Foto: privat | Collage: EDITION F

Meine Mutter: Migrantisch, alleinerziehend, geringverdienend

Während andere Kinder ihren Hobbys nachgingen, war unsere Autorin mit Behördenformularen beschäftigt. Sie selbst wollte nie ein anderes Leben – aber ihrer Mutter hätte sie ein anderes gewünscht.

Meine Mutter arbeitete 14 Jahre lang als Bäckereiverkäuferin. 14 Jahre lang erklärte ich meinen Freund*innen, wie schön es ist, dass meine Mutter Croissants von der Arbeit mitbringt, dass sie anderen Leuten ihr Brot backt. 14 Jahre lang war ich stolz darauf, dass sie jeden Morgen um halb vier aufstand, vor allen anderen. Meine Mutter war alleinerziehend – und sie sprach nicht Deutsch, sondern Persisch mit uns, meinem Bruder und mir.

Als Kind kam meine Mutter mir stark vor, weil sie scheinbar mühelos Mutter- und Vaterrolle zugleich einnehmen konnte. Als ich älter wurde, kippte die Bewunderung über ihre Stärke in Wut. Ich begann zu verstehen, dass ihre Rücken- und Gelenkschmerzen vom langen Stehen und den immer gleichen Bewegungen beim stundenlangen Schmieren der Brote kamen. Ich verstand, dass sie nach der Arbeit keine Hausaufgaben mit uns besprechen oder mit uns auf den Spielplatz gehen konnte, weil sie einfach zu erschöpft war. Gleichzeitig kam es mir absurd vor, dass ich mit meinem Nebenjob als Nachhilfelehrerin bereits als Jugendliche mehr Geld pro Stunde verdiente als meine eigene Mutter – die zeitweise für einen Stundenlohn von 5,50 Euro arbeitete.

Behördenformulare statt Hobbys

Viele Aufgaben, die bei anderen selbstverständlich die Eltern erledigt haben, musste ich als ältestes Kind selbst übernehmen. Zu meinem Alltag gehörten Steuerdokumente, Fragen bei Unterhaltszahlungen und das Lesen von Elternbriefen. Während die anderen über ihre Hobbys und Auslandsaufenthalte sprachen, war ich in Gedanken mit unseren Stromrechnungen oder Behördenformularen beschäftigt.

Alleinerziehende sind Teil der „Vielfalt des Familienlebens“– so heißt es zumindest im Familienreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und trotz der zunehmenden Akzeptanz für alternative Familienformen ist meine Mutter mit ihren Belastungen nicht allein, denn viele der 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland befinden sich in einer problematischen Lage.

Während die anderen über ihre Hobbys und Auslandsaufenthalte sprachen, war ich in Gedanken mit unseren Stromrechnungen oder Behördenformularen beschäftigt.“

Viele der Alleinerziehenden verbinden ihren Status weniger mit ihrer Haushaltssituation als vielmehr mit ihren enormen Verantwortungen im Alltag. Diese umfassen von der Organisation des eigenen Familienlebens, der Haushaltsarbeit bis hin zur Kinderbetreuung viele Aufgabenbereiche, die herausfordernd sind – vor allem, wenn sie allein übernommen werden müssen. In Nordrhein-Westfalen berichten beispielsweise zwei Drittel der Alleinerziehenden von einer schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese entsteht auch, da sich nur 15 Prozent der Eltern nach der Trennung die Kinderbetreuung partnerschaftlich teilen. Und während man davon liest, dass die Unterstützung für Alleinerziehende „ausgebaut“ wurde, wird anhand der gegenwärtigen Armutsgefährdung für Alleinerziehende deutlich, dass dringender Verbesserungsbedarf besteht.

