Inwiefern wirkt sich ADHS auf den Alltag aus? Warum wurde es erst im Erwachsenenalter diagnostiziert? Und was ist ADHS überhaupt? Wir haben mit betroffenen Frauen gesprochen – Ninette ist eine von ihnen.
„Naja, das ist dann halt so“
Ninette selbst hat gar nicht in Betracht gezogen, dass ihre Reizempfindlichkeit und das Fehlen jeglicher Filter auf ADS beziehungsweise ADHS hinweisen könnte. Letztlich war es ihr Therapeut, bei dem sie damals eigentlich aus ganz anderen Gründen war, der sie zum ADHS-Test anregte. Wie sie reagierte? „Naja, das ist dann halt so“. Sie hatte in der Zeit genug andere Sorgen, als dass sie sich auch noch damit beschäftigen konnte.
Wie die 24-Jährige ihren Alltag mit ADS am besten im Griff behält, hat sie uns im Interview erzählt.
Du willst zuerst mehr über das Krankheitsbild erfahren? Zum Interview mit Dr. Eike Ahlers von der Berliner Charité geht es hier entlang.
Ninette, wie sah dein Alltag vor der Diagnose aus?
„Ziemlich chaotisch in erster Linie. Ich muss dazu sagen,
dass ich durch das undiagnostizierte ADS eine Reihe von Komorbiditäten
(Depression, Essstörung) hatte, die mir rückblickend vor allem als Teenager zu
schaffen gemacht haben. Da gab es mehrere Schulabbrüche,
lange Phasen von erfolgloser Suche nach einem Ausbildungsplatz, und eine lange und
komplizierte Geschichte mit Psychotherapien, Medikamenten et cetera. Ich habe viele
Diagnosen bekommen, bevor die richtige dabei war.“
Anhand
welcher Indizien hast du gemerkt, dass du von ADS beziehungsweise ADHS vielleicht betroffen sein
könntest? Wie alt warst du zu dem Zeitpunkt?
„Ich
selber habe das zuerst gar nicht bemerkt. Nach Aussagen meiner Mutter kam der
Verdacht zum ersten Mal im Grundschulalter auf, auch als Folge mehrerer
Intelligenztests, die eine Hochbegabung feststellten. Damals wurde das aber
nicht verfolgt, sondern der nicht so stabilen Situation daheim angelastet – die beliebte ,Erziehungsfehler‘-These. Relevant wurde es dann erst wieder,
als der Kinder- und Jugendpsychiater, bei dem ich damals aus anderen
Gründen war, anregte, mich testen zu lassen.“
Wie
wurde es letztlich festgestellt?
„Durch
einen Test bei eben jenem Kinder- und Jugendpsychiater in der zweiten
Jahreshälfte 2010. Da war ich 18 oder 19. Damals musste sogar noch ein Test aus
Komponenten anderer Tests zusammengestellt werden, weil es keine dezidierten
Tests für ADHS im Erwachsenenalter gab. Dabei
kam heraus, dass ich ein ADS ohne Hyperaktivitätsanteil habe.“
Wie
hast du dich gefühlt, als die Diagnose bestätigt wurde?
„Ganz ehrlich, damals war das eher eine ,Na gut, dann ist
das jetzt so‘-Situation, weil ich viel damit beschäftigt war, mein Leben
anderweitig zu sortieren und froh war, dass die Medikamente mir einiges
erleichtert haben.“
Inwiefern
wirkt sich ADS auf deinen Alltag aus? Welche Lebensbereiche sind besonders
betroffen?
„Am stärksten ringe ich mit der Reizfilterproblematik. Ich bin
sehr licht- und geräuschempfindlich und habe immer Gehörschutz und Sonnenbrille
bei mir. Lesen oder lernen an öffentlichen Orten geht nur sehr begrenzt – ich
muss dazu Musik hören, instrumental, in einer Lautstärke, die Umgebungsgeräusche
überdeckt, aber nicht so laut ist, dass sie mich anstrengt. Die Sonnenbrille
kommt auch zum Einsatz, wenn es bewölkt ist oder in Räumlichkeiten, in denen
das Licht unangenehm ist – das weiße Licht von Neonröhren ist mein persönlicher
Feind.
Außerdem mangelt es mir an Impulskontrolle. Mir fällt es schwer, meinem Gegenüber zu folgen, nicht gedanklich
abzudriften oder ins Wort zu fallen und in meinen Antworten nicht zwischen
meinen Gedanken hin und her zu springen oder übermäßig lange zu reden. Bei Aufregung verstärken sich diese Symptome. Das wirkt aber nicht nur nach außen so, sondern auch ich selbst kann schlecht Prioritäten setzen und meine Gedanken zur Ruhe kommen lassen.“
Wie hat ADS deinen Lebenslauf geprägt,
beispielsweise in der Schule, in der Ausbildung, im Studium, im Beruf und in der Partnerschaft?
