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„Das Ziel ist es, den privaten Körper aus der professionellen Arbeit herauszuhalten“ – ein Gespräch mit einer Intimitätskoordinatorin 

Julia Effertz ist Schauspielerin und Intimitätskoordinatorin – sie sorgt dafür, dass die Grenzen von Schauspieler*innen beim Drehen intimer Szenen eingehalten werden. Im Interview spricht sie über diesen neuen Berufszweig, warum er so wichtig für die Filmbranche und wozu Genitaltaschen genutzt werden.

Wo sind die persönlichen Grenzen der Schauspieler*innen?

2017 war das Jahr, in dem die Filmszene in Sachen sexueller Belästigung und Missbrauch aufgerüttelt wurde – durch die mutigen Geschichten unzähliger Menschen, die ihre Erfahrungen teilten. Der Hashtag #metoo öffnete die Debatte über Machtmissbrauch in der Filmbranche und Grenzüberschreitungen. Auch über gleiche Chancen für weibliche Kreative und eine gerechte Bezahlung in der Filmbranche wird heute intensiver diskutiert als je zuvor. Auch am Set kommt ein neuer Wind auf, so wird etwa das Thema Intimitätskoordination immer relevanter. Dabei geht es darum, eine professionell ausgebildete Person ans Set zu holen, die in intimen Szenen allen Beteiligten dabei hilft, sich wohl in ihren Rollen zu fühlen und beim Schauspiel nicht über die persönlichen Grenzen hinauszugehen: Wo darf der*die Schauspieler*in angefasst werden? Was darf vom Körper gezeigt werden? Wer darf am Set dabei sein, wenn explizite Nacktszenen gedreht werden? Mit diesen Fragen setzt sich ein*eine Intimitätskoordinator*in auseinander. Seit #metoo gibt es mehr Versuche in der Filmbranche, diesen Frage gerecht zu werden. HBO hat sich etwa entschieden, sogenannte Intimitätskoordinator*innen standardmäßig bei Drehs einzusetzen.

Wir haben mit der deutschen Schauspielerin Julia Effertz gesprochen, die ihre Ausbildung in diesem Jahr bei der führenden Intimtätskoordinatorin Ita o’Brien („Sex Education“, „Gentleman Jack“) und Intimacy on Set in London absolviert hat.

Julia, du warst als Schauspielerin tätig, bevor du eine Ausbildung zur Intimitätskoordinatorin absolviert hast. Was hat dich dazu veranlasst, in dieser Form auch hinter die Kamera zu treten?

„Der Schritt kam durch #metoo und den Skandal um Harvey Weinstein und den Machtmissbrauch in der Branche. Vor #metoo wurde die Verletzlichkeit von Schauspieler*innen am Set noch nicht groß thematisiert. Letztes Jahr habe ich dann auf dem Filmfestival in Cannes Ita O’Brien getroffen, die führende Intimitätskoordinatorin in der Branche, die dort die von ihr erarbeiteten ‘Intimacy Guidelines’ (Intimitätsrichtlinien) für die Arbeit am Set und im Theater vorstellte. Ich weiß noch, wie ich dort mit meinen Schauspielkolleg*innen saß und dachte: Genau das brauchen wir. Ich wollte das Handwerk nicht nur für mich selbst erlernen, sondern diese Fürsorge auch anderen Schauspielkolleg*innen am Set bieten. Deshalb entschloss ich mich, die einjährige Ausbildung bei Intimacy on Set und Ita O‘Brien in London zu machen.“

Aus welchen Bereichen kamen deine Mitschüler*innen?

„Man muss bedenken, dass es keine Ausbildung für Berufseinsteiger*innen ist, man sollte mit der Branche vertraut sein und in ähnlichen Bereichen bereits gearbeitet haben, denn die Tätigkeit als Intimitätskoordinatorin ist komplex und bedarf einer gewissen Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Die Teilnehmer*innen meiner Ausbildungsklasse waren Schauspieler*innen,  Regisseur*innen oder kamen aus dem Bereich Stunt oder Bewegungschoreografie, da hier eine Analogie besteht.“

Wie meinst du das?

„Stuntkoordinator*innen sorgen für Sicherheit in Kampfszenen, koordinieren und choreografieren sie; wir sorgen für Sicherheit, Koordination und Choreografie in intimen Szenen.“

Hast du dich persönlich auch mal in Situationen am Set wiedergefunden, wo du eine*n Intimitätskoordinator*in gebraucht hättest?

