„Ich schaffe das schon” – ein Satz, den fast alle bestimmt schon mal gesagt oder gedacht haben, obwohl sie eigentlich innerlich verzweifelt sind. Wir haben mit fünf Menschen über (Un-)Vereinbarkeit gesprochen.
Erwerbsarbeit und Familie miteinander zu vereinbaren, scheint oftmals ein Entweder-oder-Ding zu sein. Entweder du arbeitest Vollzeit, gibst alles für deinen Job und machst Karriere, oder du gründest eine Familie, bleibst daheim oder arbeitest Teilzeit und kümmerst dich um Haushalt und Kind(er). Dabei sollte es nicht um ein Entweder-Oder gehen.
Arbeit und Familie sind nicht die einzigen Bereiche im Leben, für die sich Menschen eine gute Balance wünschen. Wir haben mit fünf Menschen über (Un-)Vereinbarkeit gesprochen. Darüber, welche Bereiche des Lebens sie miteinander vereinbaren und wie gut das klappt. Aber auch darüber, welche Voraussetzungen sie sich wünschen, damit individuelle Vereinbarkeit besser gelingen kann.
Die Autorin und Bloggerin Eszter Jakab vereinbart ihre Erwerbsarbeit, ihre Care-Arbeit und ihre Aufgaben als pflegende Mutter von drei Kindern mit Behinderung miteinander. Melisa Erkurt versucht ihre Träume und Ziele mit ihrer anerzogenen Genügsamkeit als Arbeiter*innenkind aus einer geflüchteten Familie zu vereinbaren. Hilke hat schon einige große Schicksalsschläge erlebt, versucht mit diesen und einer chronischen Erkrankung umzugehen und sich gleichzeitig für ihre Kinder, aber auch für sich selbst Zeit zu nehmen. Luisa Hanke ist alleinerziehend und Bewerbungscoachin für Mütter – die Frage nach der Vereinbarkeit von Familienleben, Care-Arbeit und ihrer Selbstständigkeit begleitet sie ständig. Lisa Zaiser versucht, ihre Leidenschaft für ihr junges Start-up mit Freizeit und Zeit für Familie und Freund*innen unter einen Hut zu bringen.
Eszter Jakab
Eszter Jakab ist Autorin. Sie schreibt auf dem Gemeinschaftsblog Kaiserinnenreich und hat das Online-Magazin Eigenes Zimmer Mag gegründet. Auf Instagram schreibt sie als @polyeszterbindung über Inklusion, Feminismus, Mutterschaft und Politik. Sie lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in einer großen Stadt.
Was musst oder willst du in deinem Leben miteinander vereinbaren?
„Wenn man mich fragt, was ich mache, sage ich: Ich schreibe, pflege und care-arbeite. Ich schreibe als freie Autorin und auf meinem Blog Kaiserinnenreich und meinem Online-Magazin Eigenes Zimmer Mag. Außerdem bin ich Mutter von drei Kindern mit Behinderung. Als Mutter verrichte ich dabei die typischen Aufgaben, die im Alltag und Haushalt anfallen. Als pflegende Mutter kommen dazu alle Aufgaben rund um die Behinderungen meiner Kinder: Therapien, Termine, Papierkram, Anträge, Organisation. Mein Mann und ich versuchen dabei so gleichberechtigt zu leben, wie unsere Bedingungen uns das erlauben.“
Wo und wann stößt du in deinem Alltag auf Schwierigkeiten beim Versuch, diese Dinge miteinander zu vereinbaren?