„Meine Schulbildung hat am meisten darunter gelitten. Erst nach der Diagnose und der Medikation war ich
überhaupt in der Lage, einen weiteren Anlauf zu starten und mein Abitur auf dem
zweiten Bildungsweg nachzuholen. Dazwischen lief es in diversen Jobs ähnlich – ich habe mich immer schnell in Dinge eingefunden, aber die klassische Tätigkeit in Vollzeit war zu kraftraubend, sodass ich immer wieder nach maximal einem halben Jahr
aufgehört habe. Auch während der letzten Schulzeit habe ich overload-bedingt häufig
gefehlt. Meine Freundschaften haben oft unter dieser Sprunghaftigkeit gelitten.“
Was
sind die größten Hürden, die du zu bewältigen hast?
„Ein
Gespür dafür zu entwickeln, wie es um meine Kräfte bestellt ist und mich nicht
zu überfordern. Und mir einzugestehen, dass es eine signifikante Einschränkung
ist. Ich
würde nicht voller Überzeugung sagen, dass ich eine Behinderung habe, aber ich
kann auch nicht vermeiden, auf gewisse Maßnahmen der Barrierefreiheit
angewiesen zu sein.
Die
zweite große Hürde war, meine Nachteilsausgleiche in Anspruch zu nehmen, soweit das
eben ging und nicht mehr den Anspruch zu haben, alleine alles ausgleichen zu können.
Oder generell, um Hilfe zu bitten – das war eine schwere Lektion und ist es
teilweise noch immer.“
Wie
gehst du mit der Diagnose um? Was hilft dir an Therapie und Medikamenten am besten?
„Seit meiner Diagnose bin ich medikamentös eingestellt. Die meiste Zeit davon mit einer
vergleichsweise geringen Dosis eines Retard-Produkts, die sich auch seit Jahren
nicht geändert hat.
Außerdem hilft es mir sehr, mich bewusst damit auseinanderzusetzen, welche Rolle das ADS in meinem Leben spielt, mich zu informieren sowie mit anderen Betroffenen auszutauschen.“
Gehst du offen mit der Diagnose um?
„Ich
behalte die Info in den meisten Teilen meines Lebens für mich. Mein Freundeskreis
weiß natürlich davon und auf Twitter mache ich auch keinen Hehl daraus, denn ich finde das Auflösen von Stigmata wichtig. Ich habe auch gezielt Lehrpersonen
in der Schule informiert, bei denen ich das Gefühl hatte, es würde auf
Verständnis stoßen. Darüber hinaus bin ich sehr vorsichtig.“
Kannst
du der Diagnose auch positive Eigenschaften abgewinnen?
„Absolut.
Ich glaube, dass meine Weltwahrnehmung sehr reichhaltig ist – detailgetreuer
und ,bunter‘ als bei neurotypischen Menschen – schamlose Generalisierung. Ein
Aspekt ist, dass ich mich sehr schnell und engagiert in etwas einarbeiten kann. Das erleichtert mir definitiv das Lernen – wenn auch leider nur für Dinge, die
mich wirklich interessieren. Ich kann mir Dinge extrem gut merken und wirklich
fokussiert und intensiv an etwas arbeiten. Ich kann gut kreativ sein und ich nehme oft Details und Muster wahr,
die anderen Leuten entgehen. Alles, was ich tue, mache ich entweder ganz oder
gar nicht. Je nach Situation ist das natürlich nicht immer positiv.“
Hat es bei der Diagnose eine Rolle gespielt, dass du eine
Frau bist?
„Persönlich habe ich noch keine spezifischen
Reaktionen darauf erlebt. Ich weiß generell, dass Frauen eher
unterdiagnostiziert sind und vermehrt den Diagnosetyp ohne
Hyperaktivität aufweisen, aber im Bezug auf persönliche Biografien kann ich
mich an nichts Bestimmtes erinnern.“
Fühlst du dich gut aufgehoben, was die medizinische Betreuung angeht?
„Jein. Ich bin
in psychiatrischer Behandlung – primär, um mir die Medikamente
verschreiben zu lassen und in ausgeprägteren Krisen eine Anlaufstelle zu haben. Ich war bis vor kurzem in Therapie, allerdings nicht
spezifisch wegen des ADS, aber auch das war hilfreich.
Es ist
schwer, jemanden zu finden, der mit der Diagnose, gerade im Erwachsenenalter, und den daraus resultierenden Problemen vertraut ist. Eine auf meine Diagnose
zugeschnittene Behandlung hatte ich bisher über den Test hinaus nicht. Ich habe auch oft das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, wenn ich bei Anamnesen
Ärzte oder Ärztinnen darüber informiere, dass ich ADSlerin bin.