„Ich persönlich hatte bisher das Glück, immer mit einem sehr professionellen Team zu arbeiten, das ging aber vielen meiner Schauspielkolleg*innen nicht so. Ich könnte einen Roman darüber schreiben, wie oft ich schon von unpassendem Verhalten am Set gehört habe. Eine Kollegin erzählte beispielsweise, dass sie und ihr Schauspielkollege bei dem Dreh einer Liebesszene die Anweisung bekamen ‘einfach mal zu machen’. Zwar hatten sie unter sich einen ungefähren Verlauf abgesprochen. Während des Takes begann der Kollege dann aber zu improvisieren, seine Hand rutschte an Stellen, wo es für sie nicht okay war. Er wurde unabgesprochen körperlich sehr heftig und intensiv, was bewirkte, dass die Szenenpartnerin aus ihrer Rolle und aus dem Körper der Figur in ihren privaten Körper gedrängt wurde. Das ist natürlich eine fatale Grenzüberschreitung die nicht passieren darf. Die Schauspielerin hat den Take zwar ,durchgezogen‘, aber sie hat sich furchtbar gefühlt und diese Übergriffigkeit hing ihr noch lange nach.“

Was sind die Aufgaben einer Intimitätskoordinatorin bei der Umsetzung einer Szene?

„Bei der Intimitätskoordination ist das wichtigste Ziel, dass die Schauspieler*innen ihren privaten Körper aus der professionellen Arbeit heraushalten und Rolle und Szene innerhalb einer professionellen Struktur erarbeiten. Es geht darum, die körperlichen Grenzen sicher abzustecken, zwischen denen man dann künstlerisch arbeiten kann. Die Schauspieler*innen müssen klar sagen, wo ihr Nein ist. Erst dann kann man das ‘Ja’ sehen und anfangen eine Szene körperlich und choreografisch zu auszuarbeiten und emotional zu füllen.“

Das hört sich so an, als sei die Zusammenarbeit zwischen Intimitätskoordinator*in und Regisseur*in bei der Ausarbeitung der Szenen sehr eng.

„Im Idealfall ja, natürlich ist das auch eine Budget- und Zeitfrage. Die Abläufe am Set sind eng getaktet. Normalerweise werde ich bereits in der Vorproduktion in den Prozess mit eingebunden. Wir setzen uns für die intimen Szenen zusammen und besprechen diese mit Schauspieler*innen und Regisseur*innen. Eine offene, respektvolle Kommunikation über die Inhalte ist das A und O. An den Filmschulen wird den späteren Regisseur*innen noch nicht beigebracht, wie man solche exponierten Szenen inszeniert und wie man das Thema respektvoll mit Cast und Crew bespricht. Jede*r von uns hat für den privaten Bereich eine Vorstellung von Sex, an Sets galt vielleicht auch deshalb die Annahme, dass über inszenierte Sexszenen nicht mehr groß gesprochen werden muss. Das muss man jedoch. Denn die psychische Verletzungsgefahr für Schauspieler*innen in intimen Szenen ist hoch. Der*die Regisseur*in soll erklären, wie er*sie sich die Szene vorstellt und die Schauspieler*innen müssen sagen, wo ihre Grenzen liegen – zum Beispiel, was Nacktheit betrifft. Dann geht es in die Choreografie. Dabei nutzen wir die Agreement-and-Consent-Methode, also die „Vereinbarung und Einwilligung“. Das heißt die Szenenpartner*innen stecken präzise ab, welche Teile ihres Körpers berührt werden dürfen und welche nicht. Mit diesem bewussten „Ja“ der Schauspieler*innen formen wir dann die körperliche Choreografie und den emotionalen Bogen der Figuren in der Szene. Von außen sieht das zunächst fast ein wenig mechanisch und hölzern aus, dieses ‘Mapping’ ist aber der wichtigste Schritt, um zu wissen, wie weit man bei seinem*r Szenenpartner*in gehen darf. Was außer Frage steht: In einer simulierten Sexszene berühren sich nie die Genitalien, dafür gibt es choreografische Tricks und Kostüme.“

Welche wären das?

