Die Autorin Carina Waldmann fasst sich mit der Linken Hand an die Haaren, trägt eine lilafarbene Bluse und blickt in die Kamera.
Foto: David Rombach

Meine Narben sind nichts anderes als verheilte Haut – bitte hört auf, sie zu kommentieren!

Der Körper unserer Autorin hat sich durch einen Brandunfall verändert. Kommentare anderer Menschen, egal ob abwertend oder „gut gemeint“, sind für sie nur eins: übergriffig.

Ich sitze auf einer Steinmauer, habe meinen Notizblock vor mir und versuche meine Gedanken zu sortieren und auf Papier zu bringen. Das hier soll ein Text über meinen Unfall und meinen damit verbundenen neuen Körper werden. Darüber, wie Menschen oft auf mich reagieren, und welche Reaktionen ich mir stattdessen wünschen würde. Und über meine Erkenntnis, wie tief das Bewerten und Kategorisieren von Körpern in uns allen verwurzelt ist.

Während ich in der Abendsonne sitze und mich an den Moment des Unfalls zurückerinnere, erkenne ich plötzlich, dass alles mit einem ruhigen Moment, ebenfalls auf einer Steinmauer, begonnen hat. So wie jetzt. Ich nehme ein Gefühl von Entspannung und Sicherheit wahr. Lange dachte ich, dieses Gefühl würde ich nie wieder spüren. Ihr denkt jetzt bestimmt, dass meine Geschichte positiv ausgegangen sein muss. Ob ich das so sehe, weiß ich noch nicht. Aber vielleicht muss es auch gar nicht positiv ausgehen. Vielleicht darf es auch einfach nur etwas sein, das geschehen ist.

Zum ersten Mal die Narben zeigen

Mein Unfall geschah vor ziemlich genau vier Jahren, als ich mit meinem damaligen Freund mit einem VW-Bus durch Bosnien reiste. Wir kamen abends nach einer langen Fahrt am Campingplatz an, waren hungrig und wollten schnell Spaghetti essen. Zum Kochen verwendeten wir, wie jedes Mal, den neu gekauften Campingkocher. Ich war erschöpft von der Fahrt, mein Freund übernahm das Kochen. Ich sonnte mich etwa zwei Meter entfernt auf jener Steinmauer. Was dann geschah, kann ich bis heute nicht genau rekonstruieren. Ich weiß nur noch, dass mein Körper brannte und ich geistesgegenwärtig in den nahegelegenen Fluss sprang. Die Brennpaste des Campingkochers hatte Feuer gefangen.

Über meine Rettung und meine wochenlange medizinische Versorgung könnte ich viel erzählen, allerdings soll es darum nicht gehen. Kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, begann ich, meinen Weg auf Instagram zu teilen. Anfangs hatte das für mich nur einen Grund: Das Internet war für mich eine Art Sichtschutz. Ein Sichtschutz deshalb, weil ich durch die Barriere Internet nicht unmittelbar dabei sein musste, als meine Verwandten, Bekannten und Freund*innen zum ersten Mal meine Narben sahen. Ich konnte ihren Blicken dadurch entkommen.

Unverblümtes Anstarren

Wovor ich mich trotzdem nicht schützen konnte: Bewertungen und Kommentare. Ich hatte nun also diesen, wie ich es heute nenne, „neuen“ Körper. Hatte großflächige Narben an Bauch und Oberschenkeln und musste bereits im Krankenhaus erkennen, dass diese Körperveränderungen mich sichtbarer machen. Auffälliger. Und dass sie für viele Menschen eine Einladung zu sein scheinen, mich ganz unverblümt und direkt anzustarren, zu kommentieren und noch mehr zu bewerten als vor dem Unfall.

Mein verändertes Aussehen spielte auch im Krankenhaus meist eine viel größere Rolle als mein gesundheitlicher Zustand. Vor allem Ärzt*innen und Pfleger*innen nahm ich als sehr grenzüberschreitend wahr. Besonders geschockt hat mich ein Vorfall: Ich hatte nachts starke Schmerzen und rief die Krankenschwester. Ich bat sie um ein Schmerzmittel, sie entgegnete mir, dass man mir meine Schmerzen gar nicht ansehe. Ja sogar im Gegenteil. Ich habe bestimmt ein wenig abgenommen und sehe eigentlich ganz wunderbar aus. So schlank im Gesicht. Wie sehr ich gerade litt oder warum ich so viel abgenommen hatte, war in diesem Moment zweitrangig. Immerhin „schön“, oder?

Nett gemeint, aber übergriffig

Und auch Freund*innen, die mich besuchten, sprachen viel davon, dass meine Narben gar nicht so schlimm aussähen. Oder darüber, dass ich sie an diesen Stellen doch super verdecken könne. Einige versuchten mich aufzumuntern, indem sie mich darauf hinwiesen, dass diese Narben mich immer an meine Stärke erinnern werden. Das war alles sicher nett gemeint. Am Ende war es aber nur eins: übergriffig.

„Ungefragte Kommentare und Bewertungen meines Körpers sind übergriffig. Sie nehmen mir die Macht, selbst über meine Einstellung zu meinem Körper zu bestimmen, indem sie mir Fremdeinschätzungen und -bewertungen aufzwingen.“

Einige von euch denken sich jetzt bestimmt: „Übergriffig? Muss es denn gleich so ein krasses Wort sein? War doch nur nett gemeint.“ Aber ich bleibe dabei. Ungefragte Kommentare und Bewertungen meines Körpers sind übergriffig. Sie nehmen mir die Macht, selbst über meine Einstellung zu meinem Körper zu bestimmen, indem sie mir Fremdeinschätzungen und -bewertungen aufzwingen. Sie greifen in meine Beziehung zu meinem Körper ein. Und das lässt sich mit keinem anderen Wort als mit dem des Übergriffs treffender beschreiben.

Meine Beziehung zum eigenen Körper: unaufgeregt und sanft

Mit ist bewusst, dass wir alle von klein auf darin geschult werden, unsere und die Körper anderer zu scannen und nach bestimmten, sozial konstruierten Kriterien zu bewerten. Aus diesem Grund ist es für mich eine Utopie, mit meinen Narben keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Prozess dieser Erkenntnis war für mich sehr schmerzhaft und ist es teilweise immer noch. Denn alles, was ich mir wünsche, ist Frieden und Ruhe. Metaphorisch gesehen wünsche ich mir eine Beziehung zu meinem Körper, die einer ruhigen See gleicht. Unaufgeregt und sanft.

Ich möchte den Unfall und die damit verbundenen Narben nicht vergessen oder verdrängen. Aber ich möchte sie den Großteil meiner Zeit an dem Ort lassen, an dem all das stattgefunden hat und entstanden ist: in meiner Vergangenheit. Ich wünsche mir eine Gegenwart, welche meinen neuen Körper integriert und akzeptiert. Irgendwo in diesem ruhigen Meer haben auch der Unfall und meine Narben einen Platz. Ich habe sie dorthin gepackt. Mir diesen Ort sorgsam ausgewählt, um endlich Ruhe zu finden.

„Meine Narben sollen zu mir gehören, wie jedes andere Körperteil auