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Endlich ist es offiziell: Auch Frauen über 50 haben ein Recht auf Sex

Haben Frauen über 50 noch ein Recht auf ein erfülltes Sexleben? Es ist tragisch, dass wir im Jahr 2017 überhaupt über diese Frage sprechen müssen. Aber ein portugiesisches Gericht war der Meinung: Nein. Zum Glück gibt es da noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

 

Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit und Verlust des Sexlebens

Heute widerlegte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Urteil im Fall Carvalho. Die Portugiesin Maria Ivone Carvalho klagte gegen den Gerichtsbeschluss in ihrer Heimat Portugal, der ihr aufgrund ihres Alters und Geschlechts das Recht auf ihre sexuellen Bedürfnisse abgesprochen hatte. Der EGMR bestätigte mit seinem heutigen Urteil, dass die Sexualität von Frauen über 50 den gleichen Stellenwert hat, wie die von Männern. Herzlichen Dank.

Seit über 20 Jahren lebt Maria Ivone Carvalho aus Portugal nach einer misslungenen Operation mit schweren Schmerzen und Inkontinenz. Bei dem Eingriff wurde fälschlicherweise ein Nerv durchtrennt, der für die Funktion ihres Schließmuskels, der Blase und der äußeren Geschlechtsorgane zuständig ist. Arbeiten, selbst sitzen und gehen sind schmerzhaft, Geschlechtsverkehr ist für sie seit dem Kunstfehler undenkbar. Darüber zerbrach auch ihre Ehe. 
Im Jahr 2000 gewann Maria Carvalho ihre erste Klage gegen das Krankenhaus. Ihr wurden 80.000 Euro Schmerzensgeld für ihre emotionalen und physischen Belastungen zugesprochen, weitere 16.000 Euro für Unterstützung im Haushalt, den sie nicht mehr schmerzfrei führen konnte.

Sex über 50 von wenig Bedeutung

In der Revision erklärte das portugiesische Gericht die Summen jedoch für zu hoch. Die Begründung: Maria Carvalho sei ja bereits 50 Jahre alt, habe schon zwei Kinder geboren und damit sei ihre Sexualität nicht mehr von großer Bedeutung. Außerdem, mit erwachsenen Kinder habe sie schließlich nur noch ihren Mann um den sie sich kümmern müsse. Eine Vollzeit-Haushaltshilfe sei deshalb übertrieben. Die Schadensersatzzahlung wurde auf 50.000 und 6.000 Euro reduziert.

Carvalho befindet sich seit vielen Jahren in psychologischer Behandlung. In einem Interview mit CNN zeigte sie sich bestürzt über das Revisionsurteil, sie fühle sich als Frau und Mutter zutiefst diskriminiert. Ihr Anwalt Vitor Manuel Ribeiro äußerte sich im Schweizer Online-Magazin 20min.ch bestürzt. „Die Ironie an dem ganzen Fall ist, dass zwei Frauen den Vorsitz führten. Eine war über 55. Ich weiss nicht, was ihr Problem war.”

5:2 für Carvalho

Heute, 22 Jahre nach ihrer OP und 17 Jahre nach ihrer ersten Klage, bekommt die mittlerweile 70-jährige Maria Carvalho mit fünf zu zwei Stimmen Recht. Das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigte, dass das portugiesische Urteil gegen Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) und Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße. Die Entscheidung des portugiesischen Gerichts sei diskriminierend, liest der Beschluss. Besonders, weil es Carvalhos Recht auf Sexualität und damit die Selbstverwirklichung als Frau aufgrund ihres Alters und ihres Geschlechts trivialisiert habe. Der EGMR weist in seinem Urteil außerdem auf zwei Gerichtsbeschlüsse hin, die das portugiesische Gericht in den Jahren 2008 und 2014 getroffen hatte: Hier hatten Männer aufgrund von ärztlichen Kunstfehlern ihre Potenz verloren. Das Gericht bescheinigte den Klägern ganz unabhängig von Alter und Vaterschaft eine enorme Einschränkung und schwere psychische Belastung durch den Verlust ihrer Potenz.

Patriarchalische Traditionen

Die Vorsitzende Richterin am EGMR, Ganna Yudkivska, äußerte sich schockiert über das portugiesische Gericht: Das Urteil setzte weibliche Sexualität mit Fortpflanzung gleich. Es habe sich höchst patriarchalisch und voreingenommen gezeigt. Vorurteile dieser Art, erklärte sie im MDR, bedrohen Gegenwart und Zukunft der europäischen Gesellschaft und müssen um jeden Preis bekämpft werden. Aber selbst in Straßburg war man sich nicht einige. Neben den zwei Richterinnen sprachen sich nur drei der fünf männlichen Richter gegen Portugal aus.

Wie kommt das Gericht eines europäisches Land dazu, einer Frau nicht die gleichen Rechte zuzusprechen, wie Männern? Es ist schockierend, dass Mann und Frau immer noch mit zweierlei Maß gemessen werden. Insofern ist das Urteil des EGMR als wichtige Mahnung an alle nationalen Gerichte in Europa zu verstehen. Gleichberechtigung ist ein elementares Grundrecht und Frauenrechte sind immer auch Menschenrechte.  

20 Jahre Kampf 

Die wahre Heldin in dieser Geschichte, Maria Carvalho, ist am Ende auch die große Verliererin. Sie hatte den  Mut und das Durchhaltevermögen hatte, sich über das große Tabu von Sex und Alter hinweg zu setzen. Sie hat bis zur letzten Instanz für ihr Geschlecht, ihre Sexualität und ihr Recht gekämpft. Sie war mit einer Forderung über 175.000 Euro an das Land Portugal vor den EGMR gezogen. Der aber sprach ihr nur 3.250 Euro Entschädigung zu. Darüber hinaus trägt Portugal die Verfahrenskosten. Es bleibt ein unverhältnismässig kleine Entschädigung für Maria Carvalho – für den Verlust ihrer Libido, ihres Selbstwerts und ihrer Lebensqualität. Hoffentlich ist ihr klar, wie viele Frauen in Zukunft davon profitieren werden, sich auf den Fall „Carvalho Pinto De Sousa Morais v. Portugal, Application no. 17484/15“ beziehen zu können. 


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