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Sharon Dodua Otoo: „Veränderung entsteht durch persönliche Erzählungen“

Die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo kann sich vor Anfragen kaum retten – und lebt dennoch in ständiger finanzieller Unsicherheit, die sie nun auch öffentlich thematisiert. Ein Interview.

2016 gewann Sharon Dodua Otoo den Ingeborg-Bachmann-Preis, wurde dadurch einem breiten Publikum bekannt und zu einer nachgefragten Schriftstellerin. Dass diese Aufmerksamkeit nicht automatisch einhergeht mit ökonomischer Sicherheit und finanzieller Stabilität, können viele Menschen nicht nachvollziehen, sagt Otoo. Sie hat deshalb beschlossen, offen über ihre prekäre Situation zu sprechen und zu schreiben – zum Beispiel in dem vor einigen Wochen erschienenen Sammelband „Klasse und Kampf“, in dem Schriftsteller*innen sehr persönlich über ihre Erfahrungen mit Klassismus schreiben.

Lisa Seelig: Im Gegensatz zu Ihrem Geburtsort Großbritannien wird in Deutschland bis heute unter den Teppich gekehrt, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und eine bestimmte Schicht zunehmend abgehängt wird. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte der Soziologe Oliver Nachtwey: „Im Reinigungsgewerbe, in den Schlachthöfen, der Altenpflege und den Amazon-Lagern kreuzen sich Klasse, Geschlecht sowie Ethnie“ – warum fällt es der deutschen Gesellschaft so schwer, diese Tatsache anzuerkennen beziehungsweise daraus politische Konsequenzen zu ziehen?

Sharon Dodua Otoo: „In Großbritannien ist das Vorhandensein von Klassenzugehörigkeiten einfach eine Tatsache. Alle wissen das und sind nicht großartig davon beeindruckt, das ist nichts Negatives an sich. Als negativ empfunden werden die Ungerechtigkeiten, die damit einhergehen: dass manche Menschen privilegierter sind als andere. So wie es verschiedene Gender, verschiedene Nationalitäten gibt, gibt es eben auch verschiedene Klassenzugehörigkeiten. Bezogen auf Deutschland habe ich den Eindruck: Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Siegermächte das Land unter sich aufteilten, gab so etwas wie einen Neuanfang. Es gab die sogenannte Entnazifizierung, alles sollte wieder bei Null anfangen, und in dieser Vorstellung sollte es keine Diskriminierung und keine Unterschiede mehr geben; eine große Täuschung.“

Das hat nicht funktioniert …

„Einfache Tatsachen wurden nicht wirklich ernst genommen oder ignoriert: wie etwa die, dass manche Menschen ,in Geld geboren‘ werden und das weitergeben, und andere Menschen dazu natürlich nie in der Lage sein werden. Mitte der Neunzigerjahre haben die Pisa-Studien dann gezeigt, dass diese Ignoranz im Bildungssektor äußerst nachteilig für viele Kinder ist. Meiner Meinung nach entsprang diese Ignoranz einer bestimmten Vorstellung: Nämlich, dass zwei Elternteile in jedem Haushalt leben, und dass einer der beiden – für gewöhnlich der Mann – arbeiten geht, während der andere – in der Regel die Frau – mit den Kindern zu Hause bleibt und den Lernerfolg sicherstellt. Schulen waren nur bis mittags geöffnet, es gab Hausaufgaben, die dann noch zu Hause mit Unterstützung erledigt werden sollten. Das wäre nicht denkbar gewesen in Großbritannien (lacht), zumindest nicht da, wo und wie ich aufgewachsen bin. Dieses Alleinverdienermodell war im Großbritannien meiner Kindheit schon nicht mehr aktuell. Deutschland flog das im Bildungsbereich dann irgendwann um die Ohren, weil eben viele Kinder nicht diese imaginierte gutbürgerliche Herkunft hatten, wovon das Bildungssystem selbstverständlich ausging. Deutschland hing viel zu lange dieser Illusion nach.“

„Es ist lange, lange nicht verstanden worden, wie Rassismus fortwirkt in unseren Vorstellungen von: Wer ist zugehörig, wer ist kompetent, wer ist schön, wer führt ein lebenswertes Leben?“

Das Thema Identitätspolitik wird seit Jahren und zurzeit wieder besonders heftig diskutiert, gerade auch innerhalb der SPD … Wundert es Sie, dass die linken Parteien in Deutschland ein Problem mit dem Thema Identitätspolitik haben, anstatt sich zu bemühen, die Anliegen der betreffenden Menschen mit einzuschließen im „Klassenkampf“, der ja ein klassisches linkes Thema ist?

„Mein Eindruck ist, dass das stark mit einem fehlenden Verständnis von Rassismus zusammenhängt. Da wären wir wieder bei der ersten Frage: Nach 1945 war es ja verboten, Nazi zu sein, deswegen gab es keinen Rassismus mehr. Es ist lange, lange nicht verstanden worden, was Rassismus tatsächlich ist, und was weiße Vorherrschaft ist, wie diese fortwirkt in unseren Vorstellungen von: Wer ist zugehörig, wer ist kompetent, wer ist schön, wer führt ein lebenswertes Leben? Wenn Rassismus als Konzept nicht verstanden und nicht ernst genommen wird, werden Probleme immer nur individualisiert. Das Verständnis von Rassismus ist in Deutschland überwiegend: Eine Person macht vorsätzlich etwas Böses gegenüber einer anderen Person. Und das führt dazu, dass Rassismus in seiner Tiefe nicht ernst genommen wird. Das ist ein extrem mächtiges System, das seit mehr als 400, 500 Jahren existiert und weiterhin fortwirkt.“

Wie beeinflusst diese Ignoranz von strukturellem Rassismus die Debatte um Klassismus?

„Eine Sache, die Rassismus sehr gut kann (lacht), ist, so zu tun, als würde es ihn gar nicht geben. Das funktioniert dann besonders gut, wenn Menschen sich weigern, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Viele linke Menschen denken, dass sie per se nicht rassistisch sind, weil sie links sind, weil sie für die gute Sache sind, und weil sie erkannt haben wollen, dass Klasse das ist, was uns alle eint: Wir sind alle von Klassismus betroffen, wenn wir nicht gerade sehr reich sind, und nur wenn wir uns alle zusammentun, würden wir das System zu unseren Gunsten ändern. Dass das nichts anderes als eine Illusion ist, sehen wir in sozialistischen Ländern: Rassismus war und ist dort weiterhin Thema. Eine Vorstellung von Klassismus allein wird nicht ausreichen, um Machtgefälle und Unrechtssysteme auszuradieren. Das wissen wir eigentlich. Ich denke, dass es innerhalb der SPD ein fehlendes Verständnis davon gibt, wie struktureller Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft fortwirkt, und wenn es Debatten dazu gibt, dann fühlen sich zum Beispiel die weißen Männer ungerechterweise angegriffen, weil sie doch Schwarze Freunde haben, oder viel in Afrika gereist sind, oder, oder …“

Welches Weiterdenken fehlt hier aus Ihrer Sicht?

„Erstmal müssten Menschen verstehen, dass Rassismus ein Machtsystem ist, das von weißen Menschen erfunden wurde, um andere Menschen zu entmenschlichen, um aus diesen entmenschlichten Personen Kapital zu schlagen. Die Vorstellung, dass Schwarze Menschen keine echten Menschen wären, wirkt bis heute fort. Das erklärt zum Beispiel, was sich an den Außengrenzen der EU abspielt. Ein Kampf gegen Klassismus kann nur gut funktionieren, wenn möglichst viele Leute daran teilnehmen und diese verschiedenen Menschen sich mit der Sache identifizieren – weil sie sehen, dass auch sie gemeint sind. Wenn es immer nur um die Bedürfnisse von männlichen weißen Alleinverdienern geht, dann werden viele andere Menschen wegbleiben, weil die Schwerpunkte, die im Klassenkampf gelegt werden, sie nicht einschließen.“

„Viele Leute verstehen nicht, wie ich trotz meiner Zugehörigkeit zu einer ,kulturellen Elite‘ zu meinen finanziellen Schwierigkeiten komme.“

Sie schreiben über Ihre Kindheit in England: „Ich hatte die Codes nicht drauf“ – Ihre Eltern gehörten ökonomisch betrachtet zur Mittelklasse, kulturell eher zur „Unterschicht“. Nun gehören Sie in Deutschland mittlerweile zu einer Art „kulturellen Elite“, auf die Leute jenseits dieses Milieus teils mit Argwohn blicken und es als „abgehoben“ empfinden. Ökonomisch wiederum sind Sie weit entfernt von jeglicher „Elite“. Wie empfinden Sie es, sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen?

„Das ist schwierig. Ich äußere mich oft zu feministischen und rassismuskritischen Themen, zu Klassismus fast nie. Das hat damit zu tun, dass ich meine Rolle sehr zwiespältig sehe, mich nicht wirklich einordnen kann. Viele Leute verstehen zum Beispiel nicht, wie ich trotz meiner Zugehörigkeit zu dieser ,kulturellen Elite‘ zu meinen finanziellen Schwierigkeiten komme – und ich kann das sogar nachvollziehen, das ist auch schwer zu begreifen und daher schwer zu thematisieren. Ich kenne keine Person, die bisher öffentlich so direkt darüber gesprochen oder geschrieben hat, wie ich das in ,Klasse und Kampf‘ gemacht habe – ich habe mich ziemlich nackt gemacht.“

Können Sie die Situation, über die Sie schreiben, kurz skizzieren?

„Zu Beginn der Corona-Pandemie dachte ich: Ich habe keinen Plan, wie ich da durchkomme; ich habe keine Eltern, die in der Nähe wohnen, oder die mir Geld leihen, schenken oder vererben könnten, oder bei der Kinderbetreuung unterstützen könnten. Die engsten Freund*innen kämpfen genauso wie ich, um über die Runden zu kommen. Ich weiß bis heute nicht, welcher ein guter Weg wäre, um mit anderen Menschen darüber zu reden, was es bedeutet, in dieser Gesellschaft zu leben, in der Position in der ich bin: eine öffentliche Figur, die es anscheinend zu viel Erfolg und Ruhm gebracht hat – finanziell aber nichts davon merkt. Zumindest noch nicht.“

Was macht es so schwierig, offen darüber zu sprechen?

„Ich frage mich ständig: Wie schaffe ich es, über meine Situation zu sprechen, ohne mich zu blamieren – Scham spielt offensichtlich eine große Rolle. Aber wenn nur ich darüber spreche und andere nicht, bleibt es ein Einzelfall, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ein Einzelfall bin. Wobei ich verstehen kann, wenn es Menschen aus unterschiedlichsten Gründen nicht möglich ist, so offen über ihre Situation zu reden, wie ich das tue. Ich konnte das nur, weil ich wirklich verzweifelt war.

Während ich den Roman schrieb, der gerade erschienen ist, habe ich mir hier und da Geld ausgeliehen, in der Hoffnung auf eine entspanntere Situation, wenn das Buch fertig ist und die Lesungen losgehen. Bereits vor der Veröffentlichung gab es unheimlich viele Anfragen. Und immer wieder gibt es Anfragende, die selbstverständlich davon ausgehen, dass ich mich mit einem reduzierten Honorar zufrieden geben könnte, da sie selbst nicht so viel Budget zur Verfügung haben. Solche Anfragen kann es nur geben, wenn die Leute denken, ich könnte mir das leisten, auf ein angemessenes Honorar zu verzichten. Und es macht mich ziemlich wütend, dass ich mich so oft exponieren und meine Lage offenlegen muss, um ein Honorar zu bekommen, mit dem ich meine Miete zahlen, ein bisschen was für die Rente beiseitelegen und meine Kinder versorgen kann.“

„Unsere Gesellschaft hat verinnerlicht, dass eine Person selbst schuld ist, wenn sie arm ist.“

Sie schreiben in ihrem Essay: „Klasse verstellt den Blick auf mich. In den drei Jahren, in denen ich auf Transferleistungen angewiesen war, wurde ich von Beamt*innen, Sozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen und Lehrer*innen gleichermaßen verachtet. Ich wurde als migrantische, erwerbslose alleinerziehende Mutter mit Kindern von unterschiedlichen Vätern stigmatisiert.“ Woher, glauben Sie, kommt dieser abwertende Blick der deutschen Gesellschaft auf Menschen, die, so wie es Ihnen damals passiert ist, in Schubladen sortiert werden und auf die abfällig geblickt wird?

„Ich glaube, dass dieser abwertende Blick damit zusammenhängt, dass unsere Gesellschaft verinnerlicht hat, dass eine Person selbst schuld ist, wenn sie arm ist. Dass sie faul sein muss, denn wenn sie arbeiten würde, wäre sie nicht arm. Ich für meinen Teil arbeite sehr, sehr viel, und habe dabei das Gefühl, es ist relativ egal, was ich mache – mit reiner Lohnarbeit werde ich nie genug verdienen, um als alleinerziehende Mutter den Lebensunterhalt für mich und meine Familie zu bestreiten. Für mich war es irgendwann eine Befreiung, diese Tatsache einfach zu akzeptieren – um mich nicht weiter ständig selbst fertigzumachen. Ich habe akzeptiert: Ich werde aus der finanziellen Not in diesem Leben nur herauskommen, wenn etwas Bombastisches passiert.“

Sie berichten auch über Ihre eigene Scham, und dass Ihnen bewusst ist, dass Sie nur über Ihre Situation berichten können, und zur Solidarität aufrufen können, wenn sie sich selbst verwundbarer machen, bereit sind, sich bloßzustellen. Und Sie denken darüber nach, dass das womöglich ein notwendiger Schritt sei, um die Menschen zu erreichen. Dazu im Widerspruch steht der verständliche Wunsch vieler marginalisierter Menschen, nicht als „Erklärbär“ für die Mehrheitsgesellschaft dienen zu müssen – wie beurteilen Sie diesen Zwiespalt? Ist die persönliche Schilderung für Sie dennoch ein Schritt hin zu den „gemeinsamen Lösungen, um die Verletzlichsten unserer Gesellschaft zu schützen und ökonomische Gerechtigkeit einzufordern“, wie Sie schreiben?

„Ich sehe diesen Widerspruch auch: Menschen verstehen manches nur, wenn es ihnen auf einer persönlichen Ebene erzählt wird; marginalisierte Menschen wollen aber nicht ständig erzählen. Keine Person, die von Klassismus oder Rassismus betroffen ist, muss darüber reden. Zum Glück gibt es immer Menschen, die bereit sind, es zu machen. Das mag oft auch eine Phase sein: Heute rede ich offen darüber, und morgen oder nächste Woche habe ich keine Lust mehr, und dann machen es andere. Vielleicht fühlen sich Menschen durch meine Geschichte ermutigt, ihre eigene zu erzählen; vielleicht aber auch nicht.

Ja, es gibt diesen Widerspruch, den Sie beschreiben, aber mit rein wissenschaftlichen Abhandlungen über Klassismus oder Rassismus werden wir Menschen nicht erreichen. Veränderung findet nicht statt, weil Menschen etwas kognitiv verstanden haben, sondern vor allem, weil sie es emotional nachvollziehen können; und diese emotionale Verbindung entsteht nur durch eine persönliche Erzählung, das ist meine tiefste Überzeugung.“

Sharon Dodua Otoos Essay „Klassensprecher” ist erschienen im Sammelband „Klasse und Kampf“, herausgegeben von Christian Baron und Maria Barankow, Claassen Verlag, März 2021, 224 Seiten, 20. Euro.

Im Februar erschien Otoos Roman, „Adas Raum“, S. Fischer Verlag, 320 Seiten, 22 Euro.

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