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Selbstverwirklichung? Das ist kein Muss sondern purer Luxus!

„Schneller, höher, weiter“ – das bist du dir selbst doch eigentlich schuldig, oder? Von den zwei Seiten der Medaille in Sachen Selbstverwirklichung.

Endlich tun was du wirklich willst?

Scrolle ich mich durch meinen Facebook-Feed, muss ich immer wieder Seiten entfolgen, weil mir die Überschriften á la „So wirst du endlich erfolgreich“ einfach so tierisch auf die Nerven gehen. Aber nicht nur die, auch Texte, deren Überschriften mich mit „Tu endlich das, was du wirklich willst!“ locken wollen, warnen mich damit eigentlich vielmehr erfolgreich vor dem Lesen der Inhalte. Ständig dieses „Schneller, höher, weiter“. Geht’s eigentlich noch?

Abermals muss ich in diesem Kontext auf den Autor Michael Nast eingehen – diesmal aber nicht, weil mich seine ewige Leier von der „Generation Beziehungsunfähig“ stört. Oh nein, sondern weil auch er zu den Menschen gehört, die den allgemeinen Imperativ der Selbstverwirklichung um jeden Preis fordern – und ich das einfach nicht mehr hören kann. Aber von Anfang an:

Langweiliger Bürojob? So sieht Selbstverwirklichung nicht aus!

In einem Text aus dem Jahr 2013 ruft der Autor dazu auf, dass jeder seine Träume verfolgen sollte, anstatt vermeintlich langweiligen, sinnlosen Tätigkeiten wie dem gelernten Beruf nachzugehen. Darin beschreibt er das Elend eines ehemaligen Arbeitskollegen, der noch heute im Gespräch über seine Arbeit in einer Werbeagentur schimpft, er dagegen alles richtig gemacht hat, schließlich hat Nast doch bei eben dieser Werbeagentur gekündigt um das Leben eines Bohémien im schönen Berlin zu leben, der einfach tut was er liebt.

Endlich schreiben, die eigenen, angeblich mit Dostojewski geschliffenen Gedanken zu Papier bringen und ganz nebenbei in Nachtleben und Schlafzimmern (oder sonst wo) die Geschichten die das Leben schreibt als Basis des schriftstellerischen Schaffens erleben.

Selbstverwirklichung nur durch Musik, Literatur, Kunst – Hauptsache kreativ

Um zu illustrieren, wie trist doch das Leben sei, wenn man es nicht wenigstens mal mit dem Leben als „Kreativer“ versucht, führt er eine Freundin an, die in seinen Augen ob ihrer Modebegeisterung den Traum von der Redakteurin der Vogue hätte verwirklichen sollen. Stattdessen hat die Gute dann in Immobilien gemacht, ist zum Entsetzen von unserem Bohémien nun schon jahrelang in der Branche und kann nur zu bemitleiden sein. Schließlich war sie doch zu Höherem berufen.

Ein anderer Freund ist Architekt und nun könnte man meinen, dass das nun ein Beruf ist, der in Sachen Selbstverwirklichung angeführt werden könnte. Aber nein, auch hier scheint besagter Freund etwas falsch gemacht zu haben, schließlich entwirft er anstatt skylineprägender Phantasmen in irgendwelchen Boomtowns nur Altenheime. Das passt doch nicht! Wie kann er sein Talent nur mit derart profanen Dingen verschwenden? Ironie Off. An dieser Stelle passiert nun der entscheidende Denkfehler und damit der Grund für diese erschreckend lange Einleitung zum Thema Verantwortung.

All diese Überschriften und Texte von Kreativen, die ihr Mitleid mit Menschen
bekunden, die doch tatsächlich einer geregelten Tätigkeit fernab von Glitzer,
Glamour, Abenteuer und Spannung nachgehen, fassen ein gewaltiges Problem in
unserer vermeintlichen Lebenswirklichkeit zusammen.

Instafame, Musiker und Star-Blogger: Das wird nicht für alle zur Realität

Sicher ist, es war noch nie so einfach mit Kreativität zu schneller Bekanntheit zu kommen und bestimmt sind die Einnahmen, die in der Riege der erfolgreichsten generiert werden können, auch nicht zu verachten. Aber zu suggerieren, das Leben wäre dazu da, alles daran zu setzen, die eigenen Träume zu verwirklichen, ist nicht nur falsch sondern auch unverantwortlich. Und vor allem: Wieso sollte das immer in einem kreativen Beruf münden? Wieso denn nicht in viel Freizeit oder einer Familie?

Das ewige Mantra „Lebe deinen Traum“ ist nun vom gesellschaftlichen Imperativ ersetzt worden, dass jeder, der sich genug anstreng, den großen Durchbruch schafft. Jeder, der irgendein Hobby hat, müsse dieses einmal im Leben zum Beruf machen können – also welch Torheit, es nicht zu versuchen.

