Foto: Olaf Kosinsky | Skillshare.eu

Fragen einer jungen Wählerin: Wie viel Gerechtigkeit steckt im SPD-Wahlprogramm?

In ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?” schreibt Helen über alles, was sie als junge Wählerin beschäftigt. Und heute über das vorzeitige Wahlprogramm der SPD.

123 Tage noch bis zur Wahl

Heute in vier Monaten ist es also soweit: In Berlin findet der jährliche Marathon statt – sonst noch was? Ach ja, Bundestagswahlen sind ja auch am 24. September. Nach Brexit, Trump und 35 Prozent für Marine Le Pen in Frankreich (ja, 35 Prozent für eine rechtspopulistische, rassistische Politikerin sind ein Problem, kein Sieg für Europa) steht für viele Menschen in meinem Alter hier in Deutschland fest: Dieses Jahr müssen wir wählen, denn nicht wählen gehen würde im Zweifelsfall die AfD stärken. Bei zu vielen Wahlen stand in letzter Zeit  die freie Gesellschaft auf dem Spiel. Lange, so könnte man vermuten, war es also nicht mehr so leicht als etablierte Partei die Stimmen der jungen Menschen hier in Deutschland zu gewinnen – zumindest mit dem richtigen Programm.

Am Montag hat nun die SPD – nach viel hin und her – die Eckpfeiler ihres Wahlprogramms für die Bundestagswahl vorgestellt. Mit Manuela Schwesig und Katarina Barley stellten, neben Thomas Oppermann, gleich zwei Frauen das Programm vor, aber lieferten sie auch wirklich gute Argumente? Als junge Frau die CDU zu wählen, die sich gerade erst wieder gegen ein Gesetz zur Rückkehr aus Teilzeit in Vollzeit gestellt hat, wäre aus meiner Sicht paradox. Die SPD könnte also offene Türen bei mir einrennen …

Warum sollen junge Menschen die SPD wählen?

Das Programm, das laut Katarina Barley „Gerechtigkeit ganz nach oben stellt”, bleibt vor allem eins: vage. Denn wie diese Gerechtigkeit konkret gestaltet werden soll, bleibt an vielen Stellen offen. So heißt ein Kapitel des Leitantrags zum Beispiel: „Es ist Zeit für gerechte Steuern und Abgaben”, welche Konsequenzen das für die Steuerpolitik haben soll, wird aber nicht erklärt. Die Steuer- sowie die Rentenpolitik soll erst zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht sogar erst nach dem Parteitag Ende Juni, auf dem das Wahlprogramm beschlossen werden soll, konkretisiert werden.

Die SPD will Klein- und Mittelverdiener entlasten, verspricht ein „Paket für anständige Löhne” und mehr Studenten sollen Bafög erhalten. Alles gute Ansätze, aber viel zu häufig fehlen konkrete Maßnahmen dahinter. Eine Partei, die die Agenda 2010 geschaffen hat, muss hier aber viel deutlicher werden, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will. Das Ehegattensplitting soll in einen Familiensplitting umgewandelt werden, von dem auch Eltern-Paare, die nicht verheiratet sind, profitieren sollen. Klingt gut, aber auch hier bleibt die Ausführung undeutlich: „Diese Entlastungen werden über Steuern laufen, aber nicht notwendigerweise nur über Steuern”, gab Katarina Barley laut Zeit Online an. Aha.

Gerechtigkeit für Eltern und Alleinerziehende?

Ein Aushängeschild des Wahlprogramms ist auch die geplante Abschaffung der Kita-Gebühren. Auch das klingt erst einmal nach einer gerechten Idee. Kita-Gebühren sind aber Ländersache. Und deren Abschaffung ändert weder etwas daran, dass es viel zu wenige Plätze gibt, noch daran, dass das Berufsfeld der Erzieher viel zu wenig Anerkennung erfährt und viel zu schlecht vergütet wird. Die jungen Eltern in meinem Umfeld wünschen sich vor überhaupt einen Platz für ihr Kind zu bekommen und die Sicherheit, dass ihre Kinder gut betreut sind. Und das geht eben nur, darüber sind sie sich alle einig, wenn es genug Erzieher gibt, die angemessen entlohnt werden. Gerade Alleinerziehende haben, vor allem hier in Berlin, noch eine ganz andere Sorge: Bei den derzeitigen Mietpreisen finden sie oft einfach keine Wohnung. Ist das gerecht? Eine Partei, die ich wählen will, sollte dringend auch an all diesen Punkten ansetzen.

