Der Hype um das Stillen macht unsere Autorin wütend. Denn er marginalisiert nicht nur Familienkonzepte, er zementiert auch Geschlechterklischees. Ein Kommentar.
„Es ist einfach verrückt, was manche sich antun, nur um diesem Ideal zu entsprechen.“
Die Weltstillwoche fand bei mir vor allem auf Instagram statt. Unter dem Hashtag #weltstillwoche posteten bisher über 1.400 User*innen Beiträge, unter #stillenistliebe sind mehr als 20.000 Fotos und Texte zu finden. In meinem Feed sah ich daher immer mehr Fotos von Müttern und ihren stillenden Babys – während ich das anfangs gut fand und mich über den öffentlichen Raum für das Thema freute, wurde ich irgendwann erst traurig und dann wütend. Denn mit diesen Beiträgen wird nicht nur vermittelt, dass Stillen das vermeintlich Natürlichste und Beste für jedes Kind sei, sondern auch ein patriarchal geprägtes und konservatives Rollenbild der Mutter.
Im Geburtsvorbereitungskurs zeigte die Hebamme es uns ganz praktisch mithilfe einer Babypuppe. „Nach der Geburt sucht sich euer Baby den Weg zur Brustwarze und saugt daran“, erklärte sie uns und acht anderen werdenden Elternpaaren. Unsere Augen leuchteten hinter rosafarbenen Brillengläsern. Stillen, die natürlichste Sache der Welt. Natürlich wollte ich mein Kind stillen, natürlich wollte ich eine gute Mutter sein. Mir wurde suggeriert: Beides gehört zusammen. Dann kam meine Tochter zur Welt, durch einen Chromosomenfehler mehrfach behindert, sie musste direkt nach der Geburt auf die Intensivstation. Statt den Weg zu meinen Brustwarzen zu finden, war sie damit beschäftigt, atmen zu lernen. Ich war damit beschäftigt, in der Realität anzukommen.
„Muttermilch ist das Beste für das Kind“
Es folgten viel zu viele Wochen, in denen ich alle vier Stunden mit meinen Brüsten an einer Milchpumpe hing. „Muttermilch ist das Beste für das Kind“, sagten sie. Die Pfleger*innen und Ärzt*innen auf der Intensivstation bedankten sich für jede noch so kleine Menge Milch, die sie oder wir Eltern unserer Tochter durch eine Sonde in den Magen pumpten. Bis eine Hebamme irgendwann den erlösenden Satz sagte: „Schlaf mal durch, es ist auch wichtig, dass es dir gut geht.“ Ich stellte mir den Stillwecker nicht mehr nachts und schlief zehn Stunden am Stück durch.
Nach der Geburt meiner zweiten Tochter dann das Bilderbuch im Kreißsaal: Sie suchte und fand meine Brustwarze und machte sogar so was ähnliches damit wie saugen. Es ist also manchmal doch so, wie im Geburtsvorbereitungskurs beschrieben, dachte ich. Nur wenige Stunden später holte mich auch hier die Realität ein. Warum ich denn einen BH tragen würde und meine Tochter nicht an der Brust, schnauzte mich eine Krankenschwester an. Dass ich mich ausruhen wollte, zählte nicht. Schließlich müsse sie in ein paar Stunden meine Tochter wiegen und dann sollte sie auch zugenommen haben. Hätte ich in diesem stillfreundlichen katholischen Krankenhaus gesagt, dass ich nicht stillen möchte, ich wäre vermutlich gekreuzigt worden. Aber natürlich wollte ich stillen, ich wollte schließlich eine gute Mutter sein und alles richtig machen. Das wollte ich sogar noch Tage später, mit blutenden Brustwarzen.