„Ein choreografisches Hilfsmittel ist das ,Anchoring’, also die Bewegung über ,Anker’ anderer Körperstellen. Das kann man sich zum Beispiel so vorstellen: klassische Missionarsstellung, der Mann liegt über der Frau. Die Genitalbereiche berühren sich hierbei nicht, sondern der Schauspieler ankert seinen Oberschenkel an dem seiner Szenenpartnerin. Stoßbewegungen können dann über diese Ankerstelle ausgeführt werden. Je nachdem wie viel Nacktheit vereinbart ist, wird mit verschiedenen Kostümen gearbeitet. Das wären hautfarbene Slips oder sogenannte Genitaltaschen für Männer, in denen sie alles gut verpacken können.“

Intimität im Film wird ja nicht nur über Sexszenen vermittelt. In welchen anderen Szenen wird ein*e Intimitätskoordinator*in aktiv?

Intimität fängt schon bei Kussszenen an. Jeder Kuss erzählt eine andere Geschichte, ist eine intime Berührung. Was auch sehr intim sein kann, ist eine Szene, in der eine Schauspielerin eine gebärende Frau spielt. Das ist mitunter sehr exponierend für die Schauspielerin.

Inwieweit könntest du sie hier unterstützen?

„Wie bei jeder intimen Szene arbeite ich mit der Schauspielerin körperlich, stimmlich und emotional. Das Ziel ist auch hier, daß ihr privater Körper geschützt ist und sie mit ihrem Körper die Rolle und ihre Geschichte erzählen kann. Ich sorge dafür, wie auch bei anderen intimen Szenen, dass es der Schauspielerin am Set gut geht, dass sie etwa zwischen den Takes nicht entblößt daliegt, sondern dass ihr sofort nach dem ‘Danke’ der Bademantel gereicht wird. Im Idealfall sollte auch hier  ein ,Closed Set’-Protokoll mit minimaler Crew eingehalten werden.“

Gehen deine Aufgaben auch über die eigentlichen Szenen am Set hinaus?

„Ja, ich schaue zum Beispiel auch nach dem Dreh mit auf den Monitor und stelle sicher, dass die von den Schauspieler*innen vorher aufgezeigten Grenzen nicht überschritten wurden. Nach dem Dreh mache ich einen Check-In, sowohl mit Regie als auch mit den Schauspieler*innen. Das ist besonders dann unverzichtbar, wenn es sich um eine extreme Szene handelt, in der etwa sexualisierte Gewalt dargestellt wird. Derartige Szenen bedürfen besonderer Fürsorge und Kommunikation.“

Insbesondere bei Szenen von sexualisierter Gewalt muss es schwierig sein zu erkennen, wann es dem*der Schauspieler*in zu viel wird.

„Deshalb ziehen wir für solche Szenen Sicherheitsnetze ein, angefangen mit einer professionellen Erarbeitung und Choreografie der Szene. Geht es den Beteiligten zu weit, können sie mittels Codewort, welches wir im Vorfeld immer vereinbaren, ein Time-Out setzen. Es ist wichtig, dass die Schauspieler*innen wissen, dass sie einen laufenden Take jederzeit abbrechen dürfen. Normalerweise macht das nur der*die Regisseur*in. Bei solchen Szenen lautet jedoch die Ansage: Sicherheit kommt zuerst. Ich ,spotte‘ während des Drehs, ich gucke also nach Anzeichen, die zeigen, dass sich die Schauspieler*innen nicht wohl fühlen. Die Vorbesprechung und Vorbereitung der Szene schafft die Grundlage, um diese Anzeichen zu erkennen. Die Schauspieler*innen müssen sich sicher fühlen, die Choreografie der Szene muss sitzen, damit wir erkennen können, was dort nicht hingehört.“

„Choreografie“ hört sich eingeübt an, als würde es keine Improvisation geben?

„Ganz genau. Es darf – genauso wie bei einem Kampf oder einem Stunt – keine Improvisation geben, sonst verletzen sich Menschen.

Man würde ja denken, das ein Filmset voller Menschen ein Ort ist, an dem so etwas nicht passieren kann. Wieso geschieht es aber doch?

