Das Oberste Gericht der USA hat das Recht auf Abtreibung – „Roe vs. Wade“ – gekippt. Es ist der Anfang eines gewaltigen Rückschritts. Und ein Zeichen dafür, dass erreicht geglaubte Ziele von einer Sekunde auf die nächste wieder in weite Ferne rücken können.
Die Nachrichtensprecherin trägt ein beiges Kostüm und ein formelles Lächeln auf den Lippen. Als die Kamerafahrt vor ihrem Gesicht endet, sagt sie: „Das Oberste Gericht der USA hat ein umstrittenes Grundsatzurteil gefällt. Der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court kippte das landesweite Recht auf Abtreibung.“
Stille. –
Da sitzen sechs Richter und drei Richterinnen im Obersten Gericht der USA. Sie entscheiden sich mit 6:3 Stimmen für die Aufrechterhaltung des Abtreibungsverbots in Mississippi und kippen mit einem Stimmenverhältnis von 5:4 Stimmen das Grundrecht auf Abtreibung, das seit knapp 50 Jahren – einem halben Jahrhundert! – in den USA Bestand hat. Schon im Mai 2022 war ein entsprechender Urteilsentwurf an die Öffentlichkeit gelangt, was als Zeichen dafür gewertet wird, dass im Supreme Court nicht unbedingt Einigkeit über die Sache herrschte.
Kurz erklärt: „Roe vs Wade“
Der Name „Roe vs Wade“ steht für eine Grundsatzentscheidung des Supreme Court aus dem Jahr 1973. Darin verankerten die Richter*innen, dass es das fundamentale und verfassungsmäßige Recht von Frauen sei, über einen Schwangerschaftsabbruch selbst zu entscheiden. Das Recht auf Abtreibung wurde in die Trimester der Schwangerschaft unterteilt: Für das erste Trimester gab es keine Beschränkungen. Im zweiten Trimester konnten Vorschriften zum Schutz der Mutter verlangt werden. Ab Beginn des dritten Trimesters durften die Bundesstaaten eine Abtreibung gesetzlich verbieten mit Ausnahme einer Gefährdung von Leib und Leben der Mutter. Detaillierte Infos über Roe vs. Wade findet ihr u.a. hier.
Deutschland: Aus für §219a
„Für uns ist das ein bedeutender Tag“, hören wir indes in Deutschland von der Ärztin Kristina Hänel, die verurteilt worden war, weil sie auf ihrer Website über Schwangerschaftsabbrüche informiert hatte. Und damit meint Hänel natürlich nicht die USA, sondern die längst überfällige Abschaffung des Paragrafen 219a, wodurch von nun an die sogenannte „Werbung für den Schwangerschaftsabbruch“ erlaubt ist – ein Gesetz übrigens, das noch aus dem Jahr 1933 stammt. Der Paragraf 218 hingegen ist weiterhin im Strafgesetzbuch zu finden, er besagt, dass Schwangerschaftsabbrüche rechtswidrig sind, bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen aber straffrei bleiben.
Immerhin – das Aus für 219a ist ein kleiner Schritt an diesem Tag, an dem die USA auf schockierende Weise zeigen, dass kein einziger Schritt – weder ein kleiner noch ein großer, den wir als Feminist*innen in der Vergangenheit in Richtung gleichberechtigte Gesellschaft getan haben – nicht auch wieder rückgängig gemacht werden kann. Mit einem Fingerschnipp. Von einer Sekunde auf die nächste. Stumm, aber vielsagend kommentiert von zwei sehr verschiedenen Arten des Lächelns auf einem Gruppenfoto, das die neun Richter*innen in ihren langen schwarzen Roben zeigt.