Das Problem an der Nummer ist: Jeder von uns kennt diese eine Person aus dem eigenen Bekanntenkreis, für die der Traum wahr geworden ist. Fuck ju Göthe Rüpel „Danger“ war etwa mein Sitznachbar in der siebten Klasse. Max wollte immer Schauspieler werden und viele von uns haben gelacht und gesagt: „Nie im Leben!“. Doch Max hat es geschaff. Und  an dieser Stelle meinen größten Respekt – denn du hast durchgehalten und genau das getan, was heute die ganzen „Lebe deinen Traum“-Texte verlangen. Du hast dein Ding gemacht und du hast all deine Kritiker in die Schranken verwiesen. Du hast es uns gezeigt.

Aber jeder von uns kennt viel mehr Leute, die genau so sehr gehofft, geglaubt
und gekämpft haben, um ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen. Jeder von uns
kennt die kleinen Schulbands, die anders als „Annenmaykantereit“  ihre ganze Freizeit in die Musik oder einen Instagramm-Account gesteckt haben, und dann irgendwann einsehen mussten, dass eine Berufsausbildung oder ein Studium die bessere Wahl für sie ist.

Nicht jeder hat die Chance zu machen, was er will

Was wir, die wir sicherlich alle irgendein Talent haben, welchem
wir gerne den ganzen Tag nachgehen würden, gemeinsam haben ist Folgendes: Die Chance, dass es damit klappt ist kleiner als die Notwendigkeiten, die im Leben irgendwann so dazu kommen. Es ist leicht, mit Anfang 20 zu sagen oder zu lesen, man könne sich seine Träume alle aus eigener Kraft erfüllen, man müsse es nur wollen und der einzige Gegner, den es zu besiegen gelte, sei die Angst vor dem Versagen.

Aber wir sind nicht für immer Anfang 20. Dazu kommt, dass ein Großteil der
Menschen, die laut Medien und Popkultur „ihr Ding durchziehen sollen“ schon in diesem Alter gar keine Wahl mehr haben. In vielen Familien außerhalb unserer verwöhnten, akademischen Amateurlebenskünstler-Welt wird die Frage nach dem „was willst du machen“ gar nicht groß gestellt. Da gibt es auch keine Eltern, die einen bis Anfang 30 finanziell und mit Verständnis und Vertrauen
unterstützen.

Statt dauernd Druck aufzubauen, schaut lieber mal über den Tellerrand!

Außerhalb unserer Welt, in der unsere größten Sorgen häufig sind, was denn nun für Impfungen für die Südostasienrundreise notwendig sind und ob wir überhaupt Lust auf eine Karriere im Großkonzern haben oder doch lieber
auf Selbstverwirklichung im Startup, stellt sich die Frage nach den 1.000
Möglichkeiten nicht. Da wird erwartet, dass Jugendliche in einem Alter in dem
unsereiner außer der Fünf in Mathe und der ersten Liebe kaum Probleme hatte, eine Entscheidung treffen, die für das ganze Leben wichtig sein kann.

In dieser anderen Welt geht es darum eine Arbeit zu finden, die einen ernährt und einem hoffentlich auch ein wenig Spaß macht. Das ist ziemlich viel Verantwortung!

Respekt für Menschen, die Verantwortung übernehmen

Was bringen uns also die ganzen Aufrufe zur Selbstverwirklichung
außer dem Druck, dass es beruflich und privat doch immer etwas Besonderes sein muss, so dass wir zu jedem Zeitpunkt nur das Beste für uns rausholen? Nichts weiter außer verdammt viel Druck.

Was ist, wenn es die 1.000 Möglichkeiten nicht mehr gibt, weil auf einmal die Eltern krank werden, ein Kind auf die Welt kommt, die dazugehörige Beziehung zerbricht und das eigene Leben dann nicht mehr nur den eigenen Passionen folgt? Wenn einen der Brotjob ankotzt, aber man nicht kündigen kann, weil man die Verantwortung für ein Kind hat? Verdienen nicht gerade die Menschen, die sich von dem Bohémienleben verabschiedet haben und stattdessen Verantwortung übernehmen unseren Respekt? Wo bleiben die Aufrufe, Menschen darin zu bestärken, ihr Bestes nicht nur für sich, sondern auch für andere zugeben? Wo ziehen wir die Grenze zwischen Selbstverwirklichung und den Menschen, die uns brauchen?

„Einfach neu anfangen“ erfordert sicherlich Mut  – dem Impuls zu widerstehen erscheint mir in unserer jetzigen Welt jedoch noch um ein ein Vielfaches bewundernswerter und außergewöhnlicher.

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