Foto: Daniel von Appen/Unsplash

Die erste Weinschorle in der Sonne sollte nicht wichtiger sein als Menschenleben zu retten

Der Corona-Virus hat enorme Effekte auf Deutschland und Europa. Wir brauchen solidarische Antworten auf die Krise. Wie kann und muss diese Solidarität konkret aussehen?, fragt sich unsere Autorin Helen Hahne heute in ihrer politischen Kolumne „Ist das euer Ernst?“

Anmerkung der Redaktion: Anfangs war dieser Text mit einem Foto des Hamburger Lokals „Klippkroog” bebildert, das wir von Unsplash übernommen hatten. Wir wollten damit allgemein eine belebte Draußen-Szene darstellen, leider kam es zu dem Missverständnis, das Bild würde eine aktuelle Ansicht des Lokals zeigen, was nicht der Fall ist. Deshalb haben wir das Bild ersetzt und bitten die Inhaber*innen um Entschuldigung.

Ein Virus, der das öffentliche Leben lahmlegt

Spätestens seit Beginn dieser Woche ist eins nicht mehr zu leugnen: Die Bekämpfung des Corona-Virus führt auch in Deutschland zu drastischen Einschränkungen im öffentlichen Leben. Schulen und Kitas sind geschlossen, genauso wie Bibliotheken, Geschäfte (Ausnahmen gelten unter anderem für Supermärkte, Apotheken, Banken und die Post), Kinos, Schwimmbäder und Bars. Restaurants und Cafés dürfen nur noch von 6.00 bis 18.00 Uhr öffnen. Gottesdienste in Kirchen, Moscheen und Synagogen dürfen nicht mehr stattfinden. Die Menschen werden angehalten, zuhause zu bleiben, wenn sie nicht Berufen nachgehen, die systemrelevant sind. Und das Robert-Koch-Institut stufte am 17. März 2020 das Gesundheitsrisiko durch Corona in Deutschland erstmals als „hoch“ ein.

Worum es bei all den Maßnahmen geht: die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und damit das Gesundheitssystem vor Überlastung zu bewahren. Was es noch nicht gibt: eine allgemeine Ausgangssperre wie in Italien, Spanien und nun auch Frankreich. Die soziale Selbstisolation ist immer noch eine freiwillige Entscheidung. Und genau diese Freiwilligkeit scheint ein Problem zu sein. Die erste Weinschorle in der Sonne scheint wichtiger zu sein, als Menschenleben zu retten. Die letzte Corona-Party muss unbedingt noch gefeiert werden. Die eigene Freiheit einzuschränken, um andere Menschen zu schützen, scheint erst vorstellbar, wenn es tatsächliche Verbote gibt. Was sagt das eigentlich über unsere Gesellschaft aus?

#Flattenthecurve

Der Virus trifft uns nicht alle gleich. Auch in Deutschland hat eine gute gesundheitliche Versorgung mit Wohlstand zu tun. Je höher das Gehalt, desto wahrscheinlicher ist oft die Möglichkeit, im Home Office zu arbeiten. Darüber hinaus trifft ein Verdienstausfall zuerst die Menschen, die keine Rücklagen haben, um sechs bis acht Wochen ohne Gehalt auszukommen. Das sind vor allem Arbeiter*innen, Alleinerziehende, Soloselbstständige, freischaffende Künstler*innen. Menschen, die halt nicht zur Not die teuren Nudeln kaufen können, wenn alle Endzeit-Prepper*innen die günstigen weggehamstert haben.

Da kann man schon mal einen Moment innehalten und sich fragen, was das eigentlich für ein Wirtschaftssystem ist, das es für viele Menschen unmöglich macht, genügend Geld zurückgelegt zu haben, um über die nächsten sechs bis acht Wochen zu kommen. Diese finanzielle Unsicherheit ist aber etwas, mit der viele Menschen dauerhaft leben müssen, nicht nur in dieser Krise. Eine finanzielle Unsicherheit, in der jedes unvorhergesehene Ereignis Existenzängste hervorrufen kann, in der Existenzängste zum Alltag gehören.

Außerdem leben wir in einer Gesellschaft, in der in den letzten Jahrzehnten das Gesundheitssystem immer weiter privatisiert wurde. Die Gefahr, die damit einhergeht, dass mit Gesundheit vor allem Profit gemacht werden soll, wird nun mehr als deutlich. Der Ärzt*innen- und Pflegepersonalmangel wird deutlich, wenn das System schon zu Beginn der Krise zusammenzubrechen droht. Und wenn sich der Virus nicht entscheidend verlangsamt, müssen Ärzt*innen bald auch in Deutschland entscheiden, wen sie behandeln und wen nicht. Was das bedeutet, sieht man heute schon in Italien. Eine Wirklichkeit, die Menschen, die auf dieses Gesundheitssystem angewiesen sind oder in ihm arbeiten, übrigens schon ewig anprangern.

