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Naika Foroutan: „Die Gleichheitsfrage ist eine der radikalsten Fragen unserer Menschheitsgeschichte“

Die Migrationsforscherin Naika Foroutan spricht im Interview über die Wut der migrantischen Communitys, warum man sich liberal gibt und das eigene Kind trotzdem nicht auf die Kiezschule schickt – und über ihren Wunsch nach einer neuen Partei, die die Themen Rassismus und Chancengleichheit endlich ernst nimmt. Ein Interview von Carmen Maiwald und Lisa Seelig.

Warum werden Gleichheitsfragen migrantischer Kinder oder Schwarzer Menschen häufig als Befindlichkeiten abgetan und nicht als das anerkannt, was sie sind? Nämlich ein Hinweis auf sozialstrukturelle Ungleichheit. „Auch bei diesen Menschen geht es ganz einfach um die Forderung nach Gleichheit, und zwar auf allen Ebenen – politisch, rechtlich, symbolisch“, sagt Naika Foroutan. Die öffentliche Debatte um Identitätspolitik wird immer schärfer, immer aggressiver, immer akademischer. Ist die Debatte um Identitätspolitik wirklich eine, die uns als Gesellschaft spalten muss? Nein, sagt Foroutan – aber sie müsse unbedingt geführt werden.

Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Berliner Humboldt-Universität. Außerdem baute sie das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung mit auf und ist Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Ihre Themen sind: Migration und Integration, Islam- und Muslimbilder in Deutschland, Identität und Hybridität, politischer Islam und gesellschaftliche Transformation von Einwanderungsländern.

Frau Foroutan, zur anstehenden Bundestagswahl haben Vertreter*innen der Grünen schon vor einigen Monaten eine Initiative für ein Ministerium für Chancengleichheit vorgestellt. Haben Sie grundsätzlich die Hoffnung, dass sich nach der Wahl etwas ändern wird, dass beim Kampf gegen Rassismus und dem Kampf für Chancengleichheit etwas vorangeht?

„Das wäre unbedingt ratsam. Die Frage nach Gleichheit und Diversität muss meiner Ansicht nach ebenso radikal angegangen werden wie die Klimafrage. So wie die Klimafrage werden auch die Themen soziale Ungleichheit und Anerkennungsdefizite, oder wenn wir es konkreter machen wollen Rassismus, das nächste Jahrzehnt bestimmen. Ich sehe hier Parallelen zu den jungen Menschen von ,Fridays for Future‘, die demonstrieren und sagen: ‚Ihr könnt so nicht mehr weitermachen‘. Die Menschen sind auch nicht mehr bereit, Rassismus hinzunehmen. Genauso, wie Menschen nicht mehr akzeptieren, dass ihrer Tochter aus sexistischen Gründen eine Position verwehrt wird. Viele Parteien denken allerdings, sie hätten Zeit, und kleine Bekenntnisse würden reichen. Das ist aber nicht so. Und ich würde den Grünen dringend raten, die Frage nach dem Umgang mit Rassismus ernst zu nehmen, denn keine andere Partei hat sie sich überhaupt offensiv gestellt; sie wird zu großen Teilen ignoriert, weil man weiß, dass man mit Antirassismus, Diversitäts- und Migrationsfragen keine Wahlen gewinnt.“

„Die Frage nach Gleichheit und Diversität muss ebenso radikal angegangen werden wie die Klimafrage.“

Sind Sie bereit, sich selbst zu engagieren für diese für Sie so wichtige Frage? Oder: Braucht es nicht vielleicht etwas konkretere Methoden, um Minderheiten zu unterstützen?

„Ich bin Professorin und Institutsleiterin, ich bin aber auch Bürgerin und politischer Mensch, und Mutter von drei migrantischen Kindern – und dementsprechend auch bereit zur aktivistischen Organisation. Und wenn die Grünen es nicht schaffen, die wichtigen Fragen anzugehen, wird es endlich Zeit für eine Partei, die explizit die Belange von Migrant*innen in diesem Land ernst nimmt, also: eine neue Partei.“

„Die Frage zum Umgang mit Rassismus wird von der Politik zu großen Teilen ignoriert, weil man weiß, dass man mit Antirassismus, Diversitäts- und Migrationsfragen keine Wahlen gewinnt.“

Würden Sie eine Partei gründen?

