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„Stress ist gut – wir müssen nur richtig mit ihm umgehen“

Jede*r ist mal gestresst – von der Familie, dem Job oder dem Leben allgemein. Aber nicht der Stress, sondern unser Umgang damit sei bedenklich, sagt Jacob Drachenberg. Wir haben mit dem Stress-Experten gesprochen.

„Ich war pessimistisch, habe aus Frust zu viel gegessen und konnte nicht mehr schlafen“

Wir reagieren alle unterschiedlich auf Stress. Bei manchen verstärkt sich die Neurodermitis, einige leiden unter Schlafstörungen, andere bekommen Magenprobleme. Solche psychosomatischen Symptome sind zwar nervig, aber meist nicht gefährlich. Doch zu viel Stress kann auch zu ernsthaften mentalen und körperlichen Erkrankungen führen. Jacob Drachenberg kennt sich aus mit Stress. Der Psychologe berät Unternehmen, coacht Menschen, hält Vorträge und hat einen Podcast zum Thema Umgang mit Stress. Und Jacob Drachenberg hatte selbst lange mit den negativen Auswirkungen von Stress zu kämpfen: ein stressbedingtes Burnout und dazu knapp 20 Kilogramm Übergewicht mit gerade mal Anfang 20.

Jacob Drachenberg arbeitet als Trainer für eine gesunde Stressbewältigung.
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Woran man merkt, dass alles zu stressig wird

Wenn die Anspannung und eigenen Erwartungen uns nicht mehr motivieren, sondern nur noch verängstigen, sei das Stresslevel zu hoch, sagt Jacob Drachenberg. Er kennt dieses Gefühl der Überforderung: Als Jacob Drachenberg neben dem Psychologiestudium noch Leistungssport betrieben hat, wuchs ihm alles über den Kopf. „Ich war pessimistisch, habe aus Frust zu viel gegessen und konnte nicht mehr schlafen. Alles was ich gefühlt habe war Erschöpfung und eine große Wut auf mich selbst. Es ging mir körperlich und psychisch sehr schlecht”, sagt er.

Die richtige Dosis: Stresskompetenz lernen

„Unser Stresslevel ist ein Thermostat für Wichtigkeit. Das heißt, Dinge die uns wichtig sind, stressen uns mehr. Wenn wir der Ernährung oder dem Job eine hohe Priorität zuschreiben, setzt uns das erstmal unter Druck”, sagt Drachenberg. Dieser Druck sei jedoch wichtig, um leistungsbereit zu sein. Die Frage lautet nur, wie viel Anspannung uns tatsächlich guttut. Wir müssen also lernen, auf gesunde Art und Weise mit Stress umzugehen. Das nennt Jacob Drachenberg dann „Stresskompetenz”. Dafür müsste jede*r einzelne zuerst herausfinden, wie viel Stress sie*er braucht, um ihr*sein maximales Potenzial abzurufen. Stress sei richtig dosiert nämlich überhaupt nichts Negatives.

Warum Stress gut sein kann

Stress hat einen evolutionären Zweck. Er treibt uns an und lässt uns den Fokus auf eine bestimmte Sache lenken. „Stress ist letztendlich nichts anderes als Energie”, sagt Jacob Drachenberg. Er würde ein stressfreies Leben gar nicht wollen. Jedoch gibt es einen Unterschied: Kurzfristiger, punktueller Stress sei förderlich, chronischer Dauerstress hingegen gefährlich für die mentale und körperliche Gesundheit. Der Profisport ist hier ein passendes Beispiel: Die Athlet*innen sind auf positive Weise gestresst, sie schalten in den Wettkampfmodus um und können dadurch Höchstleistungen erbringen. Darauf folgt Entspannung.

Entspannung als Gegengewicht

Wenn die Anspannung überhand nimmt, sind wir wie erstarrt und das Gegenteil der positiven Wirkung von Stress tritt ein: Körper und Geist resignieren; wir werden handlungsunfähig. Also rät der Experte zu alltagstauglichen Strategien für eine bessere Stressbewältigung. Stresskompetenz bedeute nämlich auch, zwischen Anspannung und Entspannung wechseln zu können.