Meinem Empfinden nach muss ich dem Fachpersonal oft ziemlich viel selbst erklären, hauptsächlich meine Medikation, und erstaunlich oft muss ich als Wikipedia-Artikel für meine
Diagnose herhalten.“
Wie stehst du zum Vorwurf „Modekrankheit“ und wie beurteilst
du die massive Steigerung im Bereich
diagnostizierter Kinder und verschriebener Medikamente?
„Im Grunde begrüße ich die höhere Anzahl von
Diagnosen im Kindesalter – wenn etwas ,häufiger diagnostiziert‘ wird, ist das meistens kein Zeichen dafür, dass mehr Menschen daran erkranken, sondern, dass die Diagnosekriterien ausgearbeitet wurden und das Bewusstsein
höher ist.
Hinsichtlich der schnellen Versorgung mit Medikation bin
ich allerdings skeptisch – gerade weil im Kindesalter noch viel mehr
durch therapeutische Unterstützung zu leisten ist. Wenn der Leidensdruck nicht nur temporär gelindert werden soll, sind Medikamente allein nur selten
eine gute Herangehensweise.
Und es macht das Leben für die schwerer, die ,wirklich‘ unter
einem ADHS leiden – weil es uns in Rechtfertigungszwang bringt, weil es den ,Modekrankheit‘-Mythos
füttert und uns damit teilweise vielleicht sogar lebensnotwendige Hilfe
erschwert.“
Gibt
es aus deiner Sicht noch gesellschaftlichen Aufklärungsbedarf oder fühlst du
dich mit deiner Diagnose ernst genommen und akzeptiert?
„Ich habe absolut nicht das Gefühl,
dass meine Diagnose ernst genommen und akzeptiert wird. Einerseits wird ADS beziehungsweise ADHS in Artikeln großer Zeitungen oftmals auf durch Medikamente ruhig gestellte Kinder und schwer erziehbare Jugendliche reduziert. Im gleichen Atemzug aber wird die Diagnose verlacht und als etwas dargestellt, das sich neupädagogisch überambitionierte Jungeltern als ,special snowflake‘-Abzeichen herbeiwünschen. Das macht mich sehr wütend.
Meiner Meinung nach findet zu wenig Differenzierung statt. Zwischen Eltern und Lehrpersonen, die vorschnell Schlüsse ziehen und von medizinischen Fachleuten gestützt werden, die vorschnell diagnostizieren, auf der einen Seite. Und der Wahrnehmung von ADHS als etwas, das
sich ,wegerziehen‘ lässt auf der anderen Seite. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es kursieren so
viele Gerüchte und Halbwahrheiten, aber wenn ADHSler und ADHSlerinnen davon erzählen, wie
ihr Leben wirklich aussieht, nimmt man sie selten für voll.
Es
macht das Leben schwer für jene, die merken, dass sie im Alltag, in der Schule, im Beruf Probleme haben, sich selbst in
ihrer Problematik nicht ernst nehmen und daher keine Diagnostik oder Hilfestellung
anstreben. Bei Frauen noch viel mehr als bei Männern, will ich meinen.
Welcher Tipp
hat dir am meisten geholfen, den du gern weitergeben würdest?
„Wenn man
diagnostiziert ist: Rücksicht auf sich selbst nehmen. Wenn man den
Verdacht hat, selbst ADHSler oder ADHSlerin zu sein, sollte man bitte den Mut haben, sich beraten zu
lassen. Ich weiß, der Trend geht zunehmend zur Selbstdiagnose, die Gründe
dazu leuchten mir auch ein, aber wenn möglich, sollte man sich professionelle
Unterstützung suchen.“
Themenwoche: Frauen mit ADHS
Diese Woche widmen wir dem Thema ADHS. Neben Dr. Ahlers, der uns die medizinische Sicht erklärt hat, erzählen bei uns diese Woche sieben Frauen von ihrem Alltag mit ADHS. Das sind die bisherigen Interviews, weitere folgen:
Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“ Weiterlesen
Andie: „Nach der Diagnose war klar: Ich bin gar nicht so abgefucked, das ist das ADHS“. Weiterlesen
Katarina: „In manchen Situationen würde ich meinem Sohn liebend gerne Ritalin geben…“. Weiterlesen
Jessy: „Dass ich nach dem Koksen nichts merkte, war für mich ein klares Indiz für ADHS“. Weiterlesen
Anna*: „Die Bezeichnung ,Modekrankheit‘ ist totaler Bullshit!“. Weiterlesen
@MeisemitHerz: „Ich will endlich im Paradies sein, um nicht mehr leiden zu müssen“. Weiterlesen