Etwas, bei dem die SPD dann doch konkret wird, ist das Thema Innere Sicherheit (Hallo, CDU! ): 15.000 neue Polizisten soll es in Bund und Ländern geben. Thomas Oppermann betonte, wie strikt seine Partei in Zukunft vorgehen wolle: „Straftäter müssen die ganze Härte des Gesetzes spüren.” Ein Satz, den man eher aus dem Mund der bayrischen CSU oder des Innenministers De Maiziere gewohnt ist. Stand die SPD nicht mal für etwas Anderes? Ist das der neue Begriff von Gerechtigkeit? Ist das wirklich, was die SPD als klare Alternative zwischen SPD und Union für den Bürger definiert oder ist es nicht viel mehr eine Formulierung, die beim besorgten Bürger nach Wählerstimmen fischt?

Was ist eigentlich mit Europa?

Immerhin Erwähnung findet in dem Programm auch das Thema Europa. Deutschland könne es nur gutgehen, wenn es Europa gut ginge, so Katarina Barley. Ist das tatsächlich alles, was die SPD zu Europa zu sagen hat? Stand nicht noch vor ein paar Wochen, als in Frankreich gewählt wurde, nicht weniger als die Zukunft der EU auf dem Spiel? Ging es nicht gerade noch um die Verteidigung einer pluralistischen, europäischen Gemeinschaft? Sollen „nur” 35 Prozent für Marine Le Pen uns wirklich so entspannt haben? Müsste nicht gerade die SPD mit einem Kanzlerkandidaten, der solange für Europa gearbeitet hat, ein viel deutlicheres Zeichen für die Union setzen? Kann die Forderung nach Gerechtigkeit in unserer heutigen Zeit tatsächlich an den Grenzen Deutschlands aufhören?

Und muss man den ersten Bundes-Wahlkampf an dem die AfD teilnimmt, die erste Bundestagswahl nach dem so viele Verbindungen zwischen Verfassungsschutz und NSU aufgedeckt wurden, nach dem Flüchtlingsheime überall im Land gebrannt haben, seit dem rechtsextrem-motivierte Taten in Deutschland (wieder) zum Alltag gehören und ein Bundeswehrsoldat sich gerade erst als Flüchtling registrieren ließ sowie Anschläge plante, die den Hass auf Flüchtlinge schüren sollten und die strukturellen Probleme in der Bundeswehr, die in der Konsequenz einmal mehr ans Tageslicht kamen,  als sozialdemokratische Partei nicht viel mehr der Förderung einer offenen und sicheren Gesellschaft für alle widmen? Heißt Gerechtigkeit nicht auch, dass wirklich alle Menschen und vor allem die schutzbedürftigsten in unserem Land sicher leben können müssen? Und heißt Gerechtigkeit nicht vor allem auch, dass Menschen, die ungerechter Weise aus ihrer Heimat fliehen mussten, hier Schutz und ein neues Zuhause finden können sollten? Ich frage mich wirklich, was die SPD mit mehr Gerechtigkeit meint, wenn sie sich im Programm zum geltenden Asylrecht bekennt und für härtere Abschiebungen eintritt und die Festung Europa mitgestaltet, die immer wieder Menschen vor ihren Toren ertrinken lässt?

Das „vielleicht beste Wahlprogramm seit Willy Brandt”, wie der Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann den 70-seitigen Entwurf nennt, hinterlässt vor allem viele Fragezeichen. Ursprünglich hieß es: „Zeit für mehr Gerechtigkeit”. „Mehr Zeit für Gerechtigkeit” steht nun auf dem Titel. Vier Monate hat die SPD noch, um diese Plattitüden mit Leben zu füllen und jungen Menschen greifbare Gründe zu bieten, ihre Partei zu wählen.

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