Susann Brückner und Caroline Kraft sitzen auf dem Asphalt. Sie tragen schwarze Hosen und Jackets.
Susann Brückner und Caroline Kraft (c) Christian Werner

“Wäre es so verrückt, eine bedingungslose Trauerzeit einzuführen?”

Über den Tod will niemand sprechen. Zwei, die es dennoch tun, sind Susann Brückner und Caroline Kraft. Was als Gespräch zwischen zwei Kolleginnen über „ihre Toten“ begann, führte zu einer dicken Freundinnenschaft, einem erfolgreichen Podcast und der Erkenntnis, dass Trauer eine empowernde Erfahrung sein kann.

Der Tod ist den zwei Freundinnen nicht unbekannt. Susann verlor mit 19 erst ihren Vater und dann, 18 Jahre später, auch ihren Bruder durch Suizid. Carolines Ex-Freund nahm sich ebenfalls vor einigen Jahren das Leben. Wie soll man so etwas verkraften? Wie weitermachen? Und wie sagt man als Freund*in in so einer Situation das Richtige? Unbeholfen kreisen wir im Eiertanz um das Thema Tod herum – dabei betrifft er uns früher oder später alle. Schluss mit dem Geeiere, dachten sich Caroline und Susann. Bei uns im Interview erzählen sie, warum der Tod keinen Geheimbund braucht und die Trauer keine Deadline hat.

Ihr beiden macht seit ein paar Jahren gemeinsam den erfolgreichen Podcast „endlich. Wir reden über den Tod, nun folgte euer Buch „endlich. Über Trauer reden. Wie hat euer gemeinsamer Austausch über den Tod begonnen?

Caroline: „Als Stefan, mein Ex-Freund, sich das Leben nahm, fiel ich längere Zeit bei der Arbeit aus. Susann und ich waren damals Kolleginnen in einem Verlag. Als sie hörte, was passiert war, schrieb sie mir eine Mail, in der stand: „Wenn du mit jemanden reden willst, die dich nicht betroffen anschaut, dann sag mir Bescheid. Ich hab Erfahrung mit dem Thema.“ Das fand ich total gut. So beherzt hatte mir bis dahin noch niemand angeboten, über meinen Verlust zu sprechen. Die meisten Menschen in meinem Umfeld waren hilflos, betroffen und unsicher. Also verabredete ich mich mit Susann in einer Kneipe, um über unsere Toten zu sprechen. Wir haben gelacht, geweint und sehr viel Schnaps getrunken – und konnten ganz normal über das sprechen, was wir beide erlebt haben.“

Trauer wird zu einem privaten Thema gemacht, dabei betrifft es uns früher oder später alle.

Susann: „Für mich war das auch sehr besonders. Ich hatte zwar Erfahrung mit dem Thema, weil mein Vater 15 Jahren vorher ebenfalls durch Suizid gestorben war, hatte aber noch nie so richtig mit jemandem darüber geredet – außer in meiner Therapie und mit komplett wildfremden Leuten. Aber nicht mit meinen Freund*innen oder Kolleg*innen, was aber auch daran lag, dass ich das nie wollte. Bei Caro war es dann anders. Wie ich interessiert sie sich für Punkmusik, hängt gerne in Neuköllner Queerkneipen rum. Ich hatte das Gefühl, dass es eine gute Gesprächsebene zwischen uns gibt. Dann ist ihr diese Scheiße passiert und aus einem Impuls heraus, schrieb ich ihr die Mail. Heute sind wir richtig dicke Freundinnen und ich glaube, der Tod in unseren Leben hat dazu geführt, dass das sehr schnell ging. Bei dem Thema ist einfach kein Platz für Bullshit!“

In eurem Buch sagt ihr, es komme euch so vor, als gäbe es einen Geheimbund der Trauernden: erst, wenn man selbst einen geliebten Menschen verliert, erzählen die anderen von ihren Erfahrungen. So ein Geheimbund ist irgendwie schön, dennoch plädiert ihr ja ausdrücklich für mehr Offenheit.