Kein Schutz gegen Armut

Mein Bruder und ich fragten uns, wie die nächste Klassenreise finanziert werden soll oder wer die Rechnung des Sportvereins bezahlt. Diese Fragen werden sich viele Familien gestellt haben; denn knapp die Hälfte aller Alleinerziehenden-Haushalte sind armutsgefährdet. Alleinerziehende Mütter sind mehr als viermal so häufig von Armut betroffen wie Mütter in Paarfamilien, obwohl sie häufiger und länger arbeiten. Das Armutsrisiko ist in Deutschland weiterhin höher als in Frankreich oder Schweden, was auch damit zusammenhängt, dass es hier weniger staatliche Unterstützung gibt.

Auch die Jobsuche ist anstrengend, da viele Stellen mit der Fülle an Familienaufgaben, die Alleinerziehende bewältigen müssen, unvereinbar sind. Vereinbarkeit ist auch für Eltern in Partner*innenschaften schwierig, für Eltern, die alleine sind, oft eine Mammutaufgabe. Auf politischer Ebene wird der eindeutige Förderbedarf von Alleinerziehenden mit Sozialleistungen, dem erhöhten steuerlichen Entlastungsbeitrag oder dem Unterhaltsvorschuss zwar thematisiert, aber diese Instrumente greifen offensichtlich nicht ausreichend. Noch immer scheint der optimale Schutz gegen Armut Partner*innenschaft und die ausreichende Berufstätigkeit beider Elternteile zu sein.

Die oftmals prekären Lebenslagen von Alleinerziehenden sind keine Einzelfälle und das Risiko abzurutschen kein gesellschaftliches Randproblem. Hierbei gehören hauptsächlich Frauen zur Gruppe der Alleinerziehenden, denn nach einer Trennung oder Scheidung von Paaren mit Kindern sind neun von zehn Alleinerziehenden weiblich. Dass Alleinerziehende häufiger armutsgefährdet sind, liegt auch daran, dass Frauen häufiger in schlecht bezahlten Berufen arbeiten. Gleichzeitig werden sie auch bei familienpolitischen Steuervorteilen wie dem Ehegattensplitting vergessen.

Kaum soziale Kontakte

Meine Mutter hatte oft das Gefühl, dass ihr die Zeit für uns fehlte. So geht es vielen, denn Zeitstress und zu wenig soziale Unterstützung werden von Alleinerziehenden neben finanziellen Problemen oft als große Belastung wahrgenommen. Nicht nur der Geringverdiener*innenstatus, sondern auch die Migrationsgeschichte meiner Mutter prägten uns. So sind insbesondere Alleinerziehende mit Migrationshintergrund häufiger von Armut betroffen. Dies ist unter anderem auf geringere Sprachkenntnisse, eine geringere Bildungsbeteiligung im Vergleich zur restlichen Bevölkerung und Diskriminierung zurückzuführen. Viele Migrant*innen berichten außerdem, dass ihre sozialen Netzwerke kleiner sind, als sie sich wünschen.

Ich habe mir nie ein anderes Leben gewünscht – aber ich hätte meiner Mutter ein anderes Leben gewünscht. Ein Leben ohne finanzielle Probleme, mit einem weniger anstrengenden Job und einem loyalen Partner. Ein Leben, in dem sie von den Kund*innen bei der Arbeit keine Witze über ihren Akzent hören müsste. Ein Leben, in dem sie nicht zehn Jahre lang auf ihre Mittagspause hätte verzichten müssen, um uns nach der Schule ein warmes Mittagessen zu kochen.

Ich hätte meiner Mutter vor allem mehr Ruhe gewünscht. Auch eine weitere starke Schulter, um die Erziehung ihrer beiden Kinder nicht allein stemmen zu müssen. Ein Leben mit Urlauben, Cafébesuchen und regelmäßigen Reisen in ihre Heimat. Ein Leben, in dem sie mehr von ihren eigenen Träumen hätte verwirklichen können.

Ich habe mir nie ein anderes Leben gewünscht – aber ich hätte meiner Mutter ein anderes Leben gewünscht.