„Ehrlich gesagt: überall. Oft ist es in unserem Leben schon fast unmöglich, die Pflege mit Schlaf oder Freizeit zu vereinbaren. Am Ende des Tages bleibt immer weniger Zeit und Kraft zum Schreiben, als mir lieb wäre. Es scheint gar nicht vorgesehen, dass wir Pflege und Beruf vereinbaren. Häusliche Pflege ist für Politik und Gesellschaft etwas, was nur ältere Menschen betrifft. Konzepte für pflegende Angehörige beinhalten immer, dass man die Pflege auslagert. Aber weder gibt es genug Einrichtungen für Kinder mit Behinderung, noch wollen viele Eltern das. Ich möchte, dass meine Kinder in den Kindergarten gehen und danach nach Hause kommen. Genauso wie Kinder ohne Behinderung. Dafür fehlt es aber an gelebter Inklusion. Der Besuch eines Kindergartens oder einer Schule scheitert für viele Kinder mit Behinderung an Hürden und Barrieren, die nicht sein müssten, nicht sein dürfen. Hinzu kommt, dass die Erwerbswelt nicht barrierefrei ist. Als Autistin erschwert das meine Situation sehr.“
Warum ist es für dich wichtig, eine gute Vereinbarkeit dieser Bereiche hinzukriegen?
„Allein um ein eigenes Einkommen und damit überhaupt ansatzweise so etwas wie eine Absicherung im Alter zu haben, ist es wichtig für mich, auch erwerbstätig zu sein. Aber mein Hauptgrund ist: Ich brauche etwas für mich. Ich muss auch außerhalb meiner Rolle als pflegende Mutter existieren dürfen. Als pflegendes Elternteil wird man schnell isoliert und einsam. Erwerbsarbeit bedeutet auch Teilhabe und Austausch. Der kreative Prozess des Schreibens hilft mir, mich auszudrücken. Als Autistin fällt mir soziale Interaktion und Kommunikation oft schwer. Schreiben ist für mich auch eine Möglichkeit, in einen Austausch mit meiner Umwelt und der Gesellschaft zu treten.“
„Nur wenn wir Raum für Unvereinbarkeit lassen, kann Raum für Vereinbarkeit entstehen.“
Muss man immer alles miteinander vereinbaren?
„Nein. Ich denke, es ist gar nicht möglich, immer alles zu vereinbaren. Auch unter perfekten Bedingungen wird es Phasen geben, in denen eine Sache zu kurz kommt, eine Sache mehr Aufmerksamkeit braucht. Der Mensch ist keine Maschine und funktioniert nicht reibungslos. Dafür muss es Raum geben. Nur wenn wir Raum für Unvereinbarkeit lassen, kann Raum für Vereinbarkeit entstehen.“
Welche (politischen) Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die individuelle Vereinbarkeit besser gelingen kann? Was fehlt für dich konkret?
„Für individuelle Vereinbarkeit brauchen wir individuelle Möglichkeiten, uns zu entwickeln. Und um diese Möglichkeiten zu haben, brauchen wir alle die gleiche Teilhabe und den gleichen gesellschaftlichen Raum. Das ist die Definition von sozialer Gerechtigkeit. Für mich konkret fehlt es vor allem an Inklusion in allen Bereichen. Nur wenn meine Kinder gut betreut und versorgt sind, habe ich die Möglichkeit, mich auch um andere Bereiche meines Lebens zu kümmern. Nur wenn die Erwerbswelt inklusiver wird, habe ich die Möglichkeit, mein Potenzial zu nutzen.
In Deutschland werden Menschen mit Behinderung immer noch ausgeschlossen. Angefangen von den Schwierigkeiten, einen Kindergartenplatz zu bekommen, über Förderschulen in die Werkstätte: Menschen mit und ohne Behinderungen begegnen sich im Alltag und in der Arbeitswelt kaum. Menschen mit und ohne Behinderung sollten selbstverständlich zusammen leben und arbeiten. Nur dann erleben wir, welche Bedürfnisse wir haben, und können uns überlegen, wie wir unser Leben und unsere Gesellschaft gemeinsam gestalten wollen. Die Politik muss die Grundlage dafür schaffen. Der öffentliche Raum muss barrierefrei sein, Kindergärten und Schulen müssen inklusiv sein, Menschen mit Behinderung müssen in den ersten Arbeitsmarkt. Es mangelt nicht an Ideen und Konzepten. Sie müssen nur endlich gehört werden.“
Melisa Erkurt
Melisa Erkurt leitet seit Anfang des Jahres „die_chefredaktion“, ein junges Medium auf Instagram. Davor arbeitete sie beim Innenpolitikmagazin „Report“ des Österreichischen Rundfunks und beim Magazin „biber“, leitete ein Schulprojekt und war Lehrerin an einer Wiener Schule. Sie ist Kolumnistin der österreichischen Wochenzeitung „Falter“ und bei der taz. Im vergangenen Jahr erschien ihr Bestseller „Generation haram – warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zählt sie Forbes zu seinen „30under30“.
Was musst oder willst du in deinem Leben miteinander vereinbaren?
„Mit meiner Biografie aufzuwachsen, bedeutet, eingebläut zu bekommen, dass das höchste Ziel im Leben ein Dach über dem Kopf ist. Bei uns daheim gab es keine Zeit zu träumen. Meine Familie ist aus dem Krieg geflohen, ich komme aus einem Arbeiter*innenhaushalt, es ging immer nur darum, eines Tages selber die Stromrechnungen zahlen zu können. Immer, wenn ich ein Buch las, schimpfte mein Vater: Das wäre Blödsinn, mit Büchern könne man keine Miete zahlen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass im Leben mehr drin ist als Überleben. Daran muss ich mich sogar jetzt, wo es mir finanziell gutgeht, immer wieder erinnern.“
„Ich muss meine Träume mit meiner anerzogenen Genügsamkeit vereinbaren. Ich muss meine Identität als Arbeiter*innenkind einer geflüchteten Familie mit meiner Identität als Akademikerin in Österreich vereinbaren.“
„Ich muss meine Träume mit meiner anerzogenen Genügsamkeit vereinbaren. Ich muss meine Identität als Arbeiter*innenkind einer geflüchteten Familie mit meiner Identität als Akademikerin in Österreich vereinbaren. Letztes Jahr habe ich ein Buch geschrieben, mit dem ich tatsächlich – zumindest für eine Zeit – meine Miete zahlen könnte. Mein Vater war im Unrecht, aber er wusste es nicht besser.“
Wo und wann stößt du in deinem Alltag auf Schwierigkeiten beim Versuch, diese Dinge miteinander zu vereinbaren?
„Ich fühle mich – jetzt, da ich eigentlich dazugehöre – noch immer fremd in Räumen voller Intellektueller. Deshalb hasse ich netzwerken und bin auch so unglaublich schlecht darin. Ich kann keine Karrierschritte planen oder anvisieren, weil ich mir nicht vorstellen kann, was alles noch möglich ist. Das habe ich weder gelernt, noch mir von anderen in meiner Familie abschauen können. Manchmal frage ich mich heute immer noch am Ende des Tages, was ich da eigentlich mache. Mein Beruf macht mir so viel Spaß, das kann doch kein richtiger Beruf sein, ich müsste doch etwas körperlich Anstrengendes arbeiten. Irgendwas stimmt da nicht, glaube ich dann. Irgendwann wache ich aus diesem Traum auf.“
Warum ist es für dich wichtig, eine gute Vereinbarkeit dieser Bereiche hinzukriegen?
„Weil sonst eine ewige Zerrissenheit bleibt, die unnötig Kapazitäten frisst.“
Muss man immer alles miteinander vereinbaren?
„Als ich Anfang des Jahres mein eigenes Medium ,die_chefredaktion‘ gestartet habe, ist einer meiner größten Träume in Erfüllung gegangen, ohne, dass ich vorher wusste, dass das einer meiner größten Träume ist. Jungen Menschen zu ermöglichen, Journalismus zu machen, ohne dass sie vorher gratis Praktika mit Kaffee holen durchmachen müssen, oder einen Patenonkel in der Chefredaktion brauchen, ist unglaublich wichtig. Das zeigt mir, dass ich ohne meine eigene Sozialisation womöglich gar nicht sensibilisiert dafür gewesen wäre und das Medium nicht gegründet hätte.“
Welche (politischen) Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die individuelle Vereinbarkeit besser gelingen kann? Was fehlt für dich konkret?
