesagt: So sind Männer halt. Wenn Frauen versuchen, sich jemandem anzuvertrauen, dann ist der erste Kontakt – das belegen Studien – meist negativ. Diese schlechte Erfahrung schmälert die Chance, dass sich betroffene Personen erneut jemandem anvertrauen.
Wenn Betroffene erzählen, was ihnen passiert ist, reagieren viele Menschen zunächst mit Legitimierungsversuchen, weil sie nicht verstehen können, wie es dazu kommen kann. Ich vermute, niemand meint es strukturell böse, wenn er*sie sagt: ,Das hat er bestimmt nicht so gemeint.‘ Aber da liegt das Problem. Es fängt schon im Kindesalter an. Mir wurde zum Beispiel früher im Kindergarten gesagt: ,Wenn ein Junge gemein zu dir ist, dann mag er dich eigentlich.‘
„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen weniger wert sind.“
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen weniger wert sind. Der jährlich erscheinende Global Gender Gap Report des WEF zeigt, dass es noch 132 Jahre braucht, bis Frauen und Männer weltweit gleichberechtigt sind, und diese Zahl wird immer wieder nach oben korrigiert. In Deutschland sind viel mehr Frauen von Altersarmut betroffen als Männer, das sind alles Dinge, die müssen von Grund auf angepackt werden. Es muss aber eben auch der männlich gelesene Teil der Gesellschaft aufstehen und sagen: ,Es reicht auch uns!‘“
Du hast eine Präventions-App entwickelt, die als solche nicht erkennbar ist. Dieses Hilfsangebot setzt genau da an, wo die Gewalttaten passieren. Wie bist du auf die Idee für die App gekommen?
„Ich war selbst in einer gewaltvollen Beziehung. Meine Therapeutin hatte mir gesagt, ich solle die schlechten Erfahrungen aufschreiben, um sie mir in den guten Zeiten zu spiegeln.
Bei ungesunden Beziehungen ist es oft so, dass man die schlechten Phasen vergisst, wenn die guten Phasen kommen. Und in den schlechten Phasen denkt man dann, es wird doch bestimmt bald wieder gut, sonst liegt es an mir. Daraus bestand bei mir der Teufelskreis. Ich habe mir all die Briefe und Zettel immer wieder durchgelesen, und da wusste ich: Ok, das ist alles wirklich passiert, das habe ich mir nicht ausgedacht. Dann trennte ich mich endgültig. Damals habe ich vieles verdrängt – die Briefe haben mir geholfen.
„In dem Jahr wurden 15.622 Verfahren eingeleitet, davon rund 85 Prozent eingestellt, unter anderem wegen fehlender Beweise oder weil die Frauen nicht mehr aussagen wollten.“
Ich habe dann viel recherchiert. Dabei stieß ich auf eine Statistik in Berlin, die es bisher leider auch nur in Berlin gibt. Sie zeigt, wie viele gerichtliche Verfahren von häuslicher Gewalt es im Vorjahr gab: 2017 wurden 15.622 Verfahren eingeleitet, davon wurden rund 85 Prozent eingestellt, unter anderem wegen fehlender Beweise oder weil die Frauen nicht mehr aussagen wollten. Ich war schockiert von den Zahlen. Auch die Beschaffung von Informationen zu dem Thema ist schwierig. Wenn man den Begriff häusliche Gewalt googelt, findet man keine übersichtlichen Seiten, wo alles aufgeschlüsselt wird, deshalb habe ich mir dann Gedanken gemacht, wie man das alles unter einen Hut bekommen könnte – und hatte somit dann nach wenigen Wochen die finale Idee zur App.
Gerne hätte ich auch sofort psychologische und juristische Unterstützung über sie angeboten, aber es war alles andere als einfach. Sogar Organisationen, die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigen und eine App erstellen wollten, scheiterten an Unterfinanzierung. Und dann kam Corona.
Häusliche Gewalt wurde zumindest oberflächlich thematisiert. Am meisten kritisiere ich, dass häusliche Gewalt von manchen Personen wie eine Art Image-Kampagne behandelt wurde, auch in der jüngsten Vergangenheit. Man sprach in Talkshows darüber, lud die richtigen Personen wie Vorstände, Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern oder betroffene Personen aber nicht ein. In manchen Kampagnen steckt so viel Geld, aber wirklich etwas gebracht hat es kaum. Warum setzen sich, wenn das Geld da ist, die Macher*innen solcher Kampagnen nicht mit Expert*innen aus dem Fach zusammen?