„Es geht mir nicht alleine um die Frage der parteilichen Institutionalisierung. Rassismus in Deutschland ernst zu nehmen, bedeutet auch überparteilich zu denken, eine allgemeine Institutionalisierung der Rassismuskritik anzustoßen. Da kann auf vielen verschiedenen Ebenen angesetzt werden. Gleichzeitig spiele ich die Überlegung, eine Partei zu gründen immer wieder durch, aber mein Vertrauen, dass eine der etablierten Parteien das Thema irgendwann ernst nimmt und handelt, ist noch da. Wenn diesmal nach der Bundestagswahl nichts passiert, dann ist dieses Vertrauen auch bei mir weg. Wir warten schon so lange. Der Schwarze Intellektuelle James Baldwin hat Mitte der 1980er-Jahre gesagt: ,Ich bin nun 60 Jahre alt, meine Mutter hat schon gewartet, mein Vater hat gewartet, mein Onkel hat gewartet, meine Nichten und Neffen warten. Wie lange, denkt ihr, haben wir noch Zeit für euren Wandel?‘

Wenn die Grünen, oder die SPD, oder eine andere Partei, diese Fragen nicht ernst nehmen, bin ich ziemlich sicher, dass es zu sozialen Protesten kommen wird und dass sich die Lage ähnlich wie in Frankreich, wo der soziale Zusammenhalt zerbricht, verschärfen wird. Wenn man das zu deutschen Politiker*innen sagt, denken sie, man wäre alarmistisch. Das liegt daran, dass deren Kinder nicht die Schulen unserer Kinder besuchen – sie wissen einfach nicht, wovon sie sprechen.“

In Ihrer Arbeit taucht immer wieder der Begriff der „postmigrantischen Gesellschaft“ auf, können Sie erklären, was das bedeutet?“

„Dieser Begriff will sagen: Wir sind hier nicht mehr nur die Fremden, die dazugekommen sind, sondern wir prägen als Migrant*innen und Nachkommen von Migrant*innen schon lange auch das, was deutsche Identität genannt wird. Die Theatermacherin Shermin Langhoff hat den Begriff stark geprägt und gesagt: Eigentlich sind wir keine Migrant*innen mehr, wir sind Postmigrant*innen. Anlehnend daran vertieft meine Arbeit die Analyse und beschreibt eine neue Form von gesellschaftlicher Aushandlung mit neuen Akteurskonstellationen, die Gleichheit deutlicher einfordern und damit etablierte Privilegien teilweise offensiv in Frage stellen. Manche Marginalisierte koalieren dabei an unterschiedlichen Schnittstellen von Antirassismus, Antisexismus und Klassenbewusstsein. Manche Etablierte gehen hier mit und es kommt zu neuen postmigrantischen Allianzen.“ 

„Wir sind hier nicht mehr nur die Fremden, die dazugekommen sind, sondern wir prägen als Migrant*innen und Nachkommen von Migrant*innen schon lange auch das, was deutsche Identität genannt wird.“

Was zeichnet die postmigrantische Gesellschaft aus, in der wir hier in Deutschland leben? 

„Die Süssmuth-Kommission hat 2001 beschlossen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Damit sind wir in eine postmigrantische Phase getreten. Denn ab diesem Moment ist das Versprechen in die Gesellschaft gegeben worden, dass Migrant*innen und ihre Nachkommen gleiche Rechte und gleiche Teilhabemöglichkeiten haben sollen. Eine postmigrantische Gesellschaft ist eine, die unbeachtet der Herkunft den Menschen Gleichheitsrechte verspricht – und zwar nicht nur auf einer moralischen, vorpolitischen Ebene. Sondern konkret, politisch und rechtlich. Diese versprochene Gleichheit muss allerdings weiter ausgehandelt und konkretisiert und täglich erkämpft werden, aber man hat seither eine politische Legitimation diese zu erkämpfen und eben nicht nur eine moralische. Das führt zu starken kompetitiven Aushandlungen und deswegen ist eine postmigrantische Gesellschaft auch von Konflikten geprägt.“

Wie sehen diese Konflikte konkret aus und wo stehen wir aktuell in den Verhandlungen?  

