Joshua Höhne | Unsplash

„Ich wollte beweisen, dass Mädchen sehr wohl Mathe können“

„Es ist sinnlos mit dir“, das hörte unsere Redaktionsleiterin in ihrer Schulzeit immer wieder von der Mathelehrerin. Sie verlor den Spaß an Zahlen – und ihr Selbstvertrauen. Hier erklärt sie, warum es so wichtig ist, weibliche Vorbilder sichtbar zu machen und schon Schulkindern zu zeigen, dass MINT-Berufe auf keinen Fall nur Jungssache sind.

Meine Schulzeit war ein ziemlicher Kampf. Im Nachhinein finde ich dafür jede Menge Gründe, die ich damals nicht formulieren konnte. Jedenfalls nicht sofort: Arbeiter*innenkind, mittellose Familie, immer wieder umgezogen, also immun gegen Traditionen mit meinen bis heute rastlosen Eltern – und ja: weiblich. Ausgerechnet ein Ort im tiefsten Bayern war das erste längere Zuhause. Und damals stieß ich als Neunjährige auf viele Irritationen, die weder von mir noch von meinen Eltern ausgeräumt wurden, weil sie für das einstige Verständnis nun mal „dazugehörten“ zum Leben einer Frau.

Der Druck war hoch. Ich lernte viel und gerne. Aber die ständigen Kommentare, die die Mathematiklehrerin vor der ganzen Klasse in einer Wolke aus Zigarettenqualm und Kaffeeatem in meine Richtung hauchte, bremsten mich aus. „Lass es einfach“. – „Es ist sinnlos mit dir.“ – „Wie kann man nur so schief denken?“ Und zu meinen Eltern sagte sie, ich gehöre nicht an diesen Platz, „oben“ auf dem Gymnasium. Das sind Sätze, die mir bis heute im Kopf nachhallen.

Und schließlich wurde sie mich tatsächlich los, eine Zeit lang.

„Ich wollte beweisen, dass Mädchen sehr wohl Mathe können. Und dass das einzige Mädchen im LK Chemie absolut richtig am Platz ist.“

Auf der Realschule hatte ich einen Mathelehrer, der mich bald beiseite nahm:
„Wer hat dir beigebracht, dass du Mathe nicht kannst?“ Er wollte gar keine Antwort, sprach weiter: „Du musst deine Haltung zu den Dingen ändern. Du kannst Mathe. Sag dir das immer wieder: Ich kann Mathe. Geh mit einer Souveränität an die Aufgabe, auch wenn du sie nicht fühlst: Tu erst mal so. Sei konzentriert und stecke die Energie in die Lösung, nicht in das Problem.“

Ein paar Jahre später war ich wieder auf dem Gymnasium. Leistungskurse Chemie und Deutsch. Ich war dorthin zurückgekehrt, weil ich es „ihnen zeigen wollte.“ Weil ich ihnen mit „einer anderen Haltung“ begegnen wollte. Ich wollte beweisen, dass Mädchen sehr wohl Mathe können. Und Physik. Und dass das einzige Mädchen im LK Chemie absolut richtig am Platz ist.

Weibliche Vorbilder

Im letzten Jahr – 2021 – produzierten wir den Podcast LAB GAP, moderiert von Victoria Müller. Neun hochrangige Wissenschaftlerinnen sprechen in diesem Podcast über ihre Wege, die größtenteils steinig waren. Sie erklären, dass ihr Wunsch, in Wissenschaft und Forschung als Frau Karriere zu machen, nicht selbstverständlich war. Dass es von Anfang an Gegenwind gab.

