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Nur wer Deutschlands Kolonialgeschichte kennt, kann heutigen Rassismus verstehen und bekämpfen

Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Josephine Apraku

Deutschland, kein Kolonialstaat?

Ich frage mich, welche Fertigkeiten hierzulande von Außenminister*innen erwartet werden. Zugegebenermaßen kann ich diese Frage nicht final beantworten. Was ich aber weiß, ist, dass ein vertieftes Wissen zur Geschichte Deutschlands nicht nötig ist. Sehr eindrücklich bewiesen hat das kürzlich ein Tweet des ehemaligen Außenministers Sigmar Gabriel, in welchem er in gängiger geschichtsvergessener Manier behauptete, Deutschland sei nie ein Kolonialstaat gewesen: „In der Welt harter Interessenpolitik erreichen manchmal die Interessenlosen mehr. Wir haben stärkeres als Waffen & Geld: Legitimität! Wir waren nicht am Libyen-Krieg beteiligt u. nie Kolonialstaat. Gut, dass Deutschland Libyen nicht den Autokraten überlässt.”

Als Reaktion auf diesen Tweet würde ich gern schreiben können, dass Sigmar Gabriel – und im Grunde nicht nur er, sondern einige politische Vertreter*innen Deutschlands – mal in einem Geschichtsbuch blättern sollten. Gern würde ich schreiben können, dass er wohl in der Schule nicht richtig aufgepasst hat. Das Problem ist nur, dass das Thema deutscher Kolonialismus in vielen Geschichtsbüchern, selbst in denen, die sich mit Deutschlands Historie beschäftigen, und besonders im Schulunterricht, kaum vorkommt. Selbst wenn Schüler*innen sich mit dem Thema beschäftigen sollen, geschieht das oft auf ziemlich fragwürdige Weise.

Ich denke da beispielsweise an ein Schulbuch, welches aktuell in Schulen verwendet wird: In einer Lerneinheit dieses Buchs wird den Schüler*innen die Aufgabe gestellt, eine Pro/Contra-Liste dazu zu schreiben welche positiven Auswirkungen die deutsche Kolonialherrschaft auf die Menschen in den Kolonien hatte. Die Frage geht frei nach dem Motto „aber Hitler hat auch Autobahnen gebaut” davon aus, dass Deutschlands Kolonialpolitik gewinnbringend für die ehemaligen Kolonien war und es noch immer ist. Das Beispiel macht deutlich, dass es nicht einfach nur darum geht, dass deutscher Kolonialismus thematisiert wird, sondern maßgeblich auch darum, wie.

Gewaltvolle Besetzung und Ausbeutung

Tatsächlich war auch Deutschland zu beachtlichen Teilen am Kolonialismus, der von Europa ausgehenden gewaltvollen Besetzung und Ausbeutung des globalen Südens, beteiligt. Zur Veranschaulichung deshalb hier mal ein paar Fakten/Daten/Zahlen: Zwischen dem offiziellen Eintritt Deutschlands ins koloniale Unternehmen im Winter 1884/1885 und dem unfreiwilligen Ende im Jahr 1918 war das deutsche Kolonialreich seinerzeit mit knapp einer Million Quadratkilometern das drittgrößte koloniale Territorium.

Mit Blick auf die Bevölkerungszahl der besetzten Gebiete – zwölf Millionen Menschen – war es immerhin das fünftgrößte. Zu den Gebieten, die beschönigend als „Schutzgebiete“ bezeichnet wurden, und die ganz oder teilweise unter deutscher kolonialer Herrschaft standen, zählen die heutigen Staaten Togo, Ghana, Nigeria, Kamerun, Namibia, Tansania, Ruanda, Burundi, Kiautschou in Nordostchina, die Republik Nauru, Papua Neuguinea, die Republik der Marshall-Inseln, die nördlichen Marianneninseln, Palau, die Föderierten Staaten von Mikronesien und West-Samoa. Es ist wohl wenig verwunderlich, dass die deutsche Kolonialherrschaft in den besetzten Gebieten auf Widerstand stieß. Kolonialkriege waren keine Seltenheit, die im Extremfall, wie in Namibia, im Völkermord endeten.