„Die Fragen von Diversität, Vielfalt, Zugehörigkeit, Abgrenzung werden sehr viel offensiver auf allen Positionen ausgehandelt. Denn wir haben jetzt schon 26 Prozent Personen mit Migrationshintergrund in diesem Land, aber wichtiger noch: Wir haben 40 Prozent Schulkinder mit Migrationshintergrund. Also eine Generation, die bald wählen geht und die dementsprechend noch stärker kritisch teilhaben kann. Außerdem wird die Diversitätsfrage auch in der Genderdebatte gestellt und in der Frage der gerechten, ökonomischen Teilhabe, sowie in der Klimagerechtigkeit. Diese Kämpfe verzahnen sich.“ 

In ganz unterschiedlichen Milieus, bemerkt man aber doch weiterhin so unglaublich viele Ressentiments und rassistisches Verhalten gegenüber migrantischen Menschen. Eltern, die ihr Kind nicht auf die Kiezschule schicken wollen, weil „die Mischung nicht stimmt“. Das alles erscheint wie riesige Hindernisse, um eine postmigrantische Gesellschaft zu verwirklichen. 

„Das erscheint aber nur so, wenn Sie die postmigrantische Gesellschaft als eine Utopie verstehen. Als eine Gesellschaft, in der im Grunde alle Teilhaberechte erreicht sind. Das ist aber nicht damit gemeint. Es ist im Grunde eine Zustandsbeschreibung, die davon ausgeht, dass die Unterscheidung zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen immer unschärfer wird. Das was Sie beschreiben, diese Form von Abwehr ist ja interessanterweise eine, die wir auch bei aufsteigenden Migrant*innen, bei einem Teil der ersten Generation oder der bereits hier Gewesenen beobachten können, die sich in Umfragen auch überraschend flüchtlingsfeindlich geäußert haben.“

„In der postmigrantischen Gesellschaft sind keine klaren Trennlinien mehr erkennbar. Da sind Migrant*innen auf der rassistischen rechten Position, Juden in der AfD oder Feminist*innen radikal feindselig gegen gläubige Muslima.“

Worauf wollen Sie hinaus?

„Das zeigt, dass man nicht automatisch darauf schließen kann, dass da eine Solidarität auf der Ebene wirkt: Du bist Migrant*in, du musst doch selber wissen, wie es ist, hierhergezogen zu sein. Die postmigrantische Gesellschaft ist eben eine vermischte Gesellschaft. Da sind nicht mehr die klaren Trennlinien erkennbar. Da sind Migrant*innen auf der rassistischen rechten Position, Juden in der AfD oder Feminist*innen radikal feindselig gegen gläubige Muslima. Und auf der anderen Seite sind alte, weiße katholische Priester in der Willkommenskultur aktiv und konservative Bayern in der Geflüchteten-Arbeit. In der postmigrantischen Gesellschaft verändern sich die Kategorien und Konstellationen sehr stark, deswegen ist es auch eine Aushandlungsgesellschaft. ,Wer ist wer?‘, ist eine große Frage, die sich zunehmend anhand der Haltung definiert.“ 

Auch eine große Frage ist: „Wie rassistisch bin ich selbst?“ Die Antirassismus-Debatte fordert Weiße dazu auf, sich ihrer unbewussten rassistischen Vorurteile zu stellen. Wieso ist das wichtig?