Susann: „Das ist der Geheimbund, in dem man nie sein wollte. Wenn es dann aber doch passiert, dass man einen geliebten Menschen verliert, ist es schön, wenn es Leute gibt, die da sind und mit denen man sprechen kann.“

Caroline: „Interessanterweise war es beim Kinderkriegen für mich genauso. Auch da dachte ich mir: Niemand spricht darüber, wie schwer es ist, ein Kind zu kriegen und Mutter zu werden. Alle halten die Klappe, bis es so weit ist. Und genauso ist es auch mit der Trauer. Meiner Meinung nach hilft es in beiden Fällen überhaupt nicht, diesen bekackten Geheimbund zu haben. Es würde helfen, wenn wir besser vorbereitet wären. Trauer wird zu einem privaten Thema gemacht, dabei betrifft es uns früher oder später alle.“

Wie kann Trauer aussehen?

Caroline: „Trauer ist so unterschiedlich. Manche Menschen fallen wie ich in ein Loch und spüren für richtig lange Zeit keinen festen Boden unter sich. Sie wollen über nichts anderes mehr sprechen und haben vielleicht sogar das Gefühl, das nicht zu überleben. Das ist das eine Extrem. Das andere Extrem zeigt sich an dir, Susann. Du hast wie gewohnt weiter gemacht, brauchtest ganz viel Struktur und wolltest eben nicht sofort drüber sprechen. Von diesen Facetten haben die wenigsten eine Ahnung – dabei würde es helfen, sie zu zeigen, weil es auf einmal so viele Fragen gibt, wenn man trauert: Trauere ich zu viel, trauere ich genug? Darf ich überhaupt trauern? Ist es normal, so aus dem Leben zu fallen? Verliere ich gerade den Verstand?“

In eurem Buch schreibst du, Caro, dass du anfangs nicht sicher warst, ob deine starke Trauer überhaupt gerechtfertigt war, weil es sich um den Tod deines Ex-Freundes handelte und ihr zum Zeitpunkt seines Todes kein Paar mehr wart. Woher kam diese Unsicherheit und was hat sie mit dir gemacht?

Caroline: „Wenn ich Menschen in meinem Umfeld erzählt habe, was passiert ist, habe ich jedes Mal gemerkt, wie sie aufatmeten, wenn ich erklärte, dass wir kein Paar mehr waren. Nach dem Motto: „Puh, dann ist es ja nicht so schlimm.“ Wenn du aber selbst in dem Moment richtig stark in der Trauer steckst, fühlt sich so eine Reaktion wie eine Ohrfeige an. Gleichzeitig ging es mir teilweise genauso wie ihnen. Auch ich habe mich gefragt, ob ich wirklich so sehr um meinen Ex-Freund trauern darf. Heute weiß ich, dass es dafür sogar einen Begriff gibt: aberkannte Trauer. Wir alle haben bestimmte Normen verinnerlicht, wir meinen, beurteilen zu können, wer wie viel um jemanden trauern darf. Aber in Wirklichkeit kann das nur jede*r selbst für sich bestimmen. Ich habe mir dann im Nachhinein das Recht gegeben, so zu trauern, wie ich es gebraucht habe.“

Welche Reaktionen hättet ihr euch beide von eurem Umfeld gewünscht? Sätze wie  “Herzliches Beileid”, “Oh…” oder “Das wird schon wieder” waren es vermutlich nicht?

Susann: „Das Wichtigste ist das Anerkennen von Trauer. Die Sätze, die du nennst, sind in der Tat schwierig, weil sie häufig noch viel mehr oder etwas ganz anderes aussagen. Megan Devine hat dafür einen Begriff geprägt: Ghost Sentences, Geistersätze. An dem Satz „Das wird schon wieder“ hängt beispielsweise noch der unausgesprochene Nachsatz „…aber lass mich jetzt bitte mit deinem Schmerz in Ruhe.“ Es ist okay, nicht zu wissen, was man sagen soll, aber dann sagt man am besten genau das, statt um den Elefanten im Raum herum zu reden. Mir hätte es geholfen, wenn mich jemand gefragt hätte: „Willst du drüber reden?“ oder „Willst du mit auf die Party kommen?“ – mit 19, nach dem Tod meines Vaters, hätte ich mir das gewünscht, es hat mich aber niemand gefragt. Ich kam mir wie ein Alien vor.“

Ich habe mir dann im Nachhinein das Recht gegeben, so zu trauern, wie ich es gebraucht habe.