Kolonialismus: Grundlage für heutigen Rassismus

Insgesamt hält sich die Vorstellung, dass Deutschland sich kaum oder gar nicht am europäischen Kolonialismus beteiligt hat, bis heute hartnäckig. Kolonialismus wird im öffentlichen Bewusstsein oft als kurze, längst abgeschlossene Periode verstanden, die mit uns heute nichts mehr zu tun hat. Deshalb kommt oft die Frage auf, weshalb wir uns überhaupt mit der deutschen Kolonialgeschichte beschäftigen sollten. Mit Blick auf Sigmar Gabriel ist die Antwort ziemlich einfach: um sich als ehemaliger Außenminister nicht zu so offensichtlich schlecht informierten Aussagen auf Twitter oder sonstwo hinreißen zu lassen. Doch insgesamt ist eine Auseinandersetzung mit Kolonialismus bedeutsam: Kolonialismus, wie im Übrigen auch Versklavung, bilden die Grundlage für Rassismus heute.

Um gegenwärtigen Rassismus in Deutschland verstehen zu können, halte ich eine Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte für bedeutsam. Sie hat Auswirkungen auf unsere gesellschaftlichen Strukturen und prägt das Zusammenleben und die Machtverhältnisse. Schwarze Menschen und Menschen of Color werden heute beispielsweise nicht wie während der Kolonialzeit in sogenannten Völkerschauen – Menschenzoos – ausgestellt. Dennoch, die Exotisierung mitsamt ihrer Übergriffigkeit, ich denke an den ungefragten Griff ins Haar, bleiben bestehen.

Auch politische Debatten, zum Beispiel über die Rückgabe von menschlichen Gebeinen, Racial Profiling, das Ausstellen kolonialer Raubgüter in Museen oder die Umbenennung von Straßen, die nach Kolonialisten benannt sind, sind geprägt von diesem Teil der Geschichte.

Schon diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass mit dem formalen Ende der deutschen Beteiligung am Kolonialismus nicht das Ende rassistischer Vorstellungen und Machtausübung einherging. Zugegeben, kolonialer Rassismus trägt heute ein anderes Gewand. Dennoch, seine weiterentwickelten Überbleibsel sind fester Bestandteil der Gegenwart.

Die Funktionsweise rassistischer Diskriminierung

Wenn wir dem komplexen Wirken rassistischer Strukturen in unserer Gesellschaft entgegentreten wollen, müssen wir ein ebenso komplexes Wissen darüber haben, wie Rassismus in eben diesen Strukturen verankert ist. Rassismus ist auf allen Ebenen des alltäglichen Zusammenlebens relevant und operiert im zwischenmenschlichen Miteinander, in Gesetzgebungen, Regelungen wie Racial Profiling und in Vorstellungen dessen, was vermeintlich normal ist, in Denk- und Handlungsmustern. Racial Profiling, obgleich per Gesetz verboten ist eine gängige Praxis.

Ohne eine Betrachtung der Entstehungsgeschichte von Rassismus ist nicht nachvollziehbar, wie rassistische Diskriminierung heute funktioniert. Schon deshalb müssen wir, die gegen Rassismus kämpfen, im Kleinen wie im Großen, uns mit der deutschen Kolonialgeschichte befassen.

Erst wenn wir die deutsche Kolonialgeschichte reflektieren, wird deutlich, dass rassistische Kategorien, die Menschen in ein „Wir“ und „die Anderen” einteilen, nicht etwa natürlich oder schon immer da gewesen sind. Die Vorstellung davon, dass es Menschenrassen gibt, ist selbst menschengemacht.

Es ist an uns, und dafür müssen wir die Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung setzen, gegen diese Form der Entmenschlichung einzustehen – und Geschichtskenntnisse wie die von Sigmar Gabriel reichen dazu nicht aus.

Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).

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