„Zunächst ist wichtig zu verstehen: Rassismus ist ein Konzept, das unterschiedliche Dimensionen umfasst. Es feuert sowohl auf persönlichen, psychologischen Ebenen als auch sozialen, strukturellen und politischen Dimensionen. Auf der personalen Ebene können sowohl Angehörige von Mehrheiten als auch Minderheiten rassistische Aussagen tätigen und empfinden. Psychologisch ist das wirksam – ganz gleich, ob Sie nun zu einer marginalisierten Gruppe gehören oder nicht. Wenn Sie als weiße Deutsche als ,Schweinefleischfresserin‘ bezeichnet werden oder als ,Schlampe‘, dann ist das auf dieser persönlichen Dimension ein rassistischer Akt. Es ist eine Abwertung, ein Angriff, eine Kränkung und Beleidigung, die Sie und die soziale Gruppe, zu der Sie aufgrund Ihrer Herkunft geschoben werden, adressiert. Aber soziologisch entwickelt Rassismus seine Folgen erst über die Machtdimension. Beleidigungen können sehr wirksam sein, aber Rassismus ist etwas, das die Macht hat, gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Wenn jemand ,Schweinefleischfresser‘ zu jemand anderem sagt, in Deutschland, so ist das eine massive Abwertung und auch ein Angriff – aber es hat keine strukturellen Folgen und führt nicht dazu, dass Deutsche einem Racial Profiling ausgesetzt sind oder Jobs nicht bekommen, weil sie Schweinefleisch essen.“

Wo also ist der Übergang von Beleidigungen zu Rassismus?

„Rassismus entfaltet seine Wirkung dort, wo er bei den hegemonialem Mehrheiten platziert ist. Das heißt, wir können zwar genauso Rassismus sehen von Türkeistämmigen gegenüber Syrer*innen oder Kurd*innen oder von Iraner*innen gegen Afghan*innen, nur: Wenn wir diesen Rassismus in Deutschland beobachten, ist es auf einer emotionalen Ebene rassistisch gemeint und verletzend – es hat aber keinen strukturellen Effekt. Es hat natürlich sehr wohl einen persönlichen Effekt, der dramatisch sein kann. Schauen wir jedoch in die Türkei oder Iran – da ist dieser Effekt von Rassismus strukturell wirkmächtig. Er schließt beispielsweise die rassifizierten Gruppen aus Schulen, Parteien oder von fairer Arbeit aus. Ein Beispiel kann das ganz gut erklären: Schüler*innen können gegenüber Lehrer*innen sehr kränkend und verletzend, sogar respektlos oder vielleicht auch persönlich rassistisch sein. Aber am Ende geben sie nicht die Noten. Es sind die Lehrkräfte, die strukturell über den Lebensweg der Schüler*innen entscheiden. Das heißt, die Folgen von Rassismus sind dort nachhaltig, wo Rassismus über strukturelle Positionen und Lebenswege entscheiden kann.“

Und was bedeutet das für die Beschäftigung mit dem eigenen Rassismus?

„Natürlich kann Rassismus als Hierarchisierungsgefühl bei allen Menschen vorhanden sein, auch bei ,Guten‘. Struktureller Sexismus oder Rassismus sind vielleicht unsichtbarer, aber sehr viel machtvoller als offener, emotionaler Rassismus. Wobei dieser Alltagsrassismus Menschen auch ihr Leben lang verletzen, kränken und verunsichern kann und somit natürlich auch Folgen hat. Die Auseinandersetzung von Weißen beziehungsweise der nicht-rassifizierten Mehrheitsgesellschaft mit Rassismus, auch mit eigenen rassistischen Denkweisen, ist deshalb wichtig, weil Rassismus eine Normalität darstellt. Rassistische Unterscheidungen, Einteilungen und Wahrnehmungen sind unabhängig von individuellen Absichten und werden gesamtgesellschaftlich erlernt. Mein Kollege Mark Terkessidis spricht hier zurecht von rassistischem Wissen. Es ist wichtig, diese Normalität infrage zu stellen. Und da merken wir gerade alle, wie schwierig und kränkend es für manche ist, sich damit auseinanderzusetzen, dass man selbst Teil dieses Systems ist.“

