Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Sara Hassan
Ständige Bewährungsprobe
Unbezahlte Praktika, Scheinselbstständigkeit, Minijobs – das Prekariat prägt die neue Arbeitswelt. Verantwortung wird auf Arbeitnehmer*innen abgewälzt, die immer weniger Absicherung haben. Stress, Zeitdruck, erhöhtes Arbeitstempo, kaum Zeit für Regeneration, die Konkurrenz schläft nicht – und die Aussicht auf eine sichere Zukunft ist alles andere als gewiss. Auf der Mission, aus dem Prekariat herauszukommen und eine der begehrten Festanstellungen zu ergattern, müssen sich Arbeitnehmer*innen oft einer ständigen Bewährungsprobe unterziehen und dauernd Höchstleistungen liefern.
Projekte werden an Einzelne ausgelagert. Und inmitten der Angst vor Jobverlust und nagendem Konkurrenzdruck fehlen so immer öfter gemeinsame Räume, um sich auszutauschen – ob nun in Gewerkschaften oder einfach Kaffeeküchen. So geht das kollektive Wir-Gefühl immer mehr verloren.
Es ist das optimale Gefüge für ein Burnout: Zwischen dem geringen Einfluss auf die eigene Arbeitssituation und dem hohen Druck werden immer mehr Menschen aufgerieben – und so brennen auch immer mehr junge Menschen tatsächlich aus.
Mehr Wissen über die Grauzonen
Der Leistungs- und Konkurrenzdruck ist hoch und pusht Arbeitnehmer*innen oft über ihre Grenzen. Junge Menschen, die sich auf diesem Markt beweisen wollen und noch wenig darüber Bescheid wissen, können so leicht ausgenutzt werden. Das muss aber nicht immer so sein. Wenn wir mehr Wissen über missbräuchliches Verhalten in den Grauzonen zwischen beruflichen und privaten Grenzen zur Verfügung haben, können wir Ausbeutung und Missbrauch schneller erkennen und uns dagegen zur Wehr setzen.
Ich habe relativ früh angefangen, zu arbeiten, noch vor vielen meiner Studienkolleg*innen und Freund*innen. Ehrlich gesagt war der Anfang ziemlich hart. In den ersten Monaten im Vollzeitjob konnte ich nach acht bis zehn Stunden im Büro nur noch bewegungslos auf der Couch liegen. Ich hatte keine anderen Jobeinsteiger*innen um mich herum, mit denen ich mich über diese Situation hätte austauschen können, und so dachte ich eben, das wäre der einzige Weg. So und nicht anders hat das zu sein, Alternativen gibt es nicht. Um mich herum haben alle erfahrenen Kolleg*innen und Bekannten so getan, als wäre diese Art zu arbeiten das Natürlichste der Welt. Und so habe ich eben die Zähne zusammengebissen und durchgezogen.
Ich war schnell Teil des Problems
Als meine Studienkolleg*innen ein paar Jahre später auch begonnen haben, 40, 60 oder gar mehr Stunden in der Woche zu arbeiten, ging es ihnen wie mir: Völlig zombiemäßig am Ende jedes Arbeitstages haben sie sich gefragt, wie sie so um alles in der Welt 40 Jahre Lohnarbeit durchziehen würden. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich aber schon an das System gewöhnt, habe über die „schwächelnden” Einsteiger*innen nur schmunzeln können – und war damit schon Teil des Problems.
Heute weiß ich, dass das nicht so sein sollte. Ich persönlich habe nach jahrelanger Büroerfahrung für mich herausgefunden, dass nichts meine Kreativität, Originalität und meinen Sinn für unkonventionelle Ideen schneller killt als zehn Stunden vor einem Bildschirm zu sitzen. Und dass ich nicht Ja und Amen zu jeder angeblich so normalen Arbeitsweise sagen muss, die in mein Privatleben eingreift oder mich und die Menschen um mich herum einschüchtert und krank macht.