„Kinder aus unteren sozialen Schichten sollten von den Bildungsinstitutionen dieselben Voraussetzungen zur Verfügung gestelt bekommen, wie Kinder aus Akademiker*innenfamilien von ihren Eltern ohnehin erhalten. Sie sollten lernen zu träumen. Theater-, Musik-, Sportpädagogik – alles sollte von kleinauf erleb- und erfahrbar für sie sein und nicht vom Elternhaus abhängen. Ihre Welt sollte nicht begrenzt sein.“
Hilke aka Mama Ante Portas
Hilke ist 34 Jahre alt, Mutter eines Sohnes und zur Zeit schwanger mit dem zweiten Kind. Sie arbeitet im sozialen Bereich und und schreibt bei Instagram als mama.ante.portas über Mutterschaft, Trauer, Fürsorge und Homemaking.
Was musst oder willst du in deinem Leben miteinander vereinbaren?
„Neben Familie und Beruf muss ich auch noch eine chronische Erkrankung und die Nachwirkungen einiger großer Schicksalsschläge miteinander vereinbaren. Das erwähne ich ganz bewusst, weil es Faktoren sind, die man in der Leistungsgesellschaft gefälligst zu unterdrücken oder wegzuoptimieren hat. Dabei sind sie für viele Menschen etwas, das bleibt und auch langfristig erheblich viel Energie kostet. Neben diesen unverhandelbaren Fixpunkten wünsche ich mir Zeit für die Dinge, die mich wirklich glücklich machen. Allen voran ein nachhaltiger Lebensstil mit viel ,Homemaking‘, also Gärtnern, Kochen, Stricken und den Aufbau einer verlässlichen lokalen Gemeinschaft. Fürsorge- und Haushaltstätigkeiten sind für mich tatsächlich eine Form von Selbstfürsorge und keine lästige Notwendigkeit, die ich gern auslagern würde. Vielleicht stört es mich deshalb so sehr, dass ich sie oft nur mit halber Kraft erledigen kann.“
Wo und wann stößt du in deinem Alltag auf Schwierigkeiten beim Versuch, diese Dinge miteinander zu vereinbaren?
„Tagtäglich. Aber vor allem in Mental-Load-,Stoßzeiten‘ wie der Vorweihnachtszeit, während akuten Schüben meiner chronischen Erkrankung oder bei jedem kläglichen Versuch, meinen Interessen und Bedürfnissen endlich einen festen Platz in meinem Leben einzuräumen.“
Warum ist es für dich wichtig, eine gute Vereinbarkeit dieser Bereiche hinzukriegen? Und muss man immer alles miteinander vereinbaren?
„Natürlich nicht. Nur ist Priorisierung selten eine Frage der persönlichen Selbstbestimmung, als vielmehr eine pure Überlebensstrategie, bei der Notwendigkeiten Vorrang haben und die eigenen Bedürfnisse in der Warteschleife steckenbleiben. Diese Schieflage ist auf Dauer für niemanden gesund.“
Welche (politischen) Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die individuelle Vereinbarkeit besser gelingen kann? Was fehlt für dich konkret?
„Ich glaube, ein großes Problem ist die Leistungs-und Konsumgesellschaft in Verbindung mit einem unmenschlichen Eigenverantwortungs-Mindset. Das übt nicht nur Druck auf uns auf bezüglich des individuellen Erfolgs, sondern nimmt uns auch Druck in Bezug auf gesellschaftliche Verantwortung. Die Privilegierten unter uns rühmen sich gerne mit grünen Konsumentscheidungen und spenden großzügig an Organisationen. Genau diese Leute haben aber weder Zeit noch Energie, um Nachbarschaftshilfe zu leisten, sich lokalpolitisch zu engagieren, öfter mal die Kinder von Freund*innen zu betreuen oder Dinge zu reparieren, anstatt sie neu zu kaufen. Und gleichzeitig fehlt uns allen das ,Dorf‘.
