Wie geht man mit einer Fehlgeburt um? – Natascha Sagorski wurde zur politischen Aktivistin. Die Autorin will das Thema enttabuisieren. Sie kämpft für den gestaffelten Mutterschutz, gegen schlechte Familienpolitik und erklärt, warum sich am Ende nur Frauen für Frauenrechte einsetzen werden.
Für Natascha Sagorski war das Schweigen über ihre Fehlgeburt keine Option. Stattdessen wurde sie zur politischen Aktivistin. In einem offenen Gespräch beleuchtet sie die Notwendigkeit, dieses oft tabuisierte Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Warum es so wichtig ist, dass unsere Gesellschaft endlich beginnt, das Thema Fehlgeburten ernst zu nehmen – darüber spricht sie eindringlich und persönlich. Ein Aufruf zur Veränderung und zum Handeln.
Natascha, du hast ein Kind verloren, ich auch. Während mein Mann und ich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus quasi nie wieder darüber geredet haben, hast du ein Buch darüber geschrieben. Was ist der bessere Umgang?
„Der beste Umgang ist individuell verschieden. Für mich war es eine Befreiung, als ich angefangen habe, darüber zu sprechen. Die ersten Tage danach konnte ich gar nicht sprechen, nicht mal mit meiner Mutter, nicht mal mit meiner besten Freundin. Dabei bin ich ein Mensch, der sehr viel und gerne spricht. Dann habe ich angefangen mit meinem Mann beim Spazierengehen lange zu reden. Und dann habe ich es meinem Team erzählt, das ich zu der Zeit in einer Agentur geführt habe. Die Reaktionen waren toll, am nächsten Tag stand eine weiße Lilie auf meinem Schreibtisch. Nur ein kleines Signal, aber ich habe mich verstanden gefühlt.
„Es hat mir wahnsinnig geholfen zu sehen: Ich bin kein Einzelfall.“
Ab diesem Zeitpunkt habe ich überall, auch beim Friseur, gesagt: ,Ich hatte eine Fehlgeburt.’ Es gab keine einzige negative Reaktion, sondern fast immer: Oh. Kennen wir auch. Entweder ich selbst, meine Freundin, meine Frau, meine Kollegin, meine Schwester. Auf einmal war mein ganzes Umfeld voll von Fehlgeburten. Vorher hatte ich angenommen, ich wäre die Einzige. Ich bin die, die nicht funktioniert hat. Alle anderen funktionieren, in der Pampers Werbung sieht alles so schön aus, es muss die tollste Zeit deines Lebens sein. Bei mir war es halt überhaupt nicht so. Es hat mir wahnsinnig geholfen zu sehen: Ich bin kein Einzelfall, ich bin eine von vielen, das war eine Erleichterung.“
Sowohl in der Praxis als auch im OP fand ich den Umgang mit der Situation eher traumatisch. Wie gut betreut hast du dich in dieser sensiblen Situation gefühlt?
„Überhaupt nicht gut betreut. Wäre das anders gelaufen, wäre die ganze Erfahrung weniger traumatisch gewesen. Mir wurde zum Beispiel nicht gesagt, dass ich noch Anspruch auf eine Hebamme habe. Ich wusste das nicht, und viele andere Frauen mit Fehlgeburten erfahren das ebenfalls nicht. Dabei wäre eine Hebamme ein Fels in der Brandung in so einer Situation. Wir brauchen eine Aufklärungskampagne, damit jede Frau das erfährt, damit es zum Allgemeinwissen wird.
Auch der Umgang im Krankenhaus bei der Ausschabung war fürchterlich. Ich wollte schnell raus aus der Situation. Ich hatte ein totes Baby im Bauch, das war ganz schlimm für mich. Und dann musste ich einen Gang hoch laufen, vorbei an lauter riesigen Aufnahmen von Neugeborenen. Im Wartezimmer saß ich neben glücklichen, hochschwangeren Frauen, und musste zwölf Stunden auf die Operation warten. Vom Pflegepersonal habe ich dabei jede Geburt mitbekommen. Das ist ein Junge, das ist ein Mädchen! Es war wie in einem Film, ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland überhaupt so grausam laufen kann.
„Jede dritte Frau erleidet eine Fehl- oder Totgeburt.“
Es müsste mehr Leitlinien geben, wie mit Frauen nach Fehlgeburten in Kliniken und Praxen umgegangen wird und diese müssten dann auch bundesweit umgesetzt werden. Es gibt so viele Themen in dem Zusammenhang, die komplett totgeschwiegen werden. Die Frauen werden damit alleine gelassen. Es gibt Broschüren für alles, nur nicht für den Umgang mit Fehlgeburten. Es gibt Broschüren zum Einfrieren vom Nabelschnurblut für 4000 Euro und Baby-Yoga und Bauch-Fotoshooting und Nahrungsergänzungsmittel usw., aber mit Fehlgeburten lässt sich halt schlecht Geld verdienen. Dabei erleidet jede dritte Frau eine Fehl- oder Totgeburt.“
Warum mögen dennoch so viele Menschen nicht darüber sprechen? Wie enttabuisieren wir das Thema?
