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„Mein Kind ist zu dick” – Wie dieser Satz Kinder nachhaltig belasten kann

Kinder leiden darunter, einen perfekten Körper haben zu müssen. Und es ist doch völlig absurd, dass viele schon bei kleinen Mädchen nach Makeln suchen. Das muss endlich aufhören!

Auch Worte haben Folgen

Wenn ein Kind körperlich misshandelt wird, sind wir uns einig, wie furchtbar das für eine Kinderseele ist und wie diese darunter leidet. Wie sieht es aber aus, wenn sich Eltern und die Gesellschaft in anderer Form mit den Körpern von Kindern beschäftigen? Warum sieht niemand, welche schlimmen und langfristigen Auswirkungen auch das auf die Psyche der Kinder hat?

Anlass für meine Überlegungen war ein Artikel in einem Frauenmagazin, in dem eine Mutter darüber schreibt, dass ihr Kind zu dick sei und sie sich dafür schäme. Sie hätte Angst, dass ihr Kind verspottet werden würde. Dass ihre Tochter wohl immer nur der dicke Kumpel von Männern bleiben würde. Solche Frauen möchte ich am liebsten an den Schultern packen und schütteln. Es macht mich aggressiv. Und ich möchte die Mutter anschreien, dass sie sich einzig für sich selbst schämen muss.

Ich kenne da eine Familie. Die Mutter und der Vater sind, wie man so sagt, gut im Futter. Die Mutter, aus ständiger Angst, dass die (etwas pummeligen) Kinder zu fett werden könnten, tut alles dafür, um dem vorzubeugen: Light-Produkte, Essverbote. Was passiert? Auf Geburtstagspartys anderer Kinder fressen sie so viele Würstchen bis sie kotzen. Daheim gibt es das ja nicht. Alle drei Kinder werden später stark übergewichtig (unter stark verstehe ich zwischen 150 und 200 Kilo) und essgestört.

Prägende Szenen der Kindheit

Während meines Studiums habe ich bei einem alten Kinderarzt gearbeitet. Zu unseren Aufgaben als Assistentinnen gehörte es auch, die Kinder zu wiegen und zu vermessen sowie das Gewicht in Tabellen einzutragen. Eines Tages richtete ich die Utensilien für eine Blutabnahme her. Unter anderem einen Lolli, um die Kinder für ihre Tapferkeit zu belohnen. Die Patientin, ein etwa zehnjähriges, übergewichtiges Mädchen. Nach der Blutabnahme nahm der Arzt den Lolly von dem kleinen Tablett, und drückte ihn mir in die Hand mit den Worten: „Die Patientin bekommt keine Süßigkeiten, weil sie zu dick ist.” – während das Kind neben uns stand. Danach schickte er das Mädchen hinaus, um alleine mit der Mutter zu sprechen. Als ich Dienstende hatte und die Praxis verließ, fand ich das Mädchen bitterlich weinend im Treppenhaus vor. Den Anblick werde ich nie vergessen, ich habe förmlich zusehen können, dass in diesem Moment etwas mit der Kinderseele passierte.

Ja, ich weiß schon. Wenn man selbst keine Kinder hat, soll man nicht mitreden, was Kinderseelen betrifft. Da hat man ja keine Ahnung und leicht reden – ich habe Ahnung, obwohl ich keine Mutter bin. Denn ich war einmal ein (kleines) Mädchen. In meiner Kindheit ging es sehr oft um die Themen Essen und Körper. Meine Oma wollte, dass wir die Teller leer aßen und meinen damals mageren Bruder unbedingt dicker bekommen. Der Grundstein meiner Schokoholikerin-Karriere wurde gelegt, als ich gerade erst einmal zehn Monate alt war, meine Oma und eine Großtante mich mit Süßigkeiten vollstopften und sich irrsinnig darüber freuten, wie es dem Kind schmeckte. Beweisfotos des Kindes mit dem schokoladenverschmierten Vollmondgesicht existieren!

Dem Übermaß an Essen und Süßigkeiten steuerte meine (sich ständig auf Diät befindende) Mutter permanent entgegen und achtete auf eine „vernünftige“ Ernährung. Obwohl ich nie richtig dick war, beschimpfte mich mein Opa als „fett“, während die alten Großtanten Erna und Milli die helle Freude an Kindern wie mir hatten, die „so gut beieinander waren“.

Kinder sind verletzlich

In der Hauptschule motzte ich mal, weil wir in ein anderes Klassenzimmer umziehen mussten. Da sagte meine Englischlehrerin vor versammelter Mannschaft: „Ja aber was glaubst du, wie schlank du wirst, weil das neue Zimmer weiter weg ist und du mehr laufen kannst!“ Der alten Schrulle hätte ich damals am liebsten ins Gesicht gespuckt. Und ein winzig kleiner, unvernünftiger Teil in mir will es heute noch.