Stressabbau erreiche man vor allem durch Bewegung, sagt Jacob Drachenberg. Welche Art von sportlicher Aktivität sei nahezu egal. „Wichtig ist nur, dass danach oder währenddessen ein Gefühl der Entspannung einsetzt – wie etwa der ‚klare Kopf‘ beim Laufen.” Zudem dürfe man den mentalen Stressabbau nicht unterschätzen: kreativ sein, einen Roman lesen, Musik hören, Serien schauen. Jacob Drachenberg sagt: „Wir müssen weg vom Leistungsgedanken und einfach das tun, was uns Spaß macht.”

Weg mit unnötigem Stress

Wichtig sei auch, sich bewusst zu machen, wovon man sich eigentlich stressen lasse, sagt Jacob Drachenberg. Ist es die Stimme im Kopf? Die eigenen, oft viel zu hohen Erwartungen? Jede*r sollte darüber nachdenken, was sie*er wirklich beeinflussen kann. „Die meisten Menschen zerbrechen sich über Dinge den Kopf, die sie sowieso nicht ändern können.” Deshalb lautet der Ratschlag des Experten: Trenne die Leistung vom Ergebnis. „Wenn wir guten Gewissens unsere Arbeit gemacht haben, ist unser Teil damit erfüllt und das Ergebnis liegt nicht mehr in unserer Hand. Wer hingegen an den Ergebnissen festhält, kann dadurch nur schwer loslassen und blockiert die eigene Erholung. Das führt dann zu schlechteren Ergebnissen.”

Vor allem zu viel Perfektionismus – wie es oft bei der Ernährung oder der Vereinbarkeit von Familie und Beruf der Fall ist – erzeugt Stress. „Niemand kann immer alles perfekt machen und rund um die Uhr voller Energie sein. Solche unerfüllbaren Ziele müssen wir loslassen”, sagt Jacob Drachenberg. Zudem solle man versuchen, gedanklich in der Gegenwart zu bleiben und nicht stundenlang über Vergangenes zu grübeln. Auch Zukunftsängste würden seiner Meinung nach wenig bringen. Jacob Drachenberg sagt: „Mir hilft es, ab und an einen Realitätsabgleich vorzunehmen. Denn unsere Gedanken und Zweifel sind keine Fakten. Wir sollten nicht zu sehr daran denken, was alles passieren könnte. 90 Prozent unserer Zukunftshypothesen treten nicht ein – und sind damit nur unnötiger Stress.”

Das eigene Stresslevel finden

Stress macht also nicht krank, der falsche Umgang damit allerdings schon. Jacob Drachenberg sagt: „Oft sind wir selbst unser Stress. Das Streben nach Perfektion, den eigenen Erwartungen gerecht werden zu wollen, sowie der Wunsch, beliebt zu sein. Wenn wir solche Stressfaktoren erkennen und etwas daran ändern, können wir die Wirkung von Stress positiv für uns nutzen.” Denn: „Stress ist gut, solang er uns Energie für besondere Leistungen gibt.” Manche Menschen würden Herausforderungen und Zeitdruck lieben, andere funktionierten besser außerhalb von Extremsituationen. Das eigene Stressempfinden sei eben individuell. Man müsse es nur kennen. „Am besten geht das wie beim Kochen: einfach ausprobieren. Was funktioniert für dich? Und was nicht?”, sagt Jacob Drachenberg.

Er geht sogar so weit, dass er meint, man solle sich den Stress zum Freund machen. „Wenn wir stressige Zeiten nicht zu ernst nehmen, sondern sie spielerisch angehen, kann das hilfreich sein”, sagt er. Das gilt jedoch eher im Beruflichen, in Prüfungsphasen oder beim Sport. Private Stresssituationen wie etwa familiäre Schicksalsschläge oder auch gesellschaftsbedingte Stressfaktoren dürfe man natürlich ernsthaft zulassen, so der Experte. Das sei schließlich menschlich. „Man kann sich aber auch eine gewisse emotionale Überforderung eingestehen, ohne dabei in die Opferrolle zu fallen.”