Dann kam die Bundesregierung mit dem Plan, soziale Probleme, die während der Pandemie entstanden oder sichtbar geworden waren, zum Positiven zu verändern. Ich habe meine Idee in einer Nacht heruntergeschrieben, abgeschickt und wurde daraufhin im Rahmen des Solution Gamer Programs von der Bundesregierung mit der Umsetzung beauftragt.“
In welchem Zusammenhang steht der von dir gegründete Verein ,Gewaltfrei in die Zukunft e.V.’ mit der App?
„Am Anfang stand alles noch recht eng zusammen, jetzt versuchen wir, das eher abzugrenzen. Wir wollten einen Verein und eine solide Basis gründen – ein großes Netzwerk aus interdisziplinären Partner*innen.
Als ich die Idee für die App hatte, merkte ich immer wieder, dass die interdisziplinären Perspektiven nicht ausreichend zusammenarbeiten. Häusliche Gewalt ist eben kein rein soziales Thema, also nicht nur Sache des Familienministeriums – es ist ein Thema der Justiz, der inneren Sicherheit und der Bildung. Mir war es wichtig, alle Partner*innen einzusetzen.
Der Verein ,Gewaltfrei in die Zukunft‘ hat acht Gründungsmitglieder und soll die Mission, die wir haben, widerspiegeln. Wir haben u.a. eine Sozialwissenschaftlerin/Kriminologin, Kriminalkommissare der Berliner Polizei, einen Politologen, eine Psychologin, einen Staatsanwalt und eine Rechtsberaterin. Uns war es wichtig, diese Expertise zu bieten. Wir haben auch das Landeskriminalamt als Partner. Wir wollten von vornherein alles mitdenken und wachsen, weil es viele unterschiedliche Perspektiven gibt. Wir wollen Betroffene bestärken und dabei herausfinden, wie die Gesellschaft häuslicher Gewalt konkret entgegenwirken kann. Und die App ist ein Projekt dieses Vereins.“
„Was ich immer wieder betone ist, dass häusliche Gewalt nicht nur Schläge bedeutet. Jede zweite Frau in Deutschland erleidet psychische Gewalt.“
Was können Menschen aus der Community tun, wenn sie Wut verspüren, aber nicht wissen, wie sie sich engagieren können?
„Sie können sich bei uns melden und Teil des Vereins werden oder unsere Website besuchen. Es ist wichtig, sich zu informieren und vor allem hinzuhören, wenn man etwas mitbekommt, wenn Freund*innen sich streiten.
Was ich immer wieder betone ist, dass häusliche Gewalt nicht nur Schläge bedeutet. Jede zweite Frau in Deutschland erleidet psychische Gewalt. Wenn zum Beispiel der Partner einen niedermacht oder sagt, man sei nicht gut genug. Aber auch wirtschaftliche Gewalt: Wenn der Partner sagt, man dürfe nicht arbeiten gehen. Manche Täter sind schlau und verpacken sowas dann in Sätze wie ,Ich verdiene doch gut genug, du musst nicht arbeiten‘. Schließlich gibt es die soziale Gewalt, wie Kontaktverbote zu anderen Menschen unter dem Vorwand, es reiche doch, ,wenn wir einander haben‘ – das könnte fast romantisch wirken, ist es aber nicht. Sich dahingehend zu sensibilisieren, ist immens wichtig.“
Wir alle sind davon betroffen, auch wenn wir selber keine häusliche Gewalt erfahren (haben). Lässt sich das anhand von Zahlen benennen?
„Es sind laut der Studie von Sylvia Sacco 3.8 Milliarden Euro, die uns häusliche Gewalt im Jahr kostet, zum Beispiel für Polizeieinsätze, Justiz, Gesundheitswesen, Fachstellen, aber auch der Ausfall der Erwerbsarbeit und die Lebensbeeinträchtigungen, die mit häuslicher Gewalt einhergehen. Das Geld könnten wir uns alle sparen, wenn es keine häusliche Gewalt mehr gäbe. Aber ich bin auch müde, immer wieder mit dem Geld zu argumentieren, um bewusst zu machen, dass es uns alle betrifft.
Wir wurden von OMR 50/50 als eins der Top 10 Social Start-ups gewählt und durften die Idee vor einer Jury – Menschen aus der freien Wirtschaft – pitchen. Alle waren begeistert von unserer Arbeit. Wir sind ein Non-profit Unternehmen, wollen auch kein Geld mit der App oder Werbeplatzierungen verdienen, aber die zweite Frage war immer ,Wie wollt ihr Kapital generieren?‘ Als wir sagten, dass wir das nicht möchten, war das Interesse sofort weg.
