Foto: Hahn + Hartung

Esra Karakaya: „Ich möchte einen Diskussionsraum schaffen, in dem sich alle Menschen auf einer Ebene treffen“

Weil sie keine Lust auf die immer gleichen Gesichter und Themen in der deutschen Fernsehlandschaft hatte, konzipierte Esra Karakaya kurzerhand ihr eigene Talkshow – auf YouTube: BlackRockTalk. Wir haben uns mit ihr zum Gespräch getroffen.

Für mehr Vielfalt in den Medien

2018 gründete Esra Karakaya ihr eigenes Talkshowformat auf YouTube: BlackRockTalk. In diesem lässt sie die Personen zu Wort kommen, denen im öffentlichen Diskurs häufig eine Stimme verwehrt bleibt. Sie hat ein Format geschaffen, in dem People of Color und andere Menschen, die in Deutschland marginalisiert werden, über ihre Erfahrungen sprechen und über ganz unterschiedlichen Themen gemeinsam diskutieren können. So spricht sie mit ihren Gästen zum Beispiel über westliche Schönheitsideale, diskriminierende Sprache oder geht der Frage nach, ob man Kunst und Künstler*in voneinander trennen kann.

Am 17. Mai wurde Esra, zusammen mit anderen inspirierenden Frauen, in Berlin für ihr Engagement mit dem 25 Frauen Award von EDITION F ausgezeichnet. Sie ist eine der Frauen, die mit ihrer Stimme unsere Gesellschaft bewegen.

Im Interview erzählt sie, wie sie ihre Gäste für die Show auswählt, was sie von den traditionellen Talkshows des öffentlich-rechtlichen Rundfunk hält und welche Schritte in die Wege geleitet werden müssen, damit die deutsche Medienlandschaft tatsächlich unsere heutige Gesellschaft abbildet.

Was hat dich dazu bewegt deine eigene Show zu konzipieren?

„Die Inspiration zu ,BlackRockTalk‘ kam von ,The Grapevine‘, einem Onlineformat aus den Staaten. Ashley Akunna lädt hier regelmäßig Menschen aus der Schwarzen Community ein, um mit ihnen über Themen zu sprechen, die vor allem ihre Community betreffen. Damit schafft sie Räume für eine andere Form von Diskussionskultur und zeigt, dass es Themen gibt, die vor allem von Menschen besprochen werden sollten, die direkt davon betroffen sind. Außerdem macht sie klar, dass auch die Menschen relevant sind, die sonst in den Medien völlig unter- oder falsch repräsentiert werden. Das Format habe ich dann an den deutschen Kontext angepasst. Es sollte aber nicht spezifisch für eine Community, sondern für alle Communitys of Color sein. Die Idee entwickelt sich immer weiter. Inzwischen, würde ich sagen, möchten wir eine Plattform sein, für alle Communitys, die in Deutschland unter- oder falsch repräsentiert und marginalisiert werden.“

Wie wählst du die Themen für die nächste Sendung aus?

„Nach Bauchgefühl. Rückblickend waren das erst einmal die Themen, auf die ich einfach richtig Bock hatte. Mir war es zum Beispiel ein Bedürfnis, in einer Folge nur Frauen mit Kopftuch zu Wort kommen zu lassen und mit ihnen zu einem Thema zu diskutieren. Das sieht man nicht in den traditionellen Talkshows. Die ersten Folgen hatten mehr mit Rassismus zu tun. Gerade bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich auch andere Dinge behandeln möchte. Dementsprechend suche ich jetzt auch Themen aus, die etwas philosophischer sind. Wir hatten zum Beispiel eine Folge, in der wir uns gefragt haben, ob Geld glücklich macht oder ob man, im Fall von R. Kelly, Musik und Künstler voneinander trennen kann. Das ist immer noch gesellschaftlich relevant, aber der Bezug zum Rassismus steht nicht mehr im Vordergrund. Der ist durch die Lebensrealitäten der Besetzung sowieso immer gegeben.“

Und deine Gäste?

„Wir recherchieren im Team, welche Positionen es zu einem Thema gibt und versuchen dann Gäste zu finden, die diese Positionen widerspiegeln. Meinungsvielfalt ist uns sehr wichtig. Gleichzeitig achten wir natürlich auch darauf, dass wir von den Menschen her die größtmögliche Diversität haben. Manchmal laden wir auch eine Person aus der Community ein, ihre Position in der Sendung zu vertreten, wie bei unserer aktuellen Folge zum Getränkehersteller True Fruits.“

Es können also auch „normale“ Zuschauer*innen zu Gästen werden, wenn Sie eine starke Meinung vertreten?