Was Frauen zusätzlich stresst

In einer Podcast-Folge befasst sich Jacob Drachenberg explizit mit Frauen und ihrem Stressempfinden. Er sagt, die Rolle der Frau in der Gesellschaft sei eine, die von vielen Erwartungen geprägt und deshalb besonders stressig sei. Damit hat Jacob Drachenberg nicht unrecht, denn oft müssen Frauen ihre Bedürfnisse den gesellschaftlichen Erwartungen unterordnen. Kinderbetreuung, Pflege der Angehörigen, Haushalt: Den überwiegenden Teil der unbezahlten Care-Arbeit übernehmen weiterhin Frauen. So fließt viel Zeit und Energie von Frauen in das Familienleben – ein zusätzlicher Stressfaktor, den Männer in klassischen Familienmodellen oft weniger zu spüren bekommen.

Wie man Stressphasen meistert

In besonders stressigen Zeiten, wenn etwa ein großes Projekt ansteht, können wir uns „Prozessziele” setzen. Jacob Drachenberg sagt, dass solche kleineren Zwischenetappen erreichbarer scheinen und uns daher weniger unter Druck setzen würden. Dazu motivieren sie: „Das kontinuierliche Streben hält uns am Laufen, spornt uns an und kann sogar glücklich machen.” Man muss die „Höher-schneller-weiter-Stimme” also nicht gänzlich abschalten. Auch Deadlines seien sinnvoll, so der Experte, denn die meisten Menschen hätten nur solange ein Motivationsproblem, bis sie in Zeitnot gerieten.

Im Arbeitsalltag würden uns permanente Unterbrechungen am meisten stressen, sagt Jacob Drachenberg. „Weil wir unsere Aufgaben nicht konzentriert erledigen können und immer wieder rausgerissen werden. Ich rate deshalb dazu, sich über den Tag feste Zeitfenster zum fokussierten Arbeiten einzuplanen.”

In arbeitsintensiven Wochen helfe es zudem, unnötigen Stress zu vermeiden, sagt Jacob Drachenberg. Das könne bedeuten, sich die Feierabende nicht allesamt vollzuplanen; oder das Umfeld vorzuwarnen, dass man demnächst viel zu tun haben werde. Dann wären alle verständnisvoller, wenn wir mal absagen oder uns für einige Tage nicht melden. „Solche kleinen Vorbereitungen helfen uns, besser durch Stressphasen zu kommen”, sagt Jacob Drachenberg. Zuletzt könne es noch förderlich sein, sich abseits des Alltagsstresses an das große Ganze zu erinnern: Warum lohnt sich die Anstrengung? Welche sinnvollen Ziele verfolge ich?

Wenn der Stress schon da ist

Was aber tut man, wenn man bereits übermäßig gestresst ist und nachts wach liegt, Hautausschlag oder Migräne bekommt? „Dann sollte man vor allem Verständnis für sich selbst aufbringen”, sagt Jacob Drachenberg. Manche Lebensphasen stressen uns also einfach – und das ist in Ordnung. Dennoch sei es in solchen Fällen wichtig, die Stressfaktoren radikal herunterzufahren, rät der Psychologe. Dabei helfe Struktur: Man könnte etwa eine Prioritätenliste aufstellen, um sich bewusst zu machen, was wirklich schnell erledigt werden muss und was nicht. „Es es sinnvoller, sich temporär auf weniger zu fokussieren, als zu vielen Hasen hinterherzujagen und am Ende keinen zu fangen.”

Jacob Drachenberg hat ein zertifiziertes Onlineprogramm für eine gesunde Stressbewältigung entwickelt.

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