Caroline: „Viele Menschen haben mir damals gesagt: „Melde dich, wenn du was brauchst“. Danach habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Als Trauernde hatte ich aber weder die Kraft noch die Energie, mich selbst zu melden. Oft weiß man in dieser krassen Situation gar nicht genau, was man gerade braucht. Wenn ihr helfen wollt, dann macht konkrete Angebote: Kinderbetreuung, Wäsche waschen oder einkaufen. Ich konnte damals nicht mal mehr in den  Supermarkt gehen oder mir ein Abendessen kochen.“

Trauer hat ein schlechtes Image. Wenn es anderen schlecht geht, wollen wir, dass es ihnen so schnell wie möglich besser geht, weil wir sie lieben. Aber auch, weil alles seinen gewohnten Gang nehmen soll. Wieso stört Trauer so sehr?

Susann: „Daran ist auch der Kapitalismus schuld! Und die Grundhaltung, dass wir alle Leistung erbringen und funktionieren müssen. In diesem System ist Trauer nicht vorgesehen. Zumindest nicht, wenn sie länger als zwei Tage dauert – und das auch nur bei den engsten Angehörigen, bei deren Tod uns ein zweitägiger Sonderurlaub zusteht. Zwei Tage!“

Caroline: „Ich finde, wir sollten bei diesem Funktionierenmüssen nicht mitmachen und uns von mehr Dingen stören lassen, auch von Trauer. Wäre es wirklich eine so wahnsinnig verrückte Sache, eine bedingungslose Trauerzeit einzuführen? Eine Trauerzeit, die sich jede*r nehmen kann, unabhängig davon, wer gestorben ist und in welchem Verhältnis die Person zu einem stand. Ich denke nicht, dass unsere Gesellschaft dadurch zusammenbrechen würde. Es gibt ja mittlerweile auch Firmen, in denen die Mitarbeitenden selbst bestimmen dürfen, wie viel und wann sie sich Urlaub nehmen und das funktioniert auch, ohne dass das ganze System zusammenbricht.“

Caroline, du sagst, du kanntest niemanden, der wegen des Todes eines geliebten Menschen aus dem Job ausgefallen ist. Was hat dir den Mut gegeben, dir dennoch die Zeit und Aufmerksamkeit zum Trauern zu geben?

Caroline: „Das war letztlich eine Notwendigkeit. Ich habe versucht zu funktionieren und weiterzumachen, aber mein Körper und meine Psyche haben mir sehr deutlich gesagt, dass das nicht geht. Irgendwann hab ich eingesehen, dass es nicht hilft, dagegen anzugehen und ich nicht absehen kann, wie lange es mir so gehen wird. Das anzuerkennen und mir selbst die Erlaubnis zu geben, nach meinen Bedürfnissen zu handeln, war total befreiend. Dabei hat mich auch meine Therapeutin sehr unterstützt, die mir die Frage stellte, warum ich denn glaube, funktionieren zu müssen. Ich hab das erst gar nicht verstanden. Funktionieren war für mich eine Selbstverständlichkeit. Meine damalige Chefin hat zum Glück sehr verständnisvoll reagiert, als ich ihr sagte, dass ich nicht mehr arbeiten kann. Sie schlug vor, dass ich mich ein halbes Jahr krankschreiben und vertreten lasse und jederzeit zurückkommen kann, wenn ich das Gefühl habe, dass ich wieder arbeiten kann. Das wäre vorher für mich unvorstellbar gewesen.“

Sex kann genauso eine Coping-Strategie sein wie alles andere auch.

Bei euch beiden hat der Tod von geliebten Menschen und der Trauerprozess zu einer Art der Selbstermächtigung geführt. Ihr habt euch den Raum, die Zeit und die Kraft gegeben zu trauern und (öffentlich) über den Tod zu sprechen. Ist Trauer ein feministischer Akt?