„Mein Traum ist es, dass BlackRockTalk zu einem Raum wird, in dem sich ein, maximal zwei, medial bereits etablierte Menschen mit drei Otto-Normalverbraucher*innen zusammensetzen und die Karten auf den Tisch legen. Am Ende des Tages bluten wir alle rot, egal wie viel Publicity du schon bekommen hast, egal wie viel du verdienst, oder welchen Titel du trägst. Ich möchte einen Diskussionsraum schaffen, in dem sich alle Menschen auf einer Ebene treffen.“

Was hältst du von den traditionellen Talkshows im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wie etwa Anne Will, Hart aber Fair, Maischberger und Co.?

„Ich will nicht gegen diese Talkshows schießen. Es gibt einen Grund, warum sie so erfolgreich sind. Mein Problem ist, dass ich mich in den Diskussionen, die dort stattfinden, nicht repräsentiert fühle, weder in meinen Erfahrungen noch in meiner Meinung oder meinen Narrativen. Außerdem haben diese traditionellen Talkshows ein riesiges Problem: Sie erreichen keine jungen Menschen mehr.

Das Konzept für meine Show ist nicht neu. Es baut auf dem auf, was vorher schon da gewesen ist. Ich habe nur selbst keinen Bock mehr reaktiv zu sein und mich an den Fehlern von anderen abzuarbeiten. Ich will meine eigenen Fehler machen und mich dann bessern. Es geht mir nicht darum zu zeigen, wer das bessere Produkt hat, sondern welche die bessere Haltung ist.“

Glaubst du People of Color und andere Minderheiten sollten, wie du selbst mit BlackRockTalk, vor allem ihre eigenen Formate gründen, um mehr Sichtbarkeit zu schaffen oder sollten sie versuchen sich in die traditionelle Medienlandschaft hineinzuarbeiten, um diese dann von Innen nachhaltig zu verändern?

„Sowohl als auch. Natürlich wäre es schön, wenn es für Menschen, die von Rassismus und Sexismus betroffen sind und die marginalisiert werden, einfach so möglich wäre, Teil dieser Medieninstitutionen zu werden. Es wäre schön in einer Gesellschaft zu leben, in der es eine Chancengleichheit gibt und, in der solche Entscheidungen wirklich von der eigenen Leistung abhängen. Das tun wir aber einfach nicht. Deswegen ist in migrantisierten Communitys der Anteil an Menschen, die sich selbstständig machen, oft viel höher als in anderen Gruppen. Es gibt einfach keine anderen Möglichkeiten.

Was ich mit BlackRockTalk merke, ist, dass große Medieninstitutionen bereit sind uns zu unterstützen, aber nur, wenn wir uns vorher komplett selbst aufbauen. Sobald wir bereits etwas etabliert haben und erfolgreich damit sind, zeigen sie Interesse. Es gibt bei diesen Medienhäusern kaum interne Initiativen solche Konzepte selbst zu entwickeln.

Welcher der bessere Weg ist, hängt davon ab, wie die Person selbst gestrickt ist. Ich war früher in den traditionellen Medien unterwegs, habe verschiedene Praktika gemacht und hier und da Mal ausgeholfen. Dort habe ich mich oft unwohl gefühlt, weil es für meine Existenz keine Sensibilität gab. Dabei ist meine Existenz in Deutschland nicht besonders ungewöhnlich. Ich bin genau, wie alle anderen – und trotzdem werde ich anders gemacht. Als Women of Color ist es nicht einfach, in weißen Redaktionen zu bestehen, weil ich mich regelmäßig mit dieser Unsensibilität konfrontiert sehe und nicht ich selbst sein kann. Mit BlackRockTalk und meiner Arbeit bei den ,Datteltätern‘ habe ich mir jetzt meinen eigenen Raum geschaffen.“

Mir ist aufgefallen, dass du deinen eigenen Sprachgebrauch sehr stark an die Situationen und Menschen anpasst, die dich gerade umgeben. Außerdem „code switcht“ du auch viel – wechselst also innerhalb von Konversationen zwischen verschiedenen Sprachen. Ein Phänomen, dass viele Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund gut kennen. Wie entscheidest du, wann du wie sprichst?