Alle sagen, es sei schlimm und wir müssten etwas tun, aber die Fachstellen und Frauenhäuser sind nach Jahrzehnten immer noch extrem unterfinanziert. Wenn wir die App bundesweit einführen, 300.000 Frauen die App nutzen und dann plötzlich 100.000 Frauen gehen wollen: Wohin gehen sie dann? Die Fachstellen sind alle überlastet, in vielen Regionen in Deutschland müssen Frauen lange fahren, um zu einer Fachstelle zu kommen. Wie bereits erwähnt, fehlen mindestens 15.000 Frauenhausplätze. In Berlin gibt es aktuell keinen einzigen. Und über den Wohnungsmarkt müssen wir gar nicht sprechen.
„Immer wieder wird gefragt: Ja, warum gehen denn die Frauen nicht einfach?‘ Aber warum fragt hier eigentlich niemand: ,Warum schlägt denn der Täter?‘“
Statt Antworten darauf höre ich immer wieder diese Frage: ,Warum gehen denn die Frauen nicht einfach?‘ Egal ob in Gesprächen mit Politiker*innen oder Freund*innen. Warum fragt hier eigentlich niemand: ,Warum schlägt denn der Täter?‘ Als wäre es normal, dass der Täter schlägt und unnormal, dass die Frau nicht geht. Dabei sind die Gründe, warum die Frauen nicht gehen, unterschiedlich, und auch überhaupt nicht relevant. Man muss fragen: Warum schlägt der Mann?“
Es ist schwer zu ertragen, wie viele Bereiche und Dimensionen dazukommen, wenn man das alles konsequent weiterdenkt.
„Das ist richtig. Viele Personen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, haben noch immer weniger Zugangsmöglichkeiten zu Schutzunterkünften als andere. Dazu zählen zum Beispiel Frauen mit Beeinträchtigungen oder trans* Personen, die lange nicht mitgedacht wurden und teilweise noch immer nicht mitgedacht werden. Diese Menschen sind genauso betroffen wie alle anderen. Oder auch Menschen mit Behinderung. Mädchen und Frauen mit Behinderung erleben je nach Gewaltform zwei bis dreimal häufiger Gewalt als der Bevölkerungsdurchschnitt. Trotzdem gibt es kaum barrierefreie Hilfsstellen. Da werden sehr, sehr viele Menschen einfach nicht mitgedacht.
„Sehr oft heißt es: Was ist denn mit Männern, die können doch auch Opfer sein?! Über 80 Prozent der von häuslicher Gewalt Betroffenen sind Frauen. Und sowohl die Quantität als auch die Qualität der Gewalt gegenüber Frauen ist viel, viel härter.“
In den Kommentaren unter den wenigen Artikeln zu diesem Thema aber fragen die Leute: Was ist denn mit Männern, die können doch auch Opfer sein?! Wir sagen nicht, dass Gewalt gegen Männer nicht existiert. Aber über 80 Prozent der von häuslicher Gewalt Betroffenen sind Frauen. Und sowohl die Quantität als auch die Qualität der Gewalt ist gegenüber Frauen viel, viel härter. Hier wird mal wieder vom Thema abgelenkt.
Es gibt ein Männer-Hilfetelefon und auch Zimmer in Männerhäusern. Aber wenn man sich anschaut, wie häufig die genutzt werden, dann ist das kein Vergleich zum Frauen-Hilfetelefon, das jährlich steigende Anruf-Zahlen hat – letztes Jahr waren es 54.000 Anrufe. Und das, obwohl eine Studie herausgefunden hat, dass nur etwa 50 Prozent der Frauen von diesem Hilfsangebot wissen und nur 7 Prozent es nutzen. Man stelle sich vor, alle betroffenen Frauen würden das Angebot nutzen. Aufgrund des innovativen Ansatzes hat die Bundesregierung mich und meine Idee vermutlich auch ausgewählt, damit man betroffene Frauen niedrigschwelliger erreicht.“
Wenn wir auf die nächsten fünf Jahre schauen, was wünschst du dir? An welchem Punkt sollten wir dann als Gesellschaft sein?
„Darf ich utopisch sein?“
Unbedingt.