„Es sind zwei Komponenten. Weil wir so wenig wissen über Fehlgeburten und ihre Häufigkeit, ist unser erster Reflex, zu denken, wir hätten versagt. Niemand geht gerne raus und sagt: „Hey, ich habe versagt“. So funktionieren wir nicht.
Der zweite wichtige Aspekt ist: Selbst wenn eine Frau sich öffnen möchte, hat sie oft das Gefühl, es will keiner hören. Unsere Gesellschaft hält solche Themen nicht gut aus. Beim Smalltalk Thema kannst du auf die Frage der Befindlichkeit nicht antworten: ,Nicht gut, weil ich gerade mein Baby verloren habe’. Viele Frauen fürchten, ihre Umwelt damit zu belästigen. Wird von der Gesellschaft ja auch so vorgegeben. Diese bescheuerte 12-Wochen Regel, in der man nicht drüber reden soll, denn es könnte ja schief gehen, und dann hast du das mit dir selber auszumachen. Was für ein veraltetes schlimmes Denken. Den Frauen wird suggeriert, darüber spricht man nicht, das geht die anderen nichts an, das ist dein Problem. Get your shit together. Ein falsches Signal.“
Warum hält unsere Gesellschaft das nicht aus?
„Tod generell ist bei uns ein ganz schwieriges Thema und dann auch noch tote Babys, da herrscht eine große Angst. Ich kann das nachvollziehen, im Schwangerschaftsbuch habe ich die Seite mit Tod und Fehlgeburt auch immer überblättert. Das hat dazu geführt, dass ich keine Ahnung von Fehlgeburten hatte und dachte, ich müsste erst Schmerzen und Blutungen bekommen, bevor ich mein Kind verliere. Ich hatte nicht mal eine Schmierblutung, nichts, war alles in bester Ordnung. Morgens übergebe ich mich noch und mittags kriege ich die Nachricht, dass das Baby nicht mehr lebt.
„Wir müssen uns einen Raum in der Gesellschaft für diese traumatischen Themen erkämpfen.“
Deswegen ist es so wichtig, dass dieses Wissen über Fehlgeburten zum Allgemeinwissen wird und dass wir Gesetze wie den Gestaffelten Mutterschutz bekommen. Wir müssen uns einen Raum in der Gesellschaft für diese traumatischen Themen erkämpfen, und die Politik muss Rahmenlinien schaffen. Im Bundestag habe ich hinter den Kulissen häufig gehört: ,Wir haben da 2018 bei der Reform des Mutterschutzgesetzes einfach nicht dran gedacht. Wir hatten es nicht auf dem Schirm, dass wir ganz viele Frauen, nämlich die mit Fehlgeburten, damit ausschließen.’ Und warum hatten sie es nicht auf dem Schirm? Weil niemand darüber spricht. Auch, dass Frauen nach Fehlgeburten nicht krankgeschrieben werden, war wenigen geläufig.“
Hast du eine Krankschreibung bekommen?
„Nein, die Frau im Krankenhaus hat gesagt: Sie können morgen wieder arbeiten gehen. Dabei hatte ich sogar aktiv um eine Krankschreibung gebeten, denn am nächsten Tag kam ein großer Kunde nach München und ich wusste, das schaffe ich unmöglich. Mein Mann hat dann am nächsten Tag in der gynäkologischen Praxis angerufen, weil er gesehen hat, dass ich gar nicht in der Lage war, aufzustehen – ich habe bei jedem Wort geheult. Die Praxis meinte, sie seien nicht zuständig. Gott sei Dank war mein Hausarzt anders. Dessen Frau hatte auch mal eine Fehlgeburt und deswegen hat er mich eine Woche krankgeschrieben.“
Wie bist du da wieder herausgekommen?
„Ich habe Erfahrungsberichte von anderen Frauen gegoogelt. Ich bin nicht so der Typ Selbsthilfegruppe, aber ich wollte von Frauen lesen, mit denen ich mich identifizieren kann. Ich brauchte diese Aussicht: Denen ging es genauso scheiße, aber heute geht es ihnen wieder gut. Deswegen habe ich das Buch ,Jede dritte Frau’ geschrieben, das sind ja nur Erfahrungsberichte, daran kann man sich festklammern, ohne dass man sich selbst öffnen muss. Viele Leserinnen schreiben mir, wie sehr es ihnen geholfen hat.“
Du hast eine Petition ins Leben gerufen, die einen gestaffelten Mutterschutz nach einer Fehlgeburt fordert. Was war der Moment, der dich aktiv werden ließ?
„Während der Arbeit am Buch haben mir immer mehr Frauen erzählt, dass sie nicht krankgeschrieben wurden und dass das ein großes Problem für sie war. Vorher hatte ich angenommen, ich hätte einfach eine blöde Ärztin abbekommen, mein individuelles Pech quasi. Und dann merkte ich, fast allen ging es so.
„Alle sagten: Ja, damit haben wir fast jeden Tag zu tun.“
So begann meine Recherche, ich habe mich bei Hebammen erkundigt und bei Sternenkinder-Vereinen, und alle sagten: Ja, damit haben wir fast jeden Tag zu tun. Das hat mich wahnsinnig wütend gemacht. Über die Sternenkinder-Vereine bin ich auf das Konzept des gestaffelten Mutterschutzes gekommen und dachte: mega. Wie selten im Leben haben wir einfach Lösungen für Probleme. Dann habe ich noch mein Politikwissenschaftsstudium-Wissen herausgekramt und zum ersten Mal in meinem Leben eine Petition gestartet.“
Wie waren die Reaktionen?
„Ich hatte zu der Zeit noch keine große Reichweite, aber es kamen so viele Nachrichten rein, es wurde sehr viel geteilt und schnell kamen Tausende von Unterschriften und die Medienberichterstattung. Es hat eine richtige Welle ausgelöst. Es gab so rührende Nachrichten, von Männern, von Frauen, auch von Bestatter*innen, die sagten, sie können das Leid der Eltern nicht mehr ertragen, es muss sich was ändern.
Die Bundesländer haben sich inzwischen im Bundesrat für den Gestaffelten Mutterschutz ausgesprochen! Das ist ein starkes Signal an die Bundesregierung, endlich die Gesetzeslage für Frauen nach Fehlgeburten zu verbessern. Jetzt muss ein gemeinsamer Gesetzesentwurf der Fraktionen im Deutschen Bundestag kommen.
Mir sagen Abgeordnete, dass ich sehr viel in kurzer Zeit erreicht habe, aber es gibt auch Widerstand. Eine Politikerin meinte, wir brauchen den gestaffelten Mutterschutz gar nicht in den frühen Wochen, weil die Frauen sich sowieso nicht trauen, zu offenbaren, dass sie schwanger waren. Und dann sage ich: Erstens, es gibt viele Frauen, die es sich gar nicht leisten können, das nicht zu sagen, weil sie Erzieherin sind, Flugbegleiterin, im Labor arbeiten. Die müssen das offenbaren, und warum schützen wir die nicht? Und ja, es gibt viele Frauen, die fürchten, dass der*die Arbeitgeber*in dann vom Kinderwunsch weiß und die Karriere am Ende ist oder sogar eine Kündigung droht, letztens hatten wir so einen Fall.
„Frauen leben in einem Klima der Angst.“
Frauen leben also in einem Klima der Angst, und genau deshalb brauchen wir Gesetze, damit niemand diskriminiert wird. Sonst werden wir nie gleichberechtigt sein, wir bleiben immer die mit der Gebärmutter. Wir können die Biologie nicht ändern. Wir können nur die Rahmenbedingungen ändern.“
Wie sieht der konkrete Vorschlag zum gestaffelten Mutterschutz aus?
„Ab der sechsten Woche bis zur 14. fordern wir zwei Wochen freiwilligen Mutterschutz. Ab der 15. vier Wochen, und ab der 20. beziehungsweise 24. Woche, die acht Wochen, die bisher auch gelten. Das wäre ein großer Fortschritt, der betroffenen Frauen Zeit gibt, das Erlebte zu verarbeiten. Der gestaffelte Mutterschutz sollte außerdem ein Schutzangebot des Staates sein und für die Frau nicht verpflichtend. Sie kann also selbst entscheiden, ob sie die zwei Wochen nehmen möchte. Das Angebot ist freiwillig.“
Kannst du dir vorstellen, Politikerin zu werden?
„Eine Politikerin hat zu mir gesagt, ich sei längst Politikerin. Dafür braucht es nicht zwangsläufig ein Mandat. Ich kann es mir auf jeden Fall vorstellen. Wir brauchen Eltern, und wir brauchen vor allem Mütter in der Politik, denn es wird nicht morgen irgendein Politiker aufwachen und sagen: Ich muss mich jetzt unbedingt für Mütter einsetzen. Es ändert sich nichts aus heiterem Himmel. Ich habe ja auch schon mal für einen Landtagsabgeordneten gearbeitet und dachte mir aber irgendwann: ,Puh, das tue ich mir nicht an.’ Aber wenn alle Frauen so denken wie ich damals, dann werden unsere Rechte nicht berücksichtigt.