Angriff auf die Freiheit
US-Vizepräsidentin Kamala Harris warnte noch vor wenigen Wochen: „Wenn das Gericht ,Roe vs Wade’ aufhebt, wäre das ein direkter Angriff auf die Freiheit, auf die Selbstbestimmung, die allen Amerikaner*innen zusteht.“
Und Barack Obama sagt nach dem unfassbaren Urteil: „Der Oberste Gerichtshof (…) hat die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politiker*innen und Ideolog*innen überlassen – und die grundlegenden Freiheiten von Millionen von Amerikaner*innen angegriffen.“
Fast körperlich spürbar ist die Tragweite der Worte von Harris und Obama und vielen anderen Pro-Choice-Verfechter*innen für die Menschen, die jenseits des Rampenlichts, jenseits der Mikrofone, jenseits der Headlines, jenseits der Bühnen und jenseits der Kameras stehen. Die Menschen, die nicht sichtbar sind. Die Menschen, die eine Gebärmutter haben und über die hier geurteilt wurde.
„My rapist has more rights than me“
Vor dem Supreme Court und auf unzähligen Demonstrationen im ganzen Land halten sie ihre Schilder hoch: „Defend Abortion Rights“, „Abort the G.O.P.“, „Worst Decision since Dred Scott“, „Keep your law off my body“, „My rapist has more rights than me“, „Abortion is a human right“, „My Body, my Choice“, „We will not go backwards!“, „Get off our ovaries“, „Rise up, rise up, for Abortion Rights, for Abortion Rights“.
Schreie, Plakate, T-Shirt-Drucke, Schilder und Reden, die hier gehalten werden – sie sind verzweifelt, ängstlich, laut und vor allem: wütend.
Durch sogenannte Trigger Laws, die bereits vor der Entscheidung des Supreme Court in einzelnen Bundesstaaten beschlossen wurden, sind strenge Abtreibungsgesetze dort bereits wirksam. In elf US-Staaten sind Abtreibungen jetzt illegal, zum Beispiel Arkansas, Oklahoma, Louisiana, Kentucky, Texas und Missouri. Und zwar auch in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest. Fast die Hälfte der Staaten wird das Recht auf Abtreibung verschärfen oder verbieten.
Machtdemonstration und Kriegserklärung
Es gibt Entscheidungen, die kann man „umstritten“ nennen oder „fragwürdig“ oder „polarisierend“. Es gibt Entscheidungen, die sind vielleicht falsch, vielleicht richtig. Diese Entscheidung aber ist vor allem Machtdemonstration und Kriegserklärung gleichermaßen. Drei konservative Richter waren von Donald Trump während seiner Amtszeit im Supreme Court installiert worden. Was Trump zum Urteil zu sagen hat, findet an dieser Stelle keinen Platz. Wohl aber die Konsequenzen der Entscheidung: Ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen bedeutet nicht, dass es keine Abbrüche mehr geben wird. Es bedeutet eine Erhöhung illegaler Eingriffe, deren Verantworliche nicht nur die Not der Frauen ausnutzen, sondern sie in Lebensgefahr bringen. Außerdem wird erwartet, dass wieder mehr Frauen versuchen werden, selbst einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen – und aus purer Verzweiflung ihr eigenes Leben gefährden.
Das betrifft vor allem jene, die ohnehin wenig haben, die keine finanziellen Mittel besitzen, um mal eben in einen anderen Staat zu reisen und den Eingriff dort vornehmen zu lassen. Menschen, die kaum Zugang zum amerikanischen Gesundheitssystem haben – in den USA also vorwiegend Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören, Menschen, die von strukturellem Rassismus betroffen sind.
