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Über mein Leben als Mutter eines Zappelkindes

Dein Kind bleibt auch nie ruhig sitzen und dumme Unfälle sind seine Spezialität? Dann geht es dir wie mir, denn ich bin die Mutter von einem Michel aus Lönneberga.

Was mein Sohn mit Michel aus Lönneberga gemeinsam hat

Das mit dem überlaufenden Wasserhahn im Malkurs, den mein Sohn einmal die Woche besuchte, hat er bestimmt nicht aus bösem Willen gemacht. Wahrscheinlich wollte er einfach nur mal sehen, was passiert, wenn man diesen hohen Hahn dort einmal bis ganz nach hinten aufdreht. So wie Michel aus Lönneberga sehen wollte, was passiert, wenn man Schweinen und einem Hahn gegorene Kirschen füttert. Und das mit dem Radiergummi, war von meinem Sohn auch nicht übel gemeint. Er wollte nur sehen, ob sich das auch kauen lässt. So wie Michel aus Lönneberga eben mal sehen wollte, was passiert, wenn man sich eine Erbse in die Nase schiebt. Für die Leiterin des Malkurs aber, war das mit dem Wasserhahn und dem Radiergummi zuviel. Sie stand vor mir mit genervtem Gesichtsausdruck und erklärte, mein Sohn könne nicht weiter ihren Kurs besuchen.

„Es geht dabei um Sicherheit, verstehen Sie“, erklärte sie. Dabei meinte sie bestimmt nicht die Sicherheit meines Sohnes, und auch nicht die der fünf anderen Kinder im Kurs. Und das war der Moment, an dem ich am liebsten selbst den Wasserhahn bis nach hinten und weiter aufgedreht hätte. Oder  ihr wenigstens die sauteuren Farbtuben, die ich auf Bitten der Malkursleiterin gekauft hatte und nun ja nicht mehr brauchen würde, über ihren Kopf gießen würde. Aber ich tat beides nicht. Ich nahm mein Kind an die Hand, drehte mich um und ging. Wie schon so oft, wenn mein Sohn es geschafft hat, irgendwo negativ aufzufallen. Und ihr könnt mir glauben, das gelingt ihm oft.

Wir alle lieben die Geschichten von Michel – aber wären wir gerne seine Eltern?

Neulich erst beim Bäcker, als er sich am Einkaufsroller einer älteren Dame so ungeschickt festhielt, und damit durch den Laden segelte. Die Dame fand das gar nicht lustig, sie beschimpfte mein Kind. So ungefähr musste sich auch die Frau Pastor aufgeregt haben, der Michel in Astrid Lindgrens Kinderbuch die Straußenfeder am Hut mit einer Lupe anschmorte.

Wir alle oder die meisten lesen gerne die Michel Geschichten, oder haben sie gelesen. Aber wer von uns möchte gerne seine Mutter sein? Oder meinetwegen auch sein Vater? Sicher, Michel ist ein Kind, wie Kinder sein sollen: neugierig, abenteuerlustig, intelligent. Und doch, etwas ist anders mit Michel, denn er bringt die meisten Menschen in seiner Umgebung an den Rand der Verzweiflung. Sonst hätte Michels Mutter sicher nicht mit dem Tagebuchschreiben angefangen. Und die Dorfbewohner hätten sich gegen Ende des ersten Bandes sicher auch nicht die Mühe gemacht, Geld zu sammeln, damit Michels Eltern ihn nach Amerika schicken können, wenn der Junge irgendwie ertragbar wäre. Michels Eltern schicken ihren Sohn nicht weg. Und das ist auch gut so, findet die Magd Lina, denn in den USA war damals gerade ein Erdbeben. Michel und ein Erdbeben- so Lina, sei den Amerikanern wirklich nicht zuzumuten.

Kann es richtig sein, ihn mit Medikamenten ruhig zu stellen?

Auch wir werden unseren Sohn niemals wegschicken. Aber uns wurde ans Herz gelegt ihn mit Medikamenten ruhig zu stellen. Das ist doch ein wenig so, wie wegschicken, oder? Und wenn es nur sein lebendiger unruhiger Geist ist, der damit irgendwo in einer inneren Garage landet. Unser Kind hätte eine Aufmerksamkeitsstörung heißt es. Der Zappelphilipp unter den nicht nur die Leiterin des Malkurs, sondern auch Familienmitglieder und die Lehrer leiden, sei an sowas wie ADS erkrankt.

Und so fühlt es sich an, die Mutter eines Kindes zu sein, dass unruhiger ist als der Durchschnitt: Als würde mir immer wieder jemand immer wieder und unerwartet einen Eimer Wasser ins Gesicht kippen. Ich verliere den Boden unter den Füßen. Ständig werde ich gegen meinen Willen unter Wasser getaucht. Der Atem bleibt weg und die Sicht auch. So wie neulich, als wir in der Schule Teambesprechung hatten. Dass meinem Sohn das Schwimmen Spaß macht, erwähnte ich in der Hoffnung, ein wenig Fürsprache für ihn zu gewinnen, vor allem bei seiner Lehrerin. Die ging auch gleich darauf ein: Ja genau, da war er auch der Erste der fertig angezogen vorm Schwimmbecken stand- nur sein Badetuch, dass musste ihm die Katharina hinterhertragen.

Damit verdrehte sie schon wieder ihre Augen zur Decke, um damit auszudrücken, dass bei diesem Kind eigentlich Hopfen und Malz verloren sind. Und ich musste Luft holen, sehr tief, und die Augen schließen, um auch diese Welle an mir vorüber schwappen lassen, damit ich wieder Boden unter den Füßen gewinnen konnte.

Muss ein Kind immer in Reih und Glied stehen?

Wer denkt schon an ein Handtuch, wenn er wild aufs Schwimmen ist? Wenn alles was zählt, der Augenblick ist? Und wenn Schwimmen einfach die absolute Freiheit bedeutet?

Michel geht in dem Buch auch gerne schwimmen, besonders mit Alfred, dem Knecht und seinem Herzensfreund. Ob er auch ordentlich ein Badetuch dabei hat? Ich glaube, das spielt für die Geschichte keine Rolle. Es ist nicht wichtig für die Geschichte im kleinen und im großen Sinne. Denn aus Michel ist doch noch ein feiner Kerl geworden. Überhaupt, wenn mein Kind wie alle anderen in Reih und Glied liefe, artig das Badetuch unterm Arm gefaltet hätte, was würde dann aus der Katharina? Wäre dann nicht auch sie nur ein farbloser Spielstein im langweiligen Gesellschaftsspiel?

Ich werde weiter gegen die Stigmatisierung meines Sohnes ankämpfen

Gibt nicht gerade der Wackelpeter unter den Kindern, anderen die Möglichkeit, gegen die Katastrophe so richtig gut aufzufallen aus dem grauen Alltagsbrei? Ist doch gut für die Katharina, hätte ich sagen können, aber dann nur wieder das Unverständnis der Lehrerin geerntet.

Henning Köhler hat über solche Zappelkinder, wie meiner einer ist, ein Buch mit dem Titel „War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?“ geschrieben. Dabei kritisiert er, dass das individuelle Wesen dieser auffälligen Kinder zu sehr ignoriert wird. Solche Bücher sind mir Rettungsringe. Denn ich werde nicht aufhören, für meinen Sohn gegen alle Wellen der Stigmatisierung anzukämpfen. Mein Platz ist an seiner Seite. Ich werde immer wieder die Augen schließen, Luft holen, Boden suchen und weiter gehen, bis auch aus meinem Kind noch was Großes geworden ist. Genau wie bei Michel aus Lönneberga eben.

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