Bin ich wirklich meines Glückes Schmied – oder ist das einfach nur schönes Gerede? Genau das fragt sich Lorelei und hat da ihre Zweifel. Was denkt ihr?
Wenn Träume einfach nicht Wirklichkeit werden wollen
Ich bin etwas mehr als 30 Jahre lang mit zwei sehr großen, warmen, verheißungsvollen Glaubenssätzen durch das Leben und die Welt gegangen. Und damit war ich nicht alleine, denn in Büchern, Zeitungen, Fernsehsendungen, Yogaseminaren und Kinofilmen fand ich immer wieder Bestätigung dafür. Denn dort konnte ich immer wieder lesen, hören und sehen, dass es ganz bestimmt so läuft im Leben:
1. Du kannst alles werden was du willst – du musst dich nur genug anstrengen!
2. Wenn du eine Sache wirklich liebst und leidenschaftlich dafür arbeitest, wirst du Erfolg haben!
Kann ich wirklich werden, was ich will?
Und ja, der Glaube daran fühlte sich sehr gut an! Was ich wollte, war schnell klar – und damit gehöre ich ja schon zu den Glücklichen die überhaupt ein paar Ideen davon haben, wie sie ihr Leben gerne gestalten würden. Also fing ich an mich dafür anzustrengen und ganz egal ob privat oder beruflich: ich habe Gas gegeben. Schmiedete Pläne, erkundigte mich bei Experten, las Fach-Bücher, googlete, strukturierte meinen Tag und meine Nacht danach, meine Träume zu verwirklichen.
Ich riss mich zusammen, lernte dazu, schlief zwei bis vier Stunden pro Nacht weniger, aß seltener, sagte meinen Freunden ab, las noch mehr, googlete noch mehr, machte noch mehr Pläne, strengte mich noch mehr an, visualisierte noch mehr Zukunftsvisionen, fertigte Pinnwände, Moodboards und Mindmaps an, grübelte, konzentrierte mich, ließ die Wäsche Wäsche sein, nahm Fachliteratur mit in den Urlaub, schleppte überall meine kleinen und großen Notizbücher mit, um immer und überall meine Ideen und Inspirationen und To-Do’s aufzuschreiben. Suchte mir einen Coach zur Unterstützung, änderte die Marschrichtung, optimierte hier und dort, dieses und jenes und mich, strafte mich für Fehler und Misserfolge streng ab, und und und….
Das Ergebnis: manchmal hat es geklappt. Aber sehr oft eben auch nicht! Aber vor allem bei den großen Zielen, die mir wirklich am Herzen lagen, legte ich dann erst richtig los zu kämpfen. Trotz Schwäche, Müdigkeit, Einsamkeit, Frustration, Krankheit und Ratlosigkeit.
Ich konnte doch nicht einfach aufgeben, denn das hätte bedeutet, dass ich selbst Schuld wäre am Misserfolg!
Was das Leben mich lehrte: Ich bin nicht meines Glückes Schmied
In einer besonders traurigen Stunde der Erschöpfung und Verzweiflung, musste ich der Wirklichkeit ins Auge blicken und akzeptieren, was ich vor lauter Wünschen und Träumen und Glauben vorher nicht hatte sehen wollen: Ich bin gar nicht meines Glückes Schmied.
Ich kann so viel träumen, wünschen, planen, wollen und arbeiten wie nur menschenmöglich, es reicht schon – bildlich gesprochen – ein kleiner Hagelschauer und meine Jahresernte ist dahin.
Es gehört viel mehr dazu, Erfolg zu haben, als nur sich über alle Maßen anzustrengen. Es gibt so viele Facetten des Erfolges, auf die ich überhaupt keinen Einfluss habe – ganz gleich wie gut ich mich in meinem Thema auskenne und wie viele Dinge ich anpacke.
Als diese Gewissheit langsam in mein Bewusstsein tröpfelte, wurde es mir langsam wieder leichter ums Herz und ich erinnerte mich an das, was ich meinen Yogaschülern jede Stunde mit auf die Matte gebe:
„Das Einzige das wirklich zählt, sind die Werte die dein Leben leiten und die Impulse die du deinem Leben gibst!“
Du kannst deinen Leidenschaften im Alltag ein klein wenig mehr Raum geben. Du kannst deinen Sehnsüchten im Alltag ein ganz klein wenig nachgehen. Du kannst deinen Wünschen im Alltag ein ganz klein wenig Aufmerksamkeit schenken. In deinem ganz individuellen, dich umgebenden Rahmen der Möglichkeiten deines Lebens. Den Rahmen kannst du mit ganz viel Glück im Alltag ein wenig mitbestimmen, doch wahrscheinlich sehr viel weniger als dir lieb ist.