„Konservative Kräfte bemühen sich seit dem Aufstieg des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten unermüdlich darum, Schwangerschaftsabbrüche in den Vereinigten Staaten für illegal erklären zu lassen.“
Dr. Edna Bonhomme
Die Historikerin und Autorin Edna Bonhomme zeigt in ihrem bereits vor zwei Jahren bei EDITION F erschienenen Essay, wie tief das Problem in der amerikanischen Gesellschaft sitzt: „Konservative Kräfte bemühen sich seit dem Aufstieg des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten unermüdlich darum, Schwangerschaftsabbrüche in den Vereinigten Staaten für illegal erklären zu lassen. Die Anti-Abtreibungsbewegung, die sich mit christlich-konservativen Gruppen und der Republikanischen Partei verbündet, setzt auf die Verbreitung von Schreckensszenarien, von Rassismus befeuerte Furcht sowie auf ein Arsenal nicht stichhaltiger Behauptungen, um Menschen den Zugang zu sicheren und erschwinglichen Schwangerschaftsabbrüchen in den USA zu erschweren. Diese Strategie ist nicht neu, sondern Teil eines anhaltenden Kulturkrieges, der eng mit rassistisch motivierten Kampagnen verknüpft ist.“
Gefährdung weiterer Rechte: Klimaschutz, Homo-Ehe etc.
Das Thema, so hören wir von allen Seiten, „spalte“ die Gesellschaft. Nach aktuellen Umfragen sind es aber über 62 Prozent der Bevölkerung, die sich klar gegen die Aufhebung von Roe vs Wade aussprechen. Während der Demonstrationen, die sich infolge des im Mai geleakten Gesetzesentwurfs über die Aufhebung des Grundsatzurteils organisierten, wurden in Reden und auf Plakaten an die Richter*innen des Supreme Court apelliert – an neun Menschen, die über Millionen von Existenzen entscheiden und die das tun können, weil sie die Macht haben.
Und es könnte der Anfang eines noch gewaltigeren Rückschritts sein. Auf dem Spiel stehen neben der Gesundheit und dem Leben vieler Frauen in den USA auch weitere Gesetze, die als Errungenschaften feministischer Bewegungen gelten.
Am Montag (27. Juni 2022) sagte die Vizepräsidentin Kamala Harris gegenüber des Nachrichtensenders CNN, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs sehr wahrscheinlich auch andere Rechte gefährden werde. Dazu gehören die gleichgeschlechtliche Ehe, die Geburtenkontrolle – und der Klimaschutz. Noch in derselben Woche erreicht uns dann die Meldung: Am Donnerstag (30. Juni 2022) schränkt das Supreme Court die Klimaschutzbefugnisse der Regierung deutlich ein und stellt sich gegen die Klimaschutzpläne des Präsidenten. Die Zusammensetzung der Stimmen ist nicht schwer zu erraten: die sechs konservativen Richter*innen votieren für das Urteil, die drei liberalen Richter*innen votieren dagegen.
Im Interview mit dem Spiegel (1. Juli 2022) sprach Mary Ziegler, Juraprofessorin an der University of California, von einem radikal gewordenen Gericht, dessen Entscheidungen immense Konsequenzen für die Bevölkerung hat. Die Staaten, die Abtreibungen nun verbieten, verhängen schwere Strafen, und das gehe noch weiter. Ärzt*innen, so Mary Ziegler gegenüber des Spiegel, könnten eine Behandlung von Frauen auch dann verweigern, wenn es sich beispielsweise um eine unvollständige Fehlgeburt handle. „Wenn ich mich hier irre, komme ich 99 Jahre ins Gefängnis.“ Also tun sie lieber nichts, was wiederum das Leben der Frauen gefährdet.
„The court actually took a constitutional right that has been recognized for half a century and took it from the women of America. That’s shocking.”
Kamala Harris, CNN, 27.06.2022
Wer jetzt denkt, gut, dass wir in Europa leben, der*die werfe einen Blick auf Polen oder auf Malta – wo übrigens gerade eine Amerikanerin um ihr Leben bangt. Ihr Kind hat keine Überlebenschancen. Aber die Ärzt*innen lehnen eine Operation unter allen Umständen ab, solange das Herz des Kindes noch schlägt. Eine Abtreibung ist in Malta strikt verboten.
Frauenrechte sind Austragungsort der Verhandlungen von Machtinteressen. Es ist an uns, uns dagegen zu wehren und für eine andere, eine gerechte, gleichberechtigte Zukunft zu kämpfen. Auch in Zeiten solch extremer Rückschritte.
Gerade in diesen Zeiten.