„Konkret wünsche ich mir […] eine menschliche, familienfreundliche Arbeitswelt, in der Krankheit, längere Elternzeit oder persönliche Krisen keine Minuspunkte sind.“
Konkret wünsche ich mir einen deutlich höheren Mindestlohn, ein Ausgleichsgehalt für Alleinerziehende, ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine menschliche, familienfreundliche Arbeitswelt, in der Krankheit, längere Elternzeit oder persönliche Krisen keine Minuspunkte sind. Diese Dinge sollten selbstverständliche Anteile jedes Lebens sein, die offen thematisiert und ganz selbstverständlich mitgetragen werden können. Und von allen unter uns, die Ressourcen dafür haben, wünsche ich mir, öfter mal über die Frage nachzudenken, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Inwiefern haben wir kapitalistische Werte verinnerlicht und auf welcher Basis treffen wir unsere alltägliche Entscheidungen? Oft ist Spielraum da. Und wenn wir ihn haben, können wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere etwas verbessern. Das ist eine schöne Kettenreaktion.“
Luisa Hanke
Luisa Hanke ist alleinerziehende Mutter und Unternehmerin. Sie hat Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Gender Studies studiert und ist systemische Personal- und Business-Coachin. Seit Jahren arbeitet sie zu der Stellung von Frauen und Müttern in unserer Gesellschaft. 2018 hat sie das Vereinbarkeits LAB gegründet. Damit sollen Unternehmen für Familienfreundlichkeit beraten und Mütter bei ihren familienfreundlichen Karrieren unterstützt werden. In Wiedereinstiegs- und Karrierecoachings, aber auch mit Bewerbungstrainings will sie Frauen unterstützen, die sich berufliche Erfüllung, Erfolg und Vereinbarkeit wünschen.
Was musst oder willst du in deinem Leben miteinander vereinbaren?
„Ich bin alleinerziehende Mutter und vereinbare einerseits mein Familienleben, die Haus- und Carearbeit mit meiner Selbstständigkeit als Karriere- und Bewerbungscoachin für Mütter, aber auch mit Zeit für mich und Selbstfürsorge. Meine berufliche Entfaltung war mir immer sehr wichtig, einerseits weil meine Berufe mich immer erfüllt haben, andererseits weil mir als Alleinverdienerin finanzielle Unabhängigkeit sehr wichtig ist. Bisher konnte ich diese Bereiche gut miteinander vereinbaren, aber ich habe mir von Anfang an Unterstützung geholt: Meine Eltern haben feste Großelterntage, meine Freund*innen greifen mir unter die Arme, phasenweise investiere ich in Babysitter*innen und Putzhilfen. Für mein mentales Wohlergehen lasse ich mich von Therapeut*innen begleiten.“
Wo und wann stößt du in deinem Alltag auf Schwierigkeiten beim Versuch diese Dinge miteinander zu vereinbaren?
„Immer dann, wenn ich meine, alles alleine schaffen zu müssen und mir nicht ganz bewusst Zeit für mich zum Regenerieren einplane. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir ausbrennen, wenn wir meinen, Familie und Beruf alleine unter einen Hut bringen zu müssen. Hand aufs Herz: Sowohl zahlreiche Studien als auch meine jahrelange Arbeit mit Müttern zeigen, wie sehr in Deutschland noch der aufopfernde Mütter-Mythos vorherrscht. Ein Großteil der Mütter übernimmt das meiste der Haus- und Carearbeit, selbst wenn sie in Vollzeit arbeiten. Das ist eine enorme Doppelbelastung und nicht lange auszuhalten.“
Warum ist es für dich wichtig, eine gute Vereinbarkeit dieser Bereiche hinzukriegen?
„Weil ich es liebe, erwerbstätig zu sein. Durch meinen Beruf trage ich zu einem gesellschaftlichen Wandel bei und bestärke andere Menschen. Außerdem liebe ich es, Mutter zu sein und dieses faszinierende, wundervolle Wesen, das meine Tochter ist, zu begleiten. Auch meine Freizeit liebe ich – die Zeit der Stille, in der ich mich meinen Interessen, meinem Innenleben und meinem Wachstum hingeben kann. Ich möchte mich in diesen verschiedenen Lebensbereichen entfalten können und mein Sein, meine Bedürfnisse, Wünsche und Träume wertschätzen.“
Muss man immer alles miteinander vereinbaren?