„Für mich ist ganz klar, im Gespräch mit Institutionen, im Gespräch mit Arbeitgeber*innen, in Gesprächen, die sich im professionellen Rahmen abspielen, wie jetzt, spreche ich mein schönstes Hochdeutsch. Ich versuche sehr deutlich, eloquent und akademisch zu sprechen. Es ist keine Entscheidung. Es passiert einfach. Wenn ich bei mir in der Straße unterwegs bin, wenn ich mit meinen Nachbar*innen spreche, dann spreche ich ganz anders. Man könnte sagen, dass ich zweimal Deutsch spreche: Einmal Hochdeutsch und einmal Kiezdeutsch. Ich bin im Wedding aufgewachsen. Diese Sprache ist meine Heimat. Sie ist für mich Zugang zu vielen Menschen und auch der Zugang von vielen Menschen zu mir. Bei den Datteltäter-Videos benutze ich diese Sprache mehr und mehr. Das ist eine totale Befreiung. Das war mir vorher gar nicht bewusst.“

Sprache spielt ja auch beim Zugang zur Medienbranche eine wichtige Rolle.

„Es tut mir weh, zu sehen, wie die eigene Sprache manche Menschen in ihren Möglichkeiten limitiert. Es ist sehr traurig zu sehen, dass sie sich teilweise sogar dafür schämen, dass sie eben nur auf eine Art und Weise sprechen können. Diesen Menschen wird das Gefühl gegeben, sie seien nicht wertvoll genug, um Teil von bestimmten Diskursen zu werden. Bei meinem Format versuche ich auch diese Leute mit reinzuholen.“

Ihr verwendet dort viel Jugend- und Umgangssprache.

„Ich erwarte und verlange das sogar. Mittlerweile mache ich auch ein Briefing vor der Aufzeichnung und sage meinen Gästen: benutzt Umgangssprache! Ich möchte Unterhaltungen führen, die ich so auch in der realen Welt führen würde.“

Glaubst du, dass du damit auch ein anderes Publikum abschreckst? Nicht jede*r spricht Hochdeutsch in Deutschland, aber viele Zuschauer*innen sind daran gewöhnt, im Fernsehen ausschließlich Hochdeutsch zu hören.

„Eine Person die sich dadurch abgeschreckt fühlt, gehört nicht zu meiner Zielgruppe. Dann bist du einfach niemand, mit dem ich sprechen möchte. Für mich ist es wichtig, dass das anerkannt wird. Es ist Teil unserer Identität. Das macht mich nicht weniger als… Wenn ein Mensch sächselt, wird ja auch gerne mal darüber geschmunzelt. Für mich ist das aber kein Grund zum Auslachen, sondern der Inbegriff von Kultur. Ich möchte, dass das, genauso wie Kiezdeutsch, als kulturelle Diversität anerkannt wird.“

Du sagst, dass die Menschen, die du einlädst, normalerweise in den Medien unter- oder falsch repräsentiert werden. Wie äußert sich das?

„Was sich immer wieder zeigt ist die Eindimensionalität. Diese Menschen werden sehr gerne in ganz bestimmte Narrative gepresst. Sie werden nicht in ihrer wirklichen Diversität dargestellt. Innerhalb der Community von Frauen mit Kopftuch zum Beispiel, haben wir extrem unterschiedliche Meinungen zu den verschiedensten Themen. Das wird aber nicht gezeigt. Frauen mit Kopftuch sind in Deutschland die Projektionsfläche für jeden Scheiß. Wir werden als Menschen dargestellt, die sowieso keine Agency haben. Oft heißt es: ,Das sind die Menschen, die keine Macht haben selbstbestimmte Leben zu führen, die sich gerne unterdrücken und marginalisieren lassen. Das sind die Menschen, die gerne Hilfe brauchen und Hilfe annehmen sollten. Das sind die Menschen, die nicht begehrenswert sind und es auch niemals sein können. Das sind die Menschen, die als absolute Mutterfiguren dargestellt werden, aber gleichzeitig den Teufel repräsentieren, weil sie natürlich die Mütter von Terrorist*innen sind.’ Es gibt Abstufungen, je nachdem, wie du dein Kopftuch bindest und welche Hautfarbe du hast. Aber es gibt in diesen Narrativen keine Diversität. Das fehlt mir.“

Es gibt wenig Women of Color, die in Deutschland als Moderatorinnen arbeiten und ein Kopftuch tragen. Bist du inzwischen auch ein Vorbild geworden?