„Es gibt kein einziges Land, bei dem die Gender-Balance im All so unausgewogen ist wie in Deutschland.“

Dr. Suzanna Randall

Eine von ihnen ist Dr. Suzanna Randall, Astronautin-Anwärterin, die zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Insa Thiele-Eich aus 400 Bewerberinnen für ein Programm ausgewählt wurde, das „Die Astronautin“ heißt – mit dem Ziel, in diesem Jahr 2022 zur internationalen Raumstation zu fliegen. Tatsächlich hat Deutschland bereits elf Menschen ins All geschickt: allesamt Männer. Keine einzige Frau. „Unbegreiflich“, findet Dr. Suzanna Randall. „Es gibt kein einziges Land, bei dem die Gender-Balance im All so unausgewogen ist wie in Deutschland.“ Dr. Suzanna Randall führt das auf diesen allgemeinen absurden Irrglauben zurück, der sich festgesetzt hat wie uralter Schimmel überall in der Gesellschaft: „Man sagt zwar nicht mehr, dass Frauen körperlich nicht dazu geeignet seien, ins All zu fliegen. Aber es gibt dieses soziale Vorurteil: Frauen sollten lieber nichts Gefährliches machen und lieber zu Hause bleiben.“

„Nicht die Menschen müssen so verändert werden, dass sie in die Struktur passen. Die Strukturen müssen verändert werden.“

Dr. Ellen Damm

Zu Hause bleiben. Darüber kann eine andere Wissenschaftlerin, die wir zu Gast hatten im Podcast, nur leise lachen. Dr. Ellen Damm war als Biogeochemikerin Leiterin des Teams „Biogeochemie“ der Mission „MOSAiC“ (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate) auf dem Forschungseisbrecher Polarstern. Die Vorbereitung dauerte ganze zehn Jahre. Die MOSAiC-Expedition war eine vom Alfred-Wegener-Institut angeleitete internationale Arktisexpedition. Ziel der Expedition ist ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge zwischen globalen Klimaprozessen und der zentralen Arktis. Dr. Ellen Damm hat drei Kinder und sie habe bei allen Schwierigkeiten, so erzählt sie im Podcast, von der Zweigleisigkeit profitiert. Aber dann sagt sie einen einen Satz, den ich sehr wichtig finde: „Nicht die Menschen müssen so verändert werden, dass sie in die Struktur passen. Die Strukturen müssen verändert werden.“ Sie spricht von einem Reformstau in Deutschland. Dazu gehöre auch, dass es Mädchen und jungen Frau sehr schwer gemacht werde, in MINT-Berufe zu gehen. Nach wie vor.

„Wir coden die Gesellschaft der Zukunft. Das müssen so viele so diverse Menschen wie möglich machen.“

Kenza Ait Si Abbou

Dass die Frauen, die bereits in diesen Berufen arbeiten, weitestgehend unsichtbar sind, dagegen engagiert sich Kenza Ait Si Abbou, Senior Manager Robotics and Artificial Intelligence bei der Deutschen Telekom IT in den Bereich Robotic und AI-Solutions. „Eine Maschine“, sagt Kenza Ait Si Abbou bei LAB GAP, „ist nicht automatisch neutral. Sie wird so diskriminieren, wie die Gesellschaft es tut. Sie lernt von den Daten, die wir ihr geben, die ein Abbild unserer Gesellschaft sind.“ Gerade im Bereich KI sei es deshalb wichtig, dass so viele so diverse Menschen wie möglich an der Codierung der Gesellschaft der Zukunft beteiligt sind. Kenza erhielt für ihre Arbeit den Digital Female Leader Award. Aber sie widerspricht laut, wenn sie in Interviews hört, sie sei die einzige Frau in ihrem Bereich. Das sei falsch. Die allerersten Programmiererinnen seien Frauen gewesen. Und auch heute arbeiten viele Frauen in ihrem Bereich – nur eben unsichtbar im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen.