„Eine gute Mutter stillt“, hieß es zu Zeiten des Nationalsozialismus – diese Parole gilt auch heute. Vor allem im Akademiker*innen-Milieu. „Das größte Tabu ist das Nicht-Stillen“, sagt auch Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter. Sie hat das Buch Erziehung an der Mutterbrust: Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens geschrieben. Danach gefragt, wer dabei denn eigentlich erzogen wird, das Baby oder die Mutter, antwortet sie: „vor allem die Mutter, von der Gesellschaft“. Und genau das ist es, was ich bei mir selbst und in meinem Umfeld beobachte. Der Hype um das Stillen weist Müttern einen Platz zu. Einen Platz, den sie gemeinsam mit ihrem Kind besetzen dürfen. Einen Platz, an dem sie ruhig sind und die Klappe halten. Einen stillen Platz. Und während sie dort sitzen und die Klappe halten, verändern sich ihre Beziehungen. Stillen manifestiert nicht-gleichberechtigte Partner*innenschaften.
„Das größte Tabu ist das Nicht-Stillen“, – Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter
Während sich selbst meine feministischsten Freundinnen die Nächte mit ihren Babys um die Ohren schlagen, schlafen ihre Partner durch. „Sie muss das Baby ja stillen“, sagen sie als Begründung. Als wäre es der erste große Elternfehler, das Kind mit etwas anderem als Muttermilch zu füttern. Als wäre damit vorprogrammiert, dass aus dem Kind mal ein schlechter Mensch werden wird. Denn Stillen ist Liebe, das wissen wir ja spätestens, wenn wir auf Instagram gehen.
Abschied von der Gleichberechtigung
Vorprogrammiert ist damit vor allem die ungleiche Verteilung von familiärer Sorgearbeit. Die stillende Mutter ist mehr an das Kind gebunden als der*die nicht-stillende Partner*in. Elternzeiten werden für die Mutter länger („Ich stille ja!“) und für den Vater kürzer („Sie stillt ja!“). So entfernen sich ehemals um Gleichberechtigung bemühte Partner*innen nach der Geburt eines Kindes immer weiter von der fairen Arbeitsteilung. Stillen als Argument gegen eine feministische Beziehung.
Ganz sicher kann Stillen auch ein Akt der Liebe sein, eine Verbindung zwischen der stillenden Person und dem Kind. Auch ich hatte diese Momente mit meiner zweiten Tochter. Ich weiß aber auch, was diese Momente noch beinhalten: Rückzug, Stille, manchmal sogar Ausgrenzung. Ja, Stillen soll überall möglich und selbstverständlich sein. Ebenso selbstverständlich sollten aber auch Eltern sein, die ihre Kinder anders ernähren. Mit Flaschen, Breisaugern und wenn es sein muss auch durch Sonden. Manchmal, weil es nicht anders geht und manchmal einfach, weil Eltern nicht stillen wollen.
Wirklich freie Entscheidungen können wir nur treffen, wenn wir eine Alternative haben, für die wir uns entscheiden können. Wenn wir aber umgeben sind von einem einzigen Familienmodell – nämlich dem, das wir zuhauf auf Instagram finden – dann erscheint es uns irgendwann als das Ideal. Für alle anderen Konzepte gibt es keine Vorbilder und damit kommt auch das schlechte Gewissen. Und nein, es ist keine individuelle Entscheidung, sich von gesellschaftlichen Erwartungen frei zu machen. Sie sind da, wir alle spüren sie, sie beeinflussen uns. Frei sind wir nur, wenn uns die Alternative zu unserer Entscheidung lebbar erscheint; ohne Brandmarkung von außen.