„Man kann noch so oft behaupten, Hautfarben würden doch gar keine Rolle spielen – die strukturellen Unterschiede verschwinden nicht einfach nur, weil manche Menschen persönlich glauben colourblind zu sein.“

Die Debatte um Identitätspolitik wurde zuletzt wieder ziemlich verbittert geführt, gerade auch innerhalb der SPD – Sie verfolgen diese Debatte schon seit vielen Jahren kritisch. Wie finden Sie es, wenn die SPD anscheinend nicht anerkennen will oder kann, dass der Kampf für soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit nur gelingen kann, wenn man intersektional denkt und etwa das Thema Rassismus in diesen Kampf integriert?

„Diese Debatte kocht seit Jahren immer wieder hoch – immer mit den gleichen, bruchstückhaften Argumenten. Ich habe mir neulich nochmal den Dokumentarfilm „I am not your Negro“ angesehen. Ein ganz wichtiger Moment für mich ist darin diese Stelle: Der Schwarze Schriftsteller James Baldwin spricht über Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen, und ein anderer, weißer Intellektueller entgegnet ihm: ,Warum betonen Sie immer Ihr Schwarzsein – Sie haben doch als Schwarzer Intellektueller viel weniger zu tun mit Schwarzen Arbeiter*innen, und viel mehr mit Leuten wie mir‘. Auf Deutschland übertragen: Eine weiße intellektuelle Person fühlt sich einem türkischen Zahnarzt viel näher als einem ,deutschen‘ Hartz-IV-Empfänger aus einem sozialen Brennpunktviertel. Man ethnisiere sich also künstlich, wenn man die Schwarze oder migrantische Identität betone.”

… womit der Kern des Problems verdrängt oder ignoriert wird …

„Ja – die Antwort von James Baldwin ist: Mag sein, dass wir uns in bestimmten sozialstrukturellen Fragen und darin, wie wir die Welt sehen, ähnlicher sind – aber ich als Schwarzer, egal, ob Arbeiter oder Intellektueller, muss zum Beispiel Angst haben, von der Polizei getötet zu werden – und Sie nicht. Es gibt also einen existentiellen Unterschied, der nicht aufgelöst werden kann. Und solange es Rassismus gibt, muss ich meine Position als Schwarzer betonen. So lange, bis weiße Menschen verstehen, dass die Erzählung von vermeintlicher ,Color-Blindness‘ nichts bringt: Man kann noch so oft behaupten, Hautfarben würden doch gar keine Rolle spielen – die strukturellen Unterschiede verschwinden nicht einfach nur, weil manche Menschen persönlich glauben colourblind zu sein. Sie verschließen die strukturelle Ungleichheit hinter einem persönlichen Gefühl.“

Und hier tritt die Debatte auch in Deutschland auf der Stelle …

„Immer wieder kommt dasselbe Argument: ,Race‘ und ,Gender‘ würden zu sehr die Diskursarena besetzen, während ,Class‘ nach hinten geschoben wird. Ein weiteres Argument, das immer kommt: Die vielen Einzelinteressen, die ins Spiel gebracht werden, würden nicht mehr ermöglichen, gemeinschaftlich im ,Wir‘ zu denken. Und drittens, immer wieder: Es drehe sich in der Debatte nur noch um persönliche Befindlichkeiten und individuelle Verletzungen.“

Was wird bei diesen Argumenten aus Ihrer Sicht übersehen, ignoriert?

„Ich finde das durchaus spannend: Wenn wir in den USA über die Arbeiter im ,Rust Belt‘, in Deutschland über ,den kleinen Mann‘, oder in Großbritannien über die ,White Working Class‘ sprechen: Die Sorgen und Bedenken dieser Leute werden immer als sozialstrukturelle Fragen verhandelt; wenn es aber um die Gleichheitsfragen von migrantischen Kindern und Schwarzen Menschen geht, dann sind das plötzlich Befindlichkeiten. Statt ,sozialstrukturelle Ungleichheitsfragen‘ heißt es auf einmal: ,Identitätspolitik‘. Dabei geht es auch bei diesen Menschen einfach um die Forderung nach Gleichheit, und zwar auf allen Ebenen – politisch, rechtlich, symbolisch.“

Warum finden auch linke Parteien keinen angemessenen Weg, im Kampf gegen soziale Ungleichheit das Thema Rassismus zu integrieren?