Armut macht krank

Finanzielle Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Unterstützung, die alleinige Verantwortung für die Kindererziehung und der Umgang mit der Trennung können überfordern – und zu körperlicher und psychischer Beeinträchtigung führen. Studien zeigen: Geringverdienende, alleinerziehende Mütter sind im Vergleich zu Müttern in Partner*innenschaften häufiger von psychischen Erkrankungen und einem verminderten Selbstwert betroffen.

Unter niedrigverdienenden Alleinerziehenden leiden außerdem mehr als die Hälfte unter Symptomen einer Depression. Auch die Sorge davor, den gesellschaftlichen Erwartungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht gerecht werden zu können, verstärkt die psychische Belastung, sodass alleinerziehende Mütter häufiger eine geringere Lebenszufriedenheit als Mütter in Paarfamilien aufweisen.

Die Trennung von meinem Vater und der Umzug in eine kleine Wohnung war auch für uns Kinder belastend. Diese Belastungen spüren viele Scheidungskinder, die die Trennung ihrer Eltern zunächst einmal als eine „schwere Krise“ erleben und häufig auch die Belastungen der eigenen Mutter wahrnehmen. Bei den betroffenen Kindern entwickeln sich direkt nach der Trennung häufiger emotionale- und Verhaltensprobleme, schlechtere schulische Leistungen und soziale Schwierigkeiten. Dabei ist es in erster Linie nicht die Familienform an sich, sondern die finanzielle Situation, die auch die Kinder belastet.

Am Ende schmiss Mama die Bäckereifiliale allein. Sie putzte, verkaufte, belegte und goss Kaffee in Einwegbecher. Und ab und zu kam ich dazu und schaute ihr eine Zeit lang dabei zu. Meine fleißige Mutter, die allein und unabhängig ihr Heimatland hinter sich gelassen hatte, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, verrichtete nun jahrelang diese monotone und anstrengende Arbeit. Im Minutentakt bediente sie mal besser und mal schlechter gelaunte Kund*innen.

Während ich bei diesen Beobachtungen stolzer nicht sein konnte, riefen sie auch ein Gefühl der Trauer in mir hervor. Die Belastungen unserer Mutter ließen uns jedoch die kleinen Dinge wertschätzen und gleichzeitig schneller zufrieden sein. Dieser Prozess ist auch kritisch, denn die eigenen Ziele werden kleiner und die Erwartungen schneller erfüllt. Günstig für den Selbstwert – schwierig, um auf strukturelle Missstände aufmerksam zu machen.

Unerkanntes Potenzial

Meine Mutter, die in ihrem Heimatland stets Jahrgangsbeste war, musste nun ihren Körper auslaugen. Und gleichzeitig war sie auch noch dankbar für ihre Stelle. Ich verstand sie nicht und merke inzwischen, wie privilegiert meine Sicht war. Ich sah ihr Potenzial und wollte so viel mehr für sie. So viele Visionen tauchten in meiner Vorstellung auf. Visionen davon, wie eines Tages jemand kommen und ihr einen kleinen Kiosk anbieten würde. Oder eine Stelle in einer Buchhandlung oder einem Kindergarten. Eine Stelle, die sie erfüllen, sie weniger erschöpfen würde. Stattdessen endeten unsere Bewerbungsversuche für andere Stellen stets mit Absagen.

Ich sah ihr Potenzial und wollte so viel mehr für sie.“

Die Abhängigkeit, die eine alleinerziehende Mutter mit Migrationsgeschichte im Niedriglohnsektor empfindet, weil ein Arbeitsplatzverlust finanziell kaum verkraftbar wäre, spürte ich auch als Kind. Auch meine Freund*innen und Lehrer*innen kannten die Probleme meiner Mutter – und trotzdem änderte sich durch individuelle Hilfe kaum etwas an ihrer Situation.

Bevor geeignete Maßnahmen entwickelt und verbreitet werden können, sollten wir mehr über die prekäre Lage von Alleinerziehenden sprechen. Und das vor jeder Bundes- und Landtagswahl, denn der Einsatz für Alleinerziehende sollte zur Agenda jeder Regierung gehören.