Susann: „Trauer kann auch eine empowernde Erfahrung sein. Wir beide haben gemerkt, wie viel Stärke wir entwickeln konnten, in dem wir uns verletzlich gezeigt haben und konnten uns durch die gemeinsamen Gespräche im Podcast und durch die Arbeit am Buch auch die Kontrolle über unsere eigene Geschichte zurückgeben. Das hat revolutionäres Potenzial in diesem kapitalistischen patriarchalen System, in dem wir leben.“

Tod und Trauer an sich sind ja schon Tabuthemen, aber ihr legt noch eine Schippe drauf und verbindet sie mit den Themen Sex und Körperlichkeit. Wieso schließt das eine das andere nicht aus?

Susann: „Man wird ja kein völlig anderer Mensch, nur weil jemand gestorben ist, den man liebt und um den man trauert. Man hat immer noch Bedürfnisse und einen Körper. Und so unterschiedlich die Arten der Trauer sind, so unterschiedlich sind auch die Bedürfnisse. Es gibt Menschen, die während der Trauer gar keinen Sex mehr haben möchten und es gibt welche, denen Sex extrem guttut oder solche, die ihn brauchen, um überhaupt irgendwas zu spüren.“

Caroline:Sex kann genauso eine Coping-Strategie sein wie alles andere auch und ich finde, genau deshalb müssen wir darüber sprechen. Die einen schlafen fünf Jahre im T-Shirt der verstorbenen Person und wollen es nie wieder waschen, die anderen haben wilden Sex…“

Susann: „… und dazwischen gibt es noch ganz viele andere Strategien!“

Über den Tod und den Umgang mit ihm zu sprechen kann also von der Scham befreien, die man heimlich mit sich herum trägt.

Susann: „Genau, das ist ganz wichtig. Mir wurden damals mit einem Mal ganz viele Zuschreibungen von außen gemacht. Niemand konnte damit umgehen, dass mir etwas so schreckliches passiert ist. Ich habe mich dafür geschämt, dass ich nicht mehr zur Gesellschaft der „normalen“ Menschen gehörte. Ich will mich aber für meine Geschichte nicht schämen. Der einzige Weg für mich, um das zu verhindern, ist, mich ihrer zu ermächtigen und sie so zu erzählen, wie sie sich für mich angefühlt hat.“

Ich habe mich dafür geschämt, dass ich nicht mehr zur Gesellschaft der „normalen“ Menschen gehörte.

Ihr habt beide eigene Rituale und Methoden gefunden, um mit eurer Trauer im Alltag zurecht zu kommen. Susann, du hast gemerkt, dass du auf Englisch besser über den Verlust deines Vaters sprechen konntest.

Susann: „Nachdem Tod meines Vaters bin ich für eine Zeit ins Ausland gegangen. Eine andere Sprache kann Distanz schaffen, ähnlich wie Humor. Indem ich auf Englisch sprach und mich dort niemand kannte, konnte ich aus meiner Alien-Rolle heraus und mich komplett neu erfinden. Man hat einfach eine andere emotionale Nähe zu den Dingen, wenn man sie nicht in seiner Muttersprache sagt. Auf Englisch konnte ich die schreckliche Erfahrung nehmen, sie vor mir abstellen und einmal drum herum gehen. Ich konnte sie von außen betrachten. Das hat mir total geholfen, weil ich so sehen konnte: Das bin ja gar nicht ich, das ist nur ein Teil von mir.“

Am Ende jedes Kapitels in eurem Buch empfehlt ihr verschiedene Bücher, Songs und Serien, die sich direkt oder indirekt mit dem Thema Trauer befassen. Welche Rolle spielt Literatur und Popkultur für euch, wenn es ums Trauern geht?

Caroline: „Literatur war für mich während meiner Trauer lebensrettend. Ich habe jahrelang fast ausschließlich Bücher gelesen, in denen es im weitesten Sinne um Tod und Trauer geht und darum, wie Menschen mit Krisen umgehen. Genauso war es mit Musik, die mich nochmal auf ganz andere Weise erreicht hat.“

Susann: „Wir wollen neue Bilder und Referenzen aufzeigen. Es gibt eben auch coole Songs, die man hören kann, wenn man trauert. Das müssen nicht immer irgendwelche Bach-Sonaten sein, die bei Beerdigungen gespielt werden. Und es gibt Serien, die das Thema auf eine Art und Weise behandeln, dass man sich niederknien möchte. Popkultur gehört genauso zu uns wie alles andere, wieso sollte sie kein Teil der Trauer sein?“

Vielen Dank euch beiden!

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