Man kann nicht immer das große Ganze verändern, die kleinen Dinge aber schon
Was du wirklich machen kannst ist, es dir im Rahmen deiner Werte und Möglichkeiten gut gehen zu lassen. Und dazu gehört vor allem: nicht auf der Überholspur zum Burnout Gas zu geben.
Unterm Strich habe ich in den letzten Wochen verdammt viel mehr gelernt als mir lieb war – und dafür habe ich eine große Portion Herzklopfen und Tränen, Grübeln, durchwachte Nächte und Kopfschmerzen zahlen müssen. Doch schließlich habe ich dafür eine gute Nüchternheit und neue Stärke gewonnen und diese fiesen riesengroßen Lebenslügen entlarvt, die mein Leben und mein Tun bisher maßgeblich angetrieben und gestaltet haben.
Unserer Generation wurde eine Lebenslüge mitgegeben
Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass diese Lebenslügen gar nicht nur individuell zu mir und meinem Leben gehört haben, sondern zu vielen anderen aus meiner Generation ebenso.
Denn wenn ich mich aus meinem Töpfchen Pech erhebe, mir die Augen wische und aufmerksam in die Leben meiner Freunde und Bekannten schaue, dann meine ich zu erkennen, dass es so vielen eben sehr ähnlich ergeht wie mir. Dass viele der 30 bis 45 Jährigen einen ähnlichen Jockey in ihrem Nacken sitzen haben, der sie bis zum letzten Tropfen Lebenskraft zum immerwährenden, trügerisch erlösend anfühlenden Endspurt antreibt, sie in einer vorgegebenen Spur hält, die sie fälschlicherweise für individuell gewählt halten und sich, während sie schwer schnaufend, schwitzend und nach Atem ringend um ihr Leben rennen, ununterbrochen einflüstern: „Schneller, mehr, du schaffst das, wenn du es nur wirklich willst, gib alles, sei du selbst, du bist ein Gewinner, gib einfach nur noch mehr Gas…“
Die Illusion der Allmachbarkeit und der wirklichkeitsferne Selbstoptimierungsanspruch gaukeln uns Sicherheit und Frieden vor, den unsere Welt uns nicht (mehr) bieten kann!
Eigenheim, Arbeitschutz, Rente: Wir können mit nichts mehr rechnen
Wir sind aufgewachsen in der Ära Kohl, in der jedem suggeriert wurde, er hätte ein Anrecht auf ein Eigenheim mit Auto vor der Tür, Arbeitsschutz und gemütlicher Rente für Zwei. Wir Kinder bekamen als wir groß waren, das Internet dazu geschenkt, das uns völlige Freiheit und absoluten Individualismus mit endlich grenzenloser Authentizität versprach.
Unser Gefühl sagt: das vollkommene Glück ist zum Greifen nah – nun pack doch endlich zu! Aber die Wirklichkeit offenbart: so einfach ist es nicht! Denn:
– Individuell können wir nur in der Gemeinschaft sein.
– Authentisch nur im sozialen Rahmen des Erträglichen sein.
– Freiheit nur spüren, wenn wir Grenzen kennen.
– Erfolg nur haben, wenn das Glück 80 Prozent Schwung zu Disziplin und Kompetenz dazu gibt.
– Ganz zu schweigen vom Eigenheim und Co.
– Und Rente …. nun ja.
Wie lauter zwanghafte Neurotiker laufen so viele von uns in unseren Hamsterrädern aktiv, gedanklich oder mindestens virtuell auf der vermeintlichen Überholspur zum individuellen Glück und verpulvern dabei hemmungslos unsere Kraft und unsere Leidenschaft, unsere Kompetenz und unsere Gefühle.
Vor allem Mütter mit akademischem Bildungsgrad sind besonders gefährdet, sich im Strudel der suggerierten Machbarkeit selbst komplett zu verlieren.
Wir müssen uns wieder an unsere Werte erinnern!
Was wir wirklich für unser Glück tun können, ist uns an unsere Werte zu erinnern, ein gutes und erfülltes Leben in unserem Rahmen zu leben, ein*e nette*r Nachbar*in, loyale*r Freund*in, fürsorgliches Elternteil und liebevoller Partner zu sein und die Herausforderungen des Lebens so gut es eben geht meistern. Und vor allem: uns selbst vor der faulen Annahme der Allmachbarkeit und dem fiesen Selbstoptimierungswahn beschützen!
Da fällt mir dieser Spruch, der so oder so ähnlich lautet, ein: Gib mir die Kraft, zu verändern was ich verändern kann und die Geduld, auszuhalten was ich nicht ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
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