„Nein. Wir dürfen lernen, Prioritäten zu setzen und bewusst zu handeln. Meine Priorität ist beispielsweise nicht die Hausarbeit, auch wenn ich mir ein schönes, sauberes Zuhause wünsche. Als Alleinerziehende könnte ich jeden Tag stundenlang den Haushalt schmeißen. Wenn ich die finanziellen Mittel habe, investiere ich in eine Putzhilfe und gebe Arbeit ab. Wenn ich sie nicht habe, priorisiere ich. Dann schaue ich, was liegenbleiben kann, welche Arbeitsschritte ich bündeln kann und setze mir klare Zeiten, sodass ich danach wiederum freie Zeit habe. Diese Planung und Disziplin schenkt mir Freiheit. Es geht hier gar nicht so sehr um Selbstoptimierung, sonder mehr darum, in allen Lebensbereichen bewusste Entscheidungen zu treffen.
„Wir können klar definieren, was wir vereinbaren wollen, welche Rahmenbedinungen wir uns wünschen und wir dürfen Arbeit und Verantwortung abgeben.“
Entscheiden sich Mütter dazu, zu Hause zu bleiben und sich auf die Familie zu fokussieren, dann ist das in Ordnung. Es sollte allerdings wirklich ihr Wunsch sein und nicht aus einem ,Gute-Mutter-Komplex‘ heraus entstehen. Mütter sollten ihre Entscheidungen nicht nur nach dem Besten ihrer Kinder ausrichten, sondern auch sich selbst das Beste zugestehen. Ich habe viele Mütter in meinen Bewerbungstraings und Wiedereinstiegscoachings, die sagen: ,Wenn ich es mir zugetraut hätte, wäre ich niemals so lange in Elternzeit gegangen, denn ich mag meine Arbeit‘. Mein Fazit: Wir können klar definieren, was wir vereinbaren wollen, welche Rahmenbedingungen wir uns wünschen und wir dürfen Arbeit und Verantwortung abgeben.“
Welche (politischen) Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die individuelle Vereinbarkeit besser gelingen kann? Was fehlt für dich konkret?
„Ich wünsche mir eine Reform des Ehegattensplittings. Nicht nur die Ehe und das Zuverdiener*innenmodell, beziehungsweise das Zuhausebleiben der Frau, sollten gefördert werden, sondern alle Familienformen. Eine faire Besteuerung wäre ein wichtiger Schritt. Gerade auf den Schultern von Alleinerziehenden, bei denen der andere Elternteil nicht zahlt – wie bei mir – lastet eine enorme finanzielle Last. Außerdem wünsche ich mir mehr Gleichstellung in Familien und im Beruf und dazu braucht es aktivere Väter. Die klassischen zwei Monate Elternzeit, die die meisten Väter höchstens nehmen, sind hier nicht ausreichend. Auch Sichtbarkeit und Wertschätzung für die Bedürfnisse von Alleinerziehenden sind sehr wichtig.“
Lisa Zaiser
Lisa Zaiser gab 2019 ihren Sales-Job bei der Beauty-Plattform Treatwell auf und gründete Dear Darling Berlin, ein Label für eine verantwortungsvolle Schmuckherstellung. Schmuck verbindet für Lisa Zaiser Menschen und Emotionen. Für Dear Darling Berlin stellen die Transparenz von Lieferketten, die Garantie sicherer Arbeitsbedingungen und die faire Bezahlung aller Beteiligten große Herausforderungen dar.
Was musst oder willst du in deinem Leben miteinander vereinbaren?
„Ich habe mein Schmucklabel Anfang 2020 gegründet, während ich noch Vollzeit als Teamlead in einem anderen Unternehmen angestellt war. Damals habe ich versucht, meine Festanstellung und meine neue Selbstständigkeit miteinander zu verbinden. Das ging ein paar Monate lang gut, aber dann wurde mir der Spagat zu groß. Ich merkte, dass mein junges Unternehmen weniger Aufmerksamkeit von mir bekam, als es verdiente. Also entschied ich mich, meinen sicheren Hafen zu verlassen und mich ganz auf Dear Darling Berlin und ein weiteres Familienbusiness, gemeinsam mit meinem Mann Jan, zu konzentrieren.