„Bislang wurde in der Branche kaum über die Komplexität und die Verletzungsgefahr bei intimen Szenen gesprochen. Manchmal weist der*die Regisseur*in die Schauspieler*innen einfach an, ihm*ihr ,etwas anzubieten’. Es herrschte bisher kein Bewusstsein darüber, dass diese Szenen keine Improvisationsmomente sein dürfen, weil der private Körper der Schauspieler*innen im Spiel ist. Genau diese Grauzone bietet dann jedoch leider Raum für Machtmissbrauch und ,Hände, die verrutschen’. Betroffene trauten sich bisher nicht, etwas zu sagen, weil sie nicht als ,schwierig’ gelten wollten – man ist als Schauspieler*in dankbar, dass man drehen darf. Auch Argumentationen wie ,Wenn ich schauspielere, dann vergesse ich mich’ oder ,Ich bin ja in der Rolle’ wurden lange nicht hinterfragt. Erst jetzt ändert sich hier allmählich das kollektive Bewusstsein.“

Nimmt man Sexszenen nicht die Leidenschaft und Authentizität, wenn man sie bis ins kleinste Detail vorher bespricht?

„Das ist ja genau die Kunst der Illusion, die dann nachher beim Publikum als glaubwürdig ankommen soll, egal was man erzählt. Die Leidenschaft einer Sexszene ist eine Illusion, man kann sie genauso choreografisch darstellen wie man einen hitzigen Faustkampf durch eine exakte Choreografie und schauspielerische Erarbeitung authentisch rüberbringen kann. Das ist die Kunst der Schauspieler*innen, eine Szene glaubhaft zu vermitteln. Natürlich fügen wir neben der Intimchoreografie auch die Rollenarbeit hinzu, die emotionale Reise der Figur, ihre Geschichte.. Jede*r Schauspieler*in arbeitet da anders, persönlich – für intime Szenen haben wir verschiedenste Werkzeuge aus der Bewegungslehre, seien es etwa Tierrythmen oder Farben.

Wo stehen wir in Sachen Intimitätskoordination in Deutschland?

„USA und Großbritannien haben bereits Branchenstandards für die Inszenierung von intimen Szenen vorgelegt. Ich wünsche mir, dass es in Deutschland in ein paar Jahren Standard ist, Intimitätskoordinator*innen am Set zu haben. Genauso wie Stuntkoordinator*innen Teil der Crew sind, um körperliche Verletzungen zu vermeiden, sollte es auch eine*n Intimitätskoordinator*in geben, der*die emotionale Verletzungen  vermeidet. Das Thema psychische Gesundheit findet mittlerweile in der öffentlichen Debatte viel mehr Beachtung. Auch Sicherheit und Diversität am Arbeitsplatz werden mehr diskutiert.“

Im Zuge der Weinstein-Affäre engagieren sich Produktionsfirmen nun mehr denn je, sexuelle Übergriffe zu verhindern. Viele dieser Vorfälle geschehen jedoch jenseits des Sets. Was kann die Branche tun, um dagegen vorzugehen?

„Ein wichtiger Schritt ist es, mehr Frauen in Entscheidungspositionen zu bringen, wir brauchen viel mehr Regisseurinnen und Produzentinnen. Aber das Problem betrifft ja nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Wir brauchen ein ausgeglichenes Klima der Machtverteilung und den Willen aller Beteiligten zu offener Kommunikation und einem respektvollen, fürsorglichen Umgang miteinander.“

Hast du auch schon persönlich erlebt wie es ist von eine*m Intimitätskoordinator*in betreut zu werden?

„In meiner Ausbildung mussten wir viele verschiedene Szenen choreografieren und durchspielen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich die Aufgabe hatte, den männlichen Part in einer Sexszene zu spielen. In der Nacht vor der Probe war ich so nervös, dass ich nicht schlafen konnte. Wie sollte ich in der Lage sein, eine männliche Figur beim Sex zu spielen? Eine Mitschülerin erarbeitete und choreografierte dann als Intimitätskoordinatorin mit mir und meiner Szenenpartnerin die Figuren und die Szene – und ich konnte nicht glauben wie wohl ich mich im Arbeitsprozess fühlte. Ich hatte richtig Spaß an der Umsetzung und beim Dreh. Als wir nach dem Dreh das Material sichteten, sah ich zwar meinen Körper, also mein ‘Instrument’, das die Geschichte der Figur erzählte, ich konnte mich als Privatperson aber nicht erkennen. Mein privater Körper war durch die Intimitätskoordination völlig geschützt, mein Schauspielkörper füllte die Rolle ganz aus. Da habe ich verstanden: die Intimitätskoordination funktioniert. Sie sichert mich nicht nur ab, sie eröffnet mir auch absolute künstlerische Freiheiten.“

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