Es ist allerdings in Parteien nicht so, dass alle ,Juchu!’ schreien, wenn eine engagierte Mutter um die Ecke kommt und mal eben das Mutterschutzgesetz ändern will. Da geht es um Macht und Machtverteilung. Es wäre ein nicht einfacher Weg, aber vielleicht ein Weg, der sich zu gehen lohnt.“
Hat Familienpolitik in Deutschland den Stellenwert, den sie verdient?
„Wenn ich das Wort Familienpolitik schon in den Mund nehme, dann reagieren manche, als würde ich ganz unwichtige Sachen machen. Familienpolitik ist ja alles Gedöns. Aber ehrlich: Wirtschaftspolitik ist Familienpolitik. Guck dich mal in den Unternehmen um, geh mal in die Kantine von mittelständischen Unternehmen. Wer sitzt und arbeitet dort und hält das Land und die Wirtschaft am Laufen? Familien. Die meisten haben entweder selbst Kinder, sie sind Kinder, sie kümmern sich um ihre Eltern, sie kümmern sich um Angehörige, sie haben Patenkinder – irgendwie sind wir alle Teil einer Familie. Wohnen, Wirtschaft, Arbeit – all das sind eigentlich familienpolitische Themen und deswegen müssen wir Familienpolitik ganz neu definieren. Ich glaube übrigens, dass das Erstarken von Extremparteien mit einer Frustration über schlechte Familienpolitik zusammenhängt. Ich bekomme viele Zuschriften von Eltern und von Familien. Da hat sich in den letzten zwei Jahren viel verändert.
Mir schreiben Personen, sie hätten nie zuvor extrem rechts oder links gewählt, aber sie seien so enttäuscht von der Familienpolitik und von der Familienministerin, dass sie das jetzt tun. Nichts würde verbessert. Keine Kita-Plätze, keine Plätze für Kinder auf der Intensivstation, im letzten Winter kein Fiebersaft usw. Wir strömen hier in eine gefährliche Ecke. Man merkt, dass Eltern keine attraktive Wähler*innengruppe sind. Die Senior*innen sind die wichtigsten Adressaten, wenn es um Wähler*innenstimmen geht. Beim Landtagswahlkampf in Bayern waren in meinem Wahlkreis die Top-Veranstaltungen: ,Vorsorgevollmacht leicht gemacht’ und ,Trickbetrug, wie kann ich mich schützen’.“
„Ich habe immer gedacht, wir leben in einem privilegierten Land, und Deutschland ist familienfreundlich, bis ich dann selbst schwanger wurde.“
Wie bewertest du das Thema Vereinbarkeit?
„Schlecht! Bei uns werden Familien im Job diskriminiert. Viele Menschen haben Angst zum Beispiel einen Tag „Kind krank“ zu nehmen, weil das negativ vom Arbeitgeber bewertet wird. Das kann sich in Schweden niemand vorstellen. In Schweden ist es völlig normal, dass Väter in der Elternzeit gehen, da dürfen sogar Großeltern in Elternzeit gehen, das ist bei uns komplett undenkbar. Ich habe immer gedacht, wir leben in einem privilegierten Land und Deutschland ist familienfreundlich, bis ich dann selbst schwanger wurde. Man kann es sich nicht vorstellen, bis man in der Situation steckt.
Ein Diskriminierungsmerkmal in Deutschland ist Elternschaft, ganz klar. Bei uns werden Kinder oft als laut und dreckig und störend empfunden, und dieses Gefühl in der Gesellschaft setzt sich auch in Politik fort. Es gibt kaum Wickelräume im Bundestag, viele Veranstaltungen sind abends, da brauchst du wieder einen Babysitter. Als Eltern politische Teilhabe wirklich zu leben ist extrem schwer, und das rächt sich in der Gesetzgebung.“
Natascha Sagorski ist Speakerin beim FEMALE FUTURE FORCE DAY 2024
Am 12. Oktober 2024 findet der FEMALE FUTURE FORCE DAY im bcc Berlin statt! Unter dem diesjährigen Motto BRIDGE THE GAP werden die allgegenwärtigen Ungleichheiten in nahezu allen Lebensbereichen adressiert: Es geht um Gender Pay Gap, Gender Health Gap, Gender Care Gap, Gender Data Gap und so vieles mehr.
Die Teilnehmer*innen erwartet ein spannendes, abwechslungsreiches Programm auf mehreren Bühnen und Masterclass-Räumen, aber auch ausreichend Gelegenheit zum Austausch und Netzwerken. Zu den Tickets
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