„Ich möchte in meinem Leben Zeit haben zu lernen, zu wachsen, zu reisen und die Welt zu entdecken, aber auch einfach mal nichts zu tun und innezuhalten.“
Auch wenn es heute nicht mehr Vollzeitjob und Selbstständigkeit sind, gibt es jetzt andere Dinge, die ich vereinbaren möchte. Im Moment versuche ich als Gründerin meinen eigenen Rhythmus im Alltag zu finden – eine Vereinbarkeit zwischen privat und beruflich, aber auch zwischen ‚irgendwie allem’ und ‚mir selbst‘. Aktuell möchte ich in erster Linie eine gute Unternehmerin sein, die ihr Business nachhaltig, mit Herz und Verstand aufbaut. Dafür erhalte ich viel Zuspruch und Unterstützung von meiner Familie und meinen Freund*innen – und auch Verständnis, da die Zeit mit ihnen dafür manchmal zu kurz kommt. Ich möchte in meinem Leben Zeit haben zu lernen, zu wachsen, zu reisen und die Welt zu entdecken, aber auch einfach mal nichts zu tun und innezuhalten.“
Wo und wann stößt du in deinem Alltag auf Schwierigkeiten beim Versuch, diese Dinge miteinander zu vereinbaren?
„Gerade befinden wir uns in einer super aufregenden Phase. Mein junges Unternehmen wächst, es kommen mehr Anfragen, Projekte, Finanzierungen, Rechtsformen, Mitarbeiter*innen – es macht großen Spaß, aber all das beschäftigt mich quasi 24/7. Es fällt mir noch sehr schwer, Business-Themen loszulassen, den Laptop abends zuzuklappen und mir Zeit für mich oder Freund*innen und Familie zu nehmen. Wenn sich irgendwo zehn Minuten ‚Freizeit‘ ergeben, nutze ich diese, um doch noch ein paar Mails oder WhatsApp-Nachrichten zu beantworten. Abends auf der Couch bearbeite ich oft noch Bilder mit Photoshop, schreibe Newsletter, Produkttexte oder begleiche Rechnungen bis spät in die Nacht. Ich muss noch daran arbeiten, den Workload richtig aufzuteilen und zu priorisieren, was nun dringend und wichtig ist, und was warten kann. Ich sollte mir Ruhepausen gönnen und wieder mehr Verabredungen zum Kaffeetrinken oder nach der Arbeit mit meinen Freund*innen vereinbaren.“
Warum ist es für dich wichtig, eine gute Vereinbarkeit dieser Bereiche hinzukriegen?
„Ich merke, dass ich kreativer bin, mehr Energie habe und es mir einfach insgesamt besser geht, wenn ich ausgeglichen bin. Und diese Ausgeglichenheit entsteht für mich aus einer guten Vereinbarkeit von Job, Familie, Freund*innen, Hobbys und Zeit für mich.”
Muss man immer alles miteinander vereinbaren?
„Ich finde es vollkommen in Ordnung, wenn es auch mal Phasen im Leben gibt, in denen die Vereinbarkeit verschiedener Bereiche nicht umsetzbar ist. Es gibt nichts Schlimmeres, als zu versuchen, alles gleichzeitig zu schaffen und immer hin- und hergerissen zu sein, weil man nicht jeder Verpflichtung nachkommen kann. Meiner Meinung nach ist es besser, sich temporär auf ein Projekt zu konzentrieren und sich diesem mit voller Aufmerksamkeit und Energie zu widmen – natürlich mit Pausen, um wieder aufzutanken!“
Welche (politischen) Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die individuelle Vereinbarkeit besser gelingen kann? Was fehlt für dich konkret?
„Unternehmen müssen mit Unterstützung der Politik Rahmenbedingungen schaffen, die es jeder*m ermöglichen, die Dinge zu vereinbaren, die ihm*ihr wichtig sind. Da geht es zum Beispiel um die Möglichkeit, Home Office zu integrieren oder Elternzeit zu nehmen. Nach diesen Maßstäben möchte auch ich mein Unternehmen aufbauen. Familie, Hobby und Unternehmen sollen Hand in Hand gehen und sich nicht gegenseitig ausschließen.“
Diese Interviews erschienen erstmals bei EDITION F plus im Oktober 2021.