„Mit so einer wachsenden Plattform, habe ich gar keine Wahl, ob ich Vorbild sein möchte oder nicht. Ich bin es schon. Da brauche ich gar nicht versuchen mich in falscher Bescheidenheit zu üben. Ich will diese Energie nutzen, um vor allem jüngeren Generationen zu zeigen, dass sie machen sollen, worauf sie Bock haben. Lasst euch nichts sagen! Immer mit dem Kopf durch die Wand!“

Der Zeitung „Der Freitag“ hast du gesagt, dass du mit deiner Sendung kein „Nischenprodukt“ produzieren möchtest. Warum ist es dir so wichtig, deine Message auch in die Mehrheitsgesellschaft zu tragen?

„Weil unsere Themen für alle relevant sind. Ich verstehe schon, dass wir mit der Nische arbeiten müssen. Und wir wachsen quasi mit ihr mit. Ich möchte aber eine Normalisierung vorantreiben und nicht als People of Color-Talkshow abgestempelt werden. Es ist eine Talkshow wie jede andere auch und das sollte selbstverständlich sein. Wenn wir davon ausgehen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die nur funktioniert, wenn wir aufeinander aufpassen – und damit inkludiere ich alle Menschen, mit und ohne Privilegien–, dann heißt das für mich, dass wir auch wissen müssen, welche Themen andere Menschen beschäftigen. Wir müssen dafür mehr Empathie entwickeln. Ich glaube, BlackRockTalk ist für Menschen, die selber von manchen Dingen nicht betroffen sind, ein guter Weg sich zu informieren.“

Wo würdest du anfangen, wenn du die Möglichkeit hättest die Medienbranche von Grund auf zu verändern, damit sie repräsentativer für unsere Gesellschaft wird?

„Ich würde erst einmal eine nachhaltige Struktur aufbauen. Es gibt in Großbritannien die ,British Diversity Standards’, nach denen gewisse Formen von Diversität in jedem Projekt und in jeder Produktion vertreten sein müssen. Das würde ich auch in Deutschland beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk implementieren. Menschen in Führungspositionen, die die Ressourcen haben, müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und ihre Teams diversifizieren. Wenn sie das nicht tun, müssen sie Konsequenzen erfahren. Ich würde einen Medienrat ins Leben rufen, der das Ganze kontrolliert. Es muss darauf geachtet werden, dass wir auf verschiedenen Ebenen diverser werden. Das bedeutet auch: verschiedene politische Meinungen und verschiedene sozioökonomische Backgrounds. Ich brauche nicht neun Esras auf der Bühne, die alle dieselbe politische Meinung vertreten.

Außerdem würde ich die Einstiegskriterien für die Branche niedrigschwelliger ansetzen und mithilfe von wissenschaftlicher Forschung genau herausfinden, warum diese Menschen schneller abgeschreckt sind.“

Du sprichst es an. Es heißt oft People of Color würden sich gar nicht erst auf bestimmte Berufe bewerben. Wie sollten Medienunternehmen das angehen?

„Das funktioniert auf mehreren Ebenen. Einmal müssen Netzwerke aufgebaut werden. Es bringt nichts zu sagen: ,Wir brauchen jetzt, punktuell, eine Woman of Color!’ Redaktionen müssen langfristig mit diesen Communitys in Kontakt stehen. Es lohnt sich auch, Geld für Headhunting auszugeben. Medienunternehmen müssen außerdem verstehen, dass es einen Grund gibt, warum diese Leute nicht bei ihnen arbeiten wollen. Ich arbeite zum Beispiel nicht mehr in weißen Redaktionen, weil ich mich regelmäßig mit Stereotypen konfrontiert sehe. Ich kann mich in diesen Räumen nicht entfalten.

Wichtig ist auch das Marketing. Welche Message trägst du als Medienunternehmen nach außen? Wer ist bei dir auf den Werbeplakaten? Welche Sprache nutzt du? Genderst du? Das sind alles Faktoren, die bedacht werden müssen. Mein Ansatz ist immer: langfristig, nachhaltig und organisch. Es funktioniert einfach nicht punktuell.“

Was wünschst du dir für die Zukunft von BlackRockTalk?

„Ich wünsche mir, dass BlackRockTalk eine etablierte, wöchentliche Talkshow auf YouTube wird, mit guten journalistischen Inhalten und einer loyalen Community. Sie soll als Teil der deutschen Medienlandschaft anerkannt werden und von Zeitungen und Magazinen zitiert werden. Die Show soll in Deutschland eine Diskussionskultur mitgestalten, die auf Empathie basiert. Außerdem wollen wir vorleben, wie Diversität aussehen kann.“

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