„Ich habe viel Energie an unnötigen Stellen verloren und mich oft gefragt: Warum muss ich hier eigentlich permanent meine Frau stehen?“ Jessica Burgner-Kahrs

Dr. Jessica Burgner-Kahrs

Dass Frauen unsichtbar sind in den MINT-Berufen, ist auch kein Wunder, wenn man sich die Podcastfolge mit Jessica Burgner Kahrs anhört. Sie studierte Informatik und entwickelte das erste Robotersystem für das automatisierte, lasergestützte Schneiden von Knochen. Schließlich forschte sie an der Vanderbilt University in Nashville – und wurde mit einem Förderprogramm zur Rückgewinnung deutscher Wissenschaftler*innen nach Deutschland zurückgeholt. An der Leibniz Universität Hannover betrieb sie Grundlagenforschung im Bereich der Kontinuumsrobotik, aber obwohl sie ganz vorne mit dabei war, bekam sie immer nur befristete Verträge. „Es war ehrlich gesagt anstrengend als Frau in einer MINT-Fakultät. Ich habe viel Energie an unnötigen Stellen verloren und mich oft gefragt: Warum muss ich hier eigentlich permanent meine Frau stehen?“ Jessica Burgner-Kahrs bekam ein Angebot von der Universität Toronto, die zu den besten 20 Universitäten der Welt zählt. Sie verließ Deutschland für ein diverseres Team und eine Universität, an der bereits die Hälfte aller Dekaninnen weiblich sind. „Exzellenz“, sagt sie, „gibt es nur, wenn Diversität besteht.“

Female Empowerment

Wir brauchen die Gleichberechtigung fördernde Formate, Aktivistinnen, feministisch denkende Menschen wie meinen Mathelehrer damals, um verstaubte Rollenbilder nicht immer weiter zu tragen an nachfolgende Generationen. Ich selber habe inzwischen eine vierjährige Tochter. Und ich will mit anderen Frauen vorangehen.

Dazu gehört, dass ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen tolle Wissenschaftlerinnen sichtbar machen und damit Vorbilder schaffen möchte – für meine Tochter und überhaupt für alle nachfolgenden Generationen. Vorbilder, die sich hinstellen und laut sagen:

„Für dich gibt es nicht nur Rosa. Dir stehen alle Farben zur Verfügung. Du hast alle Möglichkeiten. Lass dir nichts anderes einreden. Schau in alle Richtungen. Und dann treffe deine ganz eigene persönliche Entscheidung.“

  1. Das ist soo wichtig , danke. Ich bin so dankbar, dass ich nie mit solchen Vorurteilen zu kämpfen hatte, obwohl auch nicht aus einem Akademikerhaushalt, Abi mit LKs in Chemie und Mathe und dann Chemieingenieurwesen studiert … Vielleicht sollte man aber auch anfangen Frauen zu zeigen die nicht nur die Extreme bedienen, ich glaube das kann einschüchternd wirken. Es gibt sie aber auch, die ganz normalen Ingenieurinnen, Informatikerinnen, die einen super Job machen und über die viel zu wenig gesprochen wird 😉

    1. Vielen Dank, liebe Susanne, für deinen ebenso wichtigen Kommentar. Du hast vollkommen recht. Und ich denke, dass eben diese Frauen, wenn sie sichtbar gemacht werden, große Vorbilder für Schüler*innen sein können und dass dadurch dieses veraltete Denken nach und nach verschwinden kann.

  2. Liebe Anne-Kathrin,
    das ist so ein wichtiges Thema. Es ist schön zu lesen, dass aus einem Schultrauma so ein positiver Antrieb entstehen kann. Denn wenn jemand sagt: “Mit dir ist es sinnlos, Mathe zu lernen.”, dann ist das ja nicht die Wahrheit – sondern im Grunde ein Ausdruck, dass etwas mit dem Schulsystem nicht stimmt oder die Lehrerin, der Lehrer mit seinem Latein am Ende ist. Wenn sich jemand an mich als Psychologin wendet, dann lande ich ganz oft bei einem Schultrauma. Wenn das aufgelöst wurde, dann geht auch nicht mehr so viel Energie verloren – es ist viel leichter, seine Frau zu stehen.
    Viele Grüße aus Südfrankreich

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