Rückblickend betrachtet hätte ich mich früher auf die Hinterbeine gestellt, wenn ich mehr über meine Grenzen und Rechte als Arbeitnehmerin gewusst hätte. Wer darüber nicht Bescheid weiß, läuft Gefahr, in Fallen zu tappen, ausgenutzt und manipuliert zu werden. Es hilft nicht, nur das Arbeitsrecht zu kennen; man sollte auch einige klassische Strategien von Manipulation und Machtmissbrauch zu kennen, die andernfalls in der Grauzone gegen eine*n eingesetzt werden können.
Hier sind ein paar Dinge, die ich gern gewusst hätte, bevor ich angefangen habe zu arbeiten.
Welche Infrastruktur bietet mein Arbeitsplatz?
Was hilft, wenn du neu in einen Job kommst, ist, dich erst mal umzuhören: Du hast Rechte – sieh dich um nach Infrastruktur: Gibt es einen Betriebsrat? Einen freiwilligen Zusammenschluss? Ein Buddy-System oder Generationengespräche? Wer ist zum Beispiel für Fälle von Mobbing zuständig? Kann man solche Fälle melden? Gibt es ein Beschwerdestelle? Vertrauenspersonen? Betriebsärzt*innen? Psychologische Unterstützung?
Um solche Sachen kümmert man sich nicht, wenn alles gut ist – und wenn der Hut brennt, ist es meistens zu spät. Recherche und Sondierung bevor ein Problem aufkommt, zahlen sich aus.
Hol Informationen über deinen Arbeitsplatz ein und diversifiziere dein Netzwerk: Suche den Austausch mit unterschiedlichen Menschen – etwa Menschen aus der eigenen Branche, aber auch branchenfremde. Menschen mit mehr Arbeitserfahrung als du, die dir eine Orientierung dafür geben können, was allgemein und auch unter älteren Kolleg*innen als normal gilt, und was absolut nicht normal ist und entsprechend auch nicht hingenommen werden sollte.
Mir hat dabei geholfen, in Kontakt mit Menschen zu sein, die mir einerseits ähnlich sind, also die ähnliche Erfahrungen in der Welt machen, die aber andererseits nicht genau in meiner Lage sind und der gleichen Berufslogik unterliegen wie ich, sondern woanders stehen. Insofern hilft es, sich über Kolleg*innen hinaus auszutauschen: Personen mit ein bisschen Menschenverstand und Abstand zu deinem spezifischen Berufsumfeld können dir dann zum Beispiel helfen, Dinge einzuordnen, die man im eigenen Unternehmen gar nicht mehr hinterfragt. Zum Beispiel, dass es, nicht normal ist, dass der*die Chef*in alleine mit der*m neuen Praktikant*in Abendessen geht.
Persönliche versus berufliche Grenzen
Entwickle deine persönlichen Grenzen und erkenne an, dass es okay ist, unterschiedliche Grenzen im Berufs- und Privatleben zu haben. Was du in deiner Freizeit angenehm oder witzig findest, muss absolut nicht auch im Büro gelten. Du bist keine Spaßbremse wenn du am Arbeitsplatz nicht angefasst werden willst, sondern es ist dein gutes Recht, bei der Ausübung deines Jobs nicht in deiner Integrität beschnitten zu werden. Dazu gehört auch, zum Beispiel auch mit deinen Kolleg*innen – oder Chef*innen – nicht spätabends und über einen privaten Messenger zu kommunizieren, sondern zu Zeiten und mit Mitteln, die nicht in deinem Privatleben stattfinden.
Grenzüberschreitungen beginnen klein und unscheinbar. Man mag am Anfang vielleicht noch denken, „warum eigentlich nicht“, aber so funktioniert die Logik von Machtmissbrauch: In vielen kleinen und später größeren Schritten wird immer mehr Raum eingenommen. Und ist über solche Eskalationsstufen erst mal eine eigene Logik etabliert, kann man sich nur sehr schwer wieder davon befreien. Ein Bewusstsein für die eigenen Grenzen zu entwickeln und aufmerksam zu sein, wann sie übergangen werden – das ist die Grundlage, um bei sich zu bleiben und sich nicht widerstandslos aufsaugen zu lassen.