Zwischen all den rosaroten Still-Beiträgen finden sich nur wenige, die mit den Klischees brechen. Wenn es sie dann gibt, bekommen sie allerdings viel Zuspruch und auch Dank. Wie ein Posting von Anika Lindtner, in dem sie von den gesellschaftlichen Erwartungen berichtet, mit denen sie nach der Geburt ihrer Tochter konfrontiert wurde. „Ich habe viel zu oft mitbekommen, wie Mütter, die mit Flasche füttern, sich sofort rechtfertigen müssen“, schreibt sie. Dass sie ihre Tochter nicht so lange stillen konnte wie eigentlich geplant, beschreibt sie als schmerzvoll – und später als Win-Win: „Mein Freund erinnert sich gern an die Stunden, wo er die Kleine füttern und Bekuscheln konnte und ich mich ausgeruht habe.“
Ermutigung für den öffentlichen Diskurs
Ermutigt von Anikas Posting äußerte sich auch die Autorin und Moderatorin Ninia LaGrande zur #weltstillwoche mit einer kritischen Instagram-Story. „Nicht alle Eltern können stillen. Ich wünsche mir, dass das von außen nicht direkt verurteilt wird – vor allem, wenn man die Hintergründe nicht kennt.“ Obwohl Ninia sich sonst zu durchaus brisanten Themen im Internet und auf Bühnen äußert, brauchte sie für diesen Beitrag Ermutigung. „Nur wenige sprechen darüber, weil sie Angst vor Verurteilung haben“, weiß Ninia und hat das durch viele Reaktionen bestätigt bekommen. Viele traurige Nachrichten haben sie erreicht. „Es ist einfach verrückt, was manche sich antun, nur um diesem Ideal zu entsprechen.“
Auch Ninia berichtet davon, dass das spätere Nicht-Stillen letztendlich für eine gleichberechtigtere Aufteilung der Sorgearbeiten rund um ihren Sohn geführt hat. Und neben der Diskussion um Stillen oder nicht gibt es natürlich auch noch sehr viele andere, undogmatische Wege. So sagt zum Beispiel Autor Jochen König: „Ich bin frei nach Donna Haraway für das Cyborg-Stillen, also Flasche und angerührte Milch als Cyborgerweiterung meines Körpers zu begreifen, mit deren Hilfe theoretisch alle Menschen stillen können.“ Und, große Überraschung: Auch eine Möglichkeit ist, dass eine Person stillt und die andere die Flasche gibt. Was für eine Innovation! Schon seltsam, dass unsere immer digitalere Welt für alle möglichen Herausforderungen Ideen bietet – aber was die Babyernährung angeht, soll es bitte nur die Mutterbrust sein.
Beim Diskurs rund um das Thema Stillen geht es nicht nur um das Stillen, es geht auch um Macht. „Mit dem Stillen gehen unterschiedliche Machtinteressen einher: Politik, Wirtschaft, Religion, Medizin. Kein anderes Feld der Frühkindlichen Erziehung ist so hart umkämpft wie das Stillen“, weiß Sabine Seichter. Es geht also nur vordergründig darum, was für das Kind das Beste ist. Bei all den Idealen, mit denen wir Mütter konfrontiert werden, geht es oft vor allem auch darum, was politisch oder gar wirtschaftlich das Beste ist. Das aber entscheiden weder Babys noch Eltern.
„Beim Diskurs rund um das Thema Stillen geht es nicht nur um das Stillen, es geht auch um Macht.“
Der Hype um das Stillen, den man aktuell auf Instagram beobachten kann, ist ein heteronormativ geprägter Hype. Stillen trägt nicht nur dazu bei, dass heterosexuelle Beziehungen in tradierten Rollen gelebt werden. Der Hype um das Stillen sorgt auch dafür, dass queere und andere Familienkonzepte marginalisiert werden. Stillen ist Liebe – soll das also bedeuten, ein schwules Elternpaar kann seinem Kind keine Liebe geben? Was bedeutet das für Pflege- und Adoptivfamilien? Stillen ist Liebe? Ich würde sagen, Stillen ist Stillen.
Der Originaltext von Mareice Kaiser ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
Titelbild: Depositphotos
Mehr bei EDITION F
Warum es nicht schlimm ist, wenn das Stillen einfach nicht klappt. Weiterlesen
„Papa kann auch stillen“. Weiterlesen
Mein Baby braucht mich nicht – über die Entbehrlichkeit einer Mutter. Weiterlesen