Das alles hat etwas mit mir und meiner Seele gemacht. Es hat mir immer wieder vor Augen gehalten, wie wichtig es ist, dass der Körper einem gewissen Ideal entspricht. Es hat aus mir einen Teenager und später eine Frau gemacht, die entgegen ihrer Intuition auch oft aus emotionalen Gründen gegessen hat und dies noch immer tut: der Klassiker ist Schokolade als Trost oder Belohnung. Es stimmt, dass ich heute vieles selber in der Hand habe. Die Denkmuster, die in der Kindheit entstanden sind, sind aus dem Kopf aber sehr schwer zu verbannen.

Die Verantwortung der Eltern

Von Kindern wurde ich im Übrigen so gut wie nie gehänselt, und wenn, dann konnte ich mich schon wehren. Die waren ja auf einer Stufe. Und trotz meiner Introvertiertheit und Schüchternheit hatte ich immer schon eine große Klappe. Allen Vätern und Müttern, die sich so viel mit dem Äußeren ihres Kindes beschäftigen, möchte ich sagen: Ich will eure Scheiß-Ausreden nicht mehr hören: „Kinder können so gemein sein.“, „Aber dann hat es mein Kind später doch sehr schwer!“ Jedes Kind wird im Laufe seines Lebens verspottet. Egal, ob es dünn oder dick, groß oder klein, hübsch oder hässlich ist.

Es ist eure verdammte Scheiß-Aufgabe als Eltern, dem Kind Selbstvertrauen anzuerziehen und zu zeigen, wie man mit diesen Situationen umgehen kann. Es ist des Weiteren eure verdammte Aufgabe, auf die Seelen eurer Kinder aufzupassen und nicht nur ständig zu kontrollieren, ob der Körper dem entspricht, was uns in den Medien als perfekt präsentiert wird.

In Wahrheit geht es dir, der Mutter im Artikel, in erster Linie nicht um die Seele deines Kindes. Es geht dir darum, dass die Gesellschaft ihr vorwerfen könnte, dass du als Mutter versagt hast.

Unser Verhalten formt unsere Gesellschaft

Ja, das hast du auch. Und wenn du Pech hast, wird deine Tochter darunter ihr ganzes Leben zu leiden haben. Weil du ihr beigebracht hast, dass sie sich anpassen soll, wenn sie nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Du bist diejenige, die deine Tochter zu einem starken Menschen machen kann. Und du bist auch diejenige, die ihr eine Essstörung und ein krankes Verhältnis zu ihrem Körper anerziehen kann. Du selbst bist die gestörte Gesellschaft.

Du kannst es weiterhin wie so viele andere Väter und Mütter machen. Du kannst den Wert deines Kindes über seinen Körper definieren und alles dafür tun, dass dieser Körper den vorgegebenen Idealmaßen entspricht. Du kannst dem Kind weiterhin frisch-fröhlich Diät- und Sportpläne aufs Auge drücken und dir null Gedanken über die Psyche deines Kindes machen. Hauptsache, es ist nicht zu dick! Der berühmten Aspekt der Gesundheit als Rechtfertigung?  Den lasse ich nicht gelten. Ein paar Kilo mehr auf den Rippen bedeuten nicht, dass ein Kind ungesund ist. Und wenn ein Kind wesentlich mehr Übergewicht oder krankhaft zugenommen hat, wurde vielleicht bereits ein gestörtes Verhältnis zum Essen anerzogen. Ja, damit behaupte ich, dass ein Kind ohnehin in den seltensten Fällen krankhaft dick wird, wenn es normal und gesund aufwächst, wenn organisch alles stimmt und wenn ihm nicht dauernd in seine Intuition reingepfuscht wird. Und wenn ihm nicht dauernd gesagt wird, wie es auszusehen hat!

Eine andere Familie. Mutter, Vater, Tochter. Die Tochter ist zwar nicht stark übergewichtig, aber auch nicht ganz dünn. Die Mutter (die figürlich selbst nicht dem „Ideal“ entspricht) ist sehr selbstbewusst und stark und vermittelt diese Werte auch ihrer Tochter. Der Babyspeck wächst sich in der Pubertät aus. Bekannte der Familie loben die Tochter dafür und diese fühlt sich geschmeichelt. Aber die Mutter wird richtig zornig. Es ärgert sie sehr. Und sie lässt es nicht gelten. Ihren Bekannten sagt sie schließlich: „Egal, wie sie aussieht: Mein Kind hat immer den gleichen Wert!” Folgt lieber ihrem Beispiel.

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