Ist der Arbeitsmarkt familienfreundlich?

Konkrete Maßnahmen zur Unterstützung von Alleinerziehenden gibt es bereits. Für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein familienfreundlicher Arbeitsmarkt notwendig, der bessere Jobaussichten für Alleinerziehende ermöglicht und von ihnen weniger zeitliche Flexibilität fordert. Außerdem sollte der Einstieg in die Berufstätigkeit nach der Elternzeit vereinfacht werden. Gefolgt von der Förderung zuverlässiger, bezahlbarer und flexibler Kinderbetreuung, die als Schutz vor Armutsgefährdung gilt.

Für migrantische Alleinerziehende gilt es außerdem, vorhandene Sprachdefizite abzubauen, indem beispielsweise genügend kostenlose Sprachkursplätze zur Verfügung stehen und wichtige Formulare auch in einfacher Sprache gehalten sind. Zur psychologischen Unterstützung muss ein niedrigschwelliger Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung ermöglicht werden. Untersuchungen zeigen weiterhin, dass angemessene Sozialleistungen die Armutsgefährdung bei Kindern halbieren. Kostenlose Mittagessen, Nachhilfeangebote, Betreuung nach dem Unterricht oder Klassenreisen unterstützen auch Kinder von Alleinerziehenden – nicht zu unterschätzen ist auch die enorm wichtige Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften.

Dass die soziale Herkunft und der Bildungsstatus der Eltern in Deutschland noch immer stark mit dem Armutsrisiko zusammenhängen, ist nicht neu. Dass Stundenlöhne im Niedriglohnsektor trotz körperlich und psychisch erschöpfender Arbeit zu niedrig sind, auch nicht. Aber wie oft müssen wir von diesen Erfahrungen noch berichten, bis endlich etwas unternommen wird, um die oftmals prekären Lebensumstände Alleinerziehender zu verändern? Und wann setzen wir die strukturell notwendigen Veränderungen um, damit sich die Belastungen von Alleinerziehenden verringern?

Sie spüren ihr Leid

Die Erfahrungen, die meine Mutter und viele andere Alleinerziehende machten, sensibilisieren und desillusionieren gleichzeitig. Wir sind zwar über all das, was unsere Eltern ermöglichten, dankbar, aber gleichzeitig spüren wir auch ihr Leid. Wir haben mitbekommen, dass sie pausenlos arbeiteten und zeitgleich versuchten, ihre Schmerzen vor uns zu verbergen. Und so traurig es auch ist: Die vergangene Zeit unter kritischen Bedingungen können wir Alleinerziehenden nicht wieder zurückgeben, aber wir können daran arbeiten, dass die Zukunft anders aussieht.

Heterogene Lebensformen benötigen aktive Förderung und nicht nur Anerkennung. Um Lösungen zu finden, müssen wir die Lebenswelten von Alleinerziehenden verstehen. Wir müssen ihnen zuhören. Und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur bewerben, sondern auch ermöglichen.

Ich weiß nicht, wie meine Mutter selbstlos so viel Stärke aufbringen konnte, um täglich allein für uns alle zu sorgen, aber es wurde ihr schwerer gemacht, als notwendig gewesen wäre, da bin ich mir sicher. Warum meine Mutter nach einem Jahrzehnt Arbeit in prekären Bedingungen und dauerhaftem Stress nach ihrer Kündigung dennoch Tränen in den Augen hatte? Weil mit der Filialschließung der Bäckerei eine der wenigen Sicherheiten, die sie in Deutschland hatte, plötzlich verschwand.

Dass ich jetzt über diese Umstände schreiben kann, habe ich nicht wegen, sondern trotz der Belastungen meiner alleinerziehenden Mutter geschafft – was alles andere als selbstverständlich ist.

Kostenlose Beratungsstellen für (alleinerziehende) Mütter und Väter:

Verband alleinerziehender Mütter und Väter

Verband berufstätiger Mütter e.V.

Deutscher Caritasverband e. V.

Pro familia

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