„Ich wundere mich, wie sehr das Thema bei den linken Parteien zu narzisstischen Kränkungen führt. Vielleicht ist das so, weil man dort nicht mehr so wohlwollend sein kann wie früher, nach dem Motto: Ich bin aber ein guter Weißer, der für die armen Schwarzen Kinder eintritt und nach Äthiopien spendet. Jetzt ist aber plötzlich das ,arme Schwarze Kind‘ SPD-Abgeordneter und ist möglicherweise kurz davor, die Position, die man selbst lange wollte, einzunehmen. Schauen wir mal auf die Personengruppe, die sich besonders stark gegen Identitätspolitik äußert: Das sind fast alles weiße Männer über 45. Ich will das nicht polemisieren, weil die Reaktion auch nachvollziehbar ist: Diese Leute sind ihr Leben lang den ,richtigen‘ Weg durch die Parteigremien gegangen, und plötzlich ändert sich der Zeitgeist, jetzt heißt es plötzlich: Irgendwie haben wir hier nur Männer, die so aussehen wie du, eine migrantische muslimische Frau bekommt jetzt diese Position – kurz bevor diese Leute also am Ziel sind wird ihnen aus Diversitätsgründen diese Frau vor die Nase gesetzt.“ 

„Man ist liberal, lebt gern in einem ,bunten‘ Viertel wie Berlin-Kreuzberg, aber dann entscheidet man sich doch dafür, das eigene Kind nicht auf die Kiezschule zu schicken – ,weil die Mischung nicht stimmt‘. In Wahrheit befürchtet man für das Kind einen Wettbewerbsnachteil.“

Sie können die Abwehr nachvollziehen?

„Es ist zumindest verständlich, dass diese Menschen Aggressionen entwickeln, obwohl die Entwicklung eigentlich ihren Prämissen entsprechen müsste. Hier sind wir wieder beim klassischen Beispiel: Man ist liberal, lebt gern in einem ,bunten‘ Viertel wie Berlin-Kreuzberg, aber dann entscheidet man sich doch dafür, das eigene Kind nicht auf die Kiezschule zu schicken – ,weil die Mischung nicht stimmt‘. In Wahrheit befürchtet man für das Kind einen Wettbewerbsnachteil. Die Gleichheitsfrage ist eine der radikalsten Fragen unserer Menschheitsgeschichte – und sie ist keine leichte Frage.“

In früheren Interviews sprachen Sie von „postmigrantischen Allianzen für eine neue Friedensbewegung“, und im gemeinsamen Buch mit Jana Hensel sagen Sie, dass die eine Sache, die sie sich neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit in der Zukunft für sich vorstellen könnten, die „Stärkung der Communitys“ sei …

„Es gibt diese postmigrantischen Allianzen bereits, viele Menschen sammeln sich in ihnen, und wir wissen, dass gerade die antirassistischen Bewegungen nicht nur aus Schwarzen und migrantisch gelesenen Menschen bestehen, im Gegenteil: Meine Generation ist großgeworden mit sozialen Protesten, bei denen vor allem eine weiße Mehrheitsgesellschaft aktiv war, sowohl in feministischen als auch in antirassistischen, friedensbewegten Protesten. Die Antifa ist fast ausschließlich weiß. Die Frage ist: Sind diese Personen bereit, den nächsten Schritt zu gehen? Wir brauchen sehr viele Menschen, die die Rassismusfrage wirklich ernst nehmen. Wenn das nicht passiert, gibt es immer noch die Communitys, und deren Wut braucht einen Kanal, damit sie nicht destruktiv wird. Und dieser Kanal muss  letztlich dann wohl die Entstehung einer neuen Partei sein, wenn die etablierten Parteien ihre Verantwortung nicht begreifen.“

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