Eingriff ins Private
Apropos Grauzone: Realisiere, dass die Auflösung der Grenzen zwischen Privatem und Beruflichen gewollt ist, um immer mehr der persönlichen Freizeit Richtung Arbeit zu verschieben. Die Verschmelzung von Arbeit und Freizeit ist im Sinne von Arbeitgeber*innen und Unternehmen: Mithilfe von Fitnesscentern, Tischtennistischen oder Chill-Out-Räumen im Büro wird eine Feelgood-Atmosphäre erzeugt. Hinter dem fadenscheinigen Feelgood steckt aber nichts anderes als ein Managementkalkül, damit Arbeitnehmer*innen immer noch mehr Zeit in der Arbeit verbringen.
Und wenn sich das Unternehmen gern freundschaftlich oder sogar familiär inszeniert, wird es möglicherweise schwieriger, sich von diesem Arbeitsplatz zu lösen. Immerhin sind wir im Betrieb ja „alle eine riesige Familie“ und die Schwelle, sich dem zu entziehen, oder unter diesem Vorzeichen Übergriffe zu thematisieren, ist ungleich höher. Allerdings: In der Sekunde, in der du ausfällst oder auf das Arbeitsrecht pochst, hat es sich ganz schnell mit der großen, glücklichen Familie erledigt und dein Job ist wieder ein knallhartes Business. Auch hier beginnt die Auflösung von Grenzen unscheinbar. Einen „work husband” oder eine „work wife” zu haben, also Kolleg*innen, mit denen man eng befreundet ist, macht den Job angenehmer. Schnell verbringt man dann deutlich mehr Zeit mit Arbeitskolleg*innen und im Büro.
Solche Arbeitsbeziehungen können oft sehr eng und wertvoll werden, Halt geben und den Arbeitsalltag oft deutlich angenehmer machen. Aber es ist sinnvoll, zu hinterfragen, ob diese Freund*innenschaften echt sind, und auch jenseits des Jobkontextes funktionieren oder einfach nur eine Verlängerung des Jobs sind. In meinen ersten Jobs habe ich nichts dabei gefunden und mir diese Frage auch nie gestellt, aber wenn ich heute einen Schritt zurück mache, denke ich mir: Warum sollte ich die wenige Freizeit, die ich nach meiner 40-60-Stundenwoche habe, noch mit der weiteren Ausdehnung von Arbeit verbringen?
Auf wessen Kosten das geht? Auf meine. Auf die meiner Erholung, meiner persönlichen, freien Zeiteinteilung, auf Kosten der Dinge, die ich eigentlich machen will, wenn ich vom Job runtergekommen bin und genug Zeit und Muse habe. Man kann seinen Job mögen, seine Kolleg*innen schätzen und trotzdem ein Leben ganz unabhängig von der Arbeit haben wollen. Das ist nicht nur ein Recht, es ist auch verdammt wichtig. Andernfalls bricht die gesamte Existenz weg, wenn der Arbeitsplatz mal wegfällt.
Organisieren
Die Professorin Elizabeth Anderson hat vor kurzem ein Buch darüber geschrieben, wie diktatorisch Unternehmen in den USA geführt werden. Dass Klopausen und Unterhaltungen mit Kolleg*innen als „Zeitdiebstahl” gelten und Angestellte in fast jeder Dimension ihres Lebens kontrolliert werden, ist dort keine Seltenheit mehr. Ob sich dieses profitmaximierende Modell auch nach Europa ausbreiten könnte, kann man nicht endgültig ausschließen.
Was wir dagegen tun können: Uns organisieren. Es ist ja kein Wunder, dass autoritäre Konzerne etwas gegen Organisationsstrukturen wie Betriebsräte und Gewerkschaften haben – das zeigt, wes Geistes Kind die Chef*innen solcher Unternehmen sind. Und auch, dass darin ein erhebliches Machtpotenzial steckt. Wir können Räume schaffen, in denen wir uns austauschen und über unsere Rechte informieren können und so merken, dass wir alle in vielleicht gar nicht so unterschiedlichen Situationen stecken.
Wenn wir Bescheid wissen über ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und die Mechanismen von Machtmissbrauch, können wir uns den Rücken stärken und gemeinsam etwas dagegen unternehmen.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).