„Was ich mir von uns als Mitmenschen wünsche ist, dass wir aufhören zu bewerten. Dass wir realisieren, dass häusliche Gewalt nicht die Schuld von Frauen ist, dass Frauen es ganz und gar nicht toll finden, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Und dass es für ihr Bleiben unfassbar viele Gründe geben kann, wie zum Beispiel die Angst, umgebracht zu werden, wenn sie gehen – oder wirtschaftliche Abhängigkeit.“
Bei Tötungsdelikten befanden sich 70 Prozent der Frauen in der Trennungsphase oder sie sind unmittelbar nach der vollzogenen Trennung getötet worden.
„Ja, die Trennungsphase ist die gefährlichste Phase für die Frauen, was auch beim Jugendamt beim Thema Sorgerecht mitgedacht werden muss. Super erschreckend ist, dass Jugendämter und Gerichte oft so argumentieren: ,Nur weil er ein schlechter Ehemann ist, ist er noch kein schlechter Vater‘. – Doch, das ist er!
Ich finde es eigentlich gut, dass in Deutschland versucht wird, Familien zusammenzuhalten, aber wenn es einen gewaltausübenden Partner gibt, hört die Gewalt nicht auf. Viele gewalttätige Partner bekommen durch das geteilte Sorgerecht immer noch die Möglichkeit, über das Kind Gewalt auszuüben. Und so haben viele Männer immer noch Kontrolle über ihre Ex-Partnerinnen. Denn obwohl es so viel häusliche Gewalt gibt, sind vom Jugendamt begleitete Besuche eher rar.
„Was ich mir wünsche ist, dass den Frauen bedingungslos und ohne Wertung zugehört wird, dass wir den Frauen den Raum geben, darüber zu sprechen, ohne sie als Opfer ,abzustempeln‘.“
Was ich mir wünsche, das ist, dass den Frauen bedingungslos und ohne Wertung zugehört wird, dass wir den Frauen den Raum geben, darüber zu sprechen, ohne sie als Opfer ,abzustempeln‘. Das definiert uns ja nicht, wir sind nicht Opfer, wir sind Überlebende eines Systems, das uns in diese Situation gebracht hat.
Was ich mir noch wünsche ist, dass Politik, Polizei und Justiz und Fachstellen sensibilisiert werden. Dass Männer nicht mehr geschützt werden als Frauen, neue Gesetze zum Opferschutz, mehr Täterarbeit und die Umsetzung der Istanbul Konvention, mehr Geld für Fachstellen, Beratungsstellen und Frauenhäuser, ein einheitliches System für Frauenhäuser und dass die Zeitungen aufhören, von ,Beziehungsdrama‘ zu sprechen. Wenn man sich diese Artikel nämlich mal durchliest, sieht man immer, dass den Frauen die Schuld gegeben wird. So setzt sich in der Gesellschaft fest, dass es normal ist, eine Frau zu töten, die ihren Partner verlassen hat.
„Man sollte überall für das Thema sensibilisieren – denn es ist überall.“
Ganz wichtig ist eben auch die Bildung. Wir dürfen nicht erwarten, dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Moralvorstellungen haben, wir sind alle unterschiedlich erzogen worden. Ich wünsche mir, dass in der Schule, in der Kita viel mehr über Gefühle gesprochen wird und Kinder lernen, mit Gefühlen und auch mit Wut umzugehen. Dass man Wut aussprechen und nicht ausüben soll. Viele Männer, die ihre Partnerinnen schlagen oder ihnen psychische, wirtschaftliche oder soziale Gewalt antun, haben nicht gelernt, ihre Wut zu kontrollieren, die Gesellschaft bringt ihnen früh bei: ,Sei mal nicht so ein Mädchen!‘, als wäre es schlimm, über Gefühle zu sprechen.
Schließlich wünsche ich mir eine Finanzierung, die angepasst ist an die Zahlen der Betroffenen, die wir jedes Jahr haben – sowohl in Frauenhäusern als auch in Frauenberatungsstellen. Wir brauchen erheblich mehr kassenärztliche Psycholog*innen, damit man nicht sechs Monate auf einen Psychotherapieplatz warten muss und dass diese Therapeut*innen auch sensibilisiert werden für das Thema, denn das werden sie bisher nicht obligatorisch. Ich finde, man sollte überall für das Thema sensibilisieren – denn es ist überall.“
Hilfetelefon
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist rund um die Uhr erreichbar. Es ist anonym und kostenlos und ihr erreicht es unter der Nummer 08000 116 016.
Weitere Informationen findet ihr auch bei dem Verein Gewaltfrei in die Zukunft e.V. – hier könnt ihr auch selbst aktiv werden und den Verein mit eurer Expertise unterstützen.