Solidarität in Zeiten von Corona

Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der viel dafür getan wurde, dass wir uns entsolidarisieren, müssen wir der Vereinzelung jetzt aktiv entgegentreten. Wir müssen solidarisch sein. Aber was bedeutet das? Erst einmal ganz simpel: Zuhause bleiben, wenn man es kann. Einschnitte in die eigene Alltagsfreiheit akzeptieren. Dinge erledigen, die man schon lange zuhause machen wollte oder sollte: Fensterputzen, die Schublade der Schande aufräumen, die Geschichte des intersektionalen Feminismus nachlesen, den eigenen Rassismus hinterfragen – es gibt immer was zu tun. Solidarität heißt jetzt – und eigentlich immer – zu fragen, was für einen selbst möglich ist. Wenn soziale Isolation kein Problem ist, weil ich ein sicheres Zuhause habe, in dem ich mich wohlfühle und in dem ich nicht bedroht bin, dann bleibe ich zuhause – auch damit Menschen, deren Situation eine andere ist, vielleicht weiter rausgehen können.

Solidarität muss aber auch politische Realität sein. Dabei gibt es gute Nachrichten: In Spanien wurden zum Beispiel gerade private Krankenhäuser verstaatlicht. Die deutsche Regierung hat frühzeitig ein neues Kurzarbeitsgesetz beschlossen, das Kündigungen verhindern soll und Menschen und Unternehmen während der Reduzierung der Arbeitszeit finanziell absichern soll. Es gibt Vorschläge wie die des Soziologen Christoph Butterwegge, den Hartz-IV-Satz sofort um 100 Euro zu erhöhen, damit Empfänger*innen sich weiter Lebensmittel leisten können und andere alltägliche Auswirkungen der Krise irgendwie auffangen können. Ein Vorschlag, der in der Corona-Krise unumgänglich scheint, der aber auch unabhängig von der Krise eine wichtige Forderung darstellt. Und auch die Entwicklung, dass sich Menschen jetzt mit Pflegekräften, Ärzt*innen und Erzieher*innen solidarisieren, ist eine gute Nachricht.

Solidarisch sein und bleiben

Solidarität bedeutet aber auch, wachsam zu bleiben. Aufmerksam zu beobachten, welche Maßnahmen nun durchgeführt werden. Denn es passieren auch viele Dinge, die hinterfragt werden müssen. Etwa dann, wenn es um die Beschneidung von Grundrechten geht. In Österreich teilte der größte Mobilfunkanbieter zum Beispiel gerade die Bewegungsprofile aller Nutzer*innen mit der Regierung. Und auch die Schließung der deutschen Grenzen sollte nicht einfach so hingenommen werden. Warum werden Grenzen geschlossen, wenn der Virus längst alle Grenzen passiert hat?

Die europäischen Außengrenzen waren schon vor der Corona-Krise geschlossen und trotzdem dürfen wir sie auch jetzt nicht vergessen. Noch immer harren dort Tausende Menschen aus, während ihnen ihr Grundrecht auf einen Asylantrag verwehrt wird. In dem Camp für Geflüchtete Moria auf Lesbos leben weiter 20.000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen und können sich in Zeiten von Corona oft noch nicht einmal die Hände waschen. Und Anfang der Woche starb dort ein Kind bei einem Brand.

Absurde Praktiken des Kapitalismus

Wir müssen also solidarisch sein. Und diese Solidarität beginnt tatsächlich momentan noch hinter unserer eigenen Haustür, sie geht aber weit darüber hinaus.  Und sie darf nicht mit dem Ende dieser Krise – wann auch immer das sein wird – aufhören. Der Corona-Virus zeigt einige der absurdesten Praktiken des Kapitalismus auf. Und er zeigt, wie wenig Antworten diese Praktiken wirklich geben können. Das spüren vor allem die Menschen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten – Pflegekräfte, Erzieher*innen, Menschen in anderen sozialen Berufen. Und die Menschen, die in dieser Krise und im kapitalistischen Alltag am härtesten getroffen werden. Seien wir solidarisch, bleiben wir es aber auch.

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