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Lieber Sigmar Gabriel, ja, wir müssen über Leitkultur reden – aber anders

Sigmar Gabriel will, dass die SPD das Thema „Leitkultur” für sich erobert. Was aber war 2017 deutsche Leitkultur? Das fragt sich Helen diese Woche in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.

Jahresrückblick der deutschen Leitkultur

Sigmar Gabriel, momentan noch geschäftsführender Außenminister der Bundesregierung, will die SPD neu ausrichten. In diesem Zuge hat er diese Woche in einem Gastbeitrag für den Spiegel auch eine neue Auseinandersetzung der Sozialdemokraten mit den Begriffen „Heimat” und „Leitkultur” gefordert. Es geht ihm um den Anschluss an die traditionellen Milieus, den seine Partei wohl verloren hat. Es scheint ihn aber auch um Stimmenfang bei Wählern, die die etablierten Parteien an die AfD verloren haben, zu gehen. Darauf lassen die Begriff „Heimat” und „Leitkultur” schließen.

Na gut, reden wir also über deutsche Leitkultur im Jahr 2017. Der Duden definiert Leitkultur als „führende, zentrale Kultur”. Die deutsche Leitkultur ist spätestens, seit Friedrich Merz 2000 damit begann, ein beliebter Bezugsrahmen. Und ja, 2017, scheint das Jahr der deutschen Leitkultur zu sein. Widmete ihr der amtierende Innenminister Thomas De Maiziére im April doch einen gesamten Gastbeitrag bei dem deutschen Leitkultur-Blatt Nr.1, der Bild am Sonntag. Was aber bedeutet deutsche Leitkultur im Jahr 2017? Obwohl dieses Jahr auch viele gute Dinge passiert sind, ist die Antwort ist eine lange Negativ-Liste. Aber die Auseinandersetzung damit ist dringend nötig. Also, tief durchatmen.

Sexismus

Deutsche Leitkultur ist, dass es für Frauen immer noch strafbar ist, abzutreiben, denn Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, bleiben – unter bestimmten Umständen – im Jahr 2017 in Deutschland immer noch nur straffrei. Zur Leitkultur gehört auch ein Paragraph, 219a des Strafgesetzbuches, der ist Ärzten verbietet „Werbung” für Schwangerschaftsabbrüche zu machen, der es möglich macht, dass Abtreibungsgegner, eine Gießener Ärztin für Informationen über Schwangerschaftsabbrüche auf ihrer Webseite anzeigen können – und vom deutschen Gesetz Recht bekommen. Währenddessen setzen diese Abtreibungsgegner auf Webseiten wie „Babykaust.de” Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust gleich.

Deutsche Leitkultur 2017 schert sich nicht um Hebammen und sichere Geburten. Deutsche Leitkultur zeichnet dieses Jahr auch aus, dass die Ehe für Alle, nach jahrelangem Engagement von Aktivisten, erst kommt, nachdem die Kanzlerin, die sich auch 2017 nicht als Feministin bezeichnen will (und das leider zurecht), sich in einem Brigitte-Gespräch verplappert.

Deutsche Leitkultur ist ein Bundestag, der mit 30,7 Prozent den geringsten Frauenanteil seit 2002 aufweist. Deutsche Leitkultur ist auch ein Bundestag, in dem nur acht Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund haben. Deutsche Leitkultur sind männliche Bundestagsabgeordnete, die bei einem Videodreh über Sexismus im Bundestag, weiblichen Crewmitgliedern netterweise erlauben, „alles“ anzufassen. Das wichtigste Gut der deutschen Leitkultur scheint das gute alte Kompliment zu sein. 2017 ist gerade diese Tugend der Deutschen aber bedrohter denn je. Plötzlich darf man Kolleginnen nicht mehr sagen, dass sie schöne Beine haben, während sie ein Projekt präsentieren. Deutsche Leitkultur bedeutet auch 2017 noch politische Talkshows, in denen oft vier Männer einer Frau (oder wahlweise gar keiner Frau) die Welt erklären. Deutsche Leitkultur ist in der #metoo-Debatte vor allem eins: abwehrend.

Rassismus

Die deutsche Leitkultur 2017 will den Begriff „Heimat” als positiven Bezugsrahmen für uns Deutsche zurückerobern. Das forderte zum Beispiel die Grünen-Vorsitzende Katrin Göring-Eckardt für sie.

Deutsche Leitkultur heißt Nazis mit 13 Prozent im Bundestag. 2017 heißt deutsche Leitkultur auch, dass Asylsuchenden, noch vor einer Entscheidung über ihren Antrag, Geld angeboten wird, damit sie, ganz im Sinne der deutschen Leitkultur, zügig in ihre Heimatländer zurückkehren. Deutsche Leitkultur findet  aber auch nette Umschreibungen für diese „freiwillige Rückführung”: „StarthilfePlus”, „integriertes Rückkehrmanagement”„Dein Land. Deine Zunkuft. Jetzt!” Wenn der deutsche Staat mit einer Unternehmensberatung zusammenarbeitet, entsteht Poesie.

Deutsche Leitkultur ist mit Rechten reden. Deutsche Leitkultur heißt nicht, dass man die Namen der NSU-Opfer kennen muss. Deutsche Leitkultur ist sehr leise, wenn Geflüchtetenunterkünfte brennen. Wenn über 7.000 Neo-Nazis für ein Rechtsrock-Konzert zusammen kommen, an dem man sich zwar – ganz unddeutsch – nicht die Hand geben muss, der Hitler-Gruß aber zum guten Ton gehört. Deutsche Leitkultur sind ansteigende antisemitische Straftaten. Deutsche Leitkultur ist, dass man seit diesem Jahr im Online-Angebot des Duden das Wort „israelkritisch” nachschlagen kann, ohne jegliche antisemitische Einordnung. „nordkoreakritisch” oder „deutschlandkritisch” sucht man übrigens vergeblich. Deutsche Leitkultur ist nicht mehr „Nie wieder”.

Soziale Ungerechtigkeit

Deutsche Leitkultur 2017 ist das Festhalten am Ehegattensplitting, ein Gesetz, dass einer erstrebten Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit zwischen verheirateten und nicht verheirateten Paaren bzw. Alleinerziehenden diametral entgegensteht.

Deutsche, oder in diesem Fall nordrheinwestfälische Leitkultur ist, das Sozialticket des Nahverkehrs für Bedürftige zu streichen. Deutsche Leitkultur ist Reformen durchzusetzen, die Menschen in mehrere Minijobs zwingen – und dann zu behaupten, dass diese Menschen wohl nichts Anständiges gelernt hätten, sonst bräuchten sie schließlich keine drei Minijobs. Deutsche Leitkultur ist Armut auf einem neuen Höchststand. Deutsche Leitkultur ist ein Hartz IV-Satz von 291 Euro für Kinder zwischen sechs und 14 Jahren.

Deutsche Leitkultur ist struktureller Sexismus, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Insofern hat Sigmar Gabriel recht: Wir müssen dringend über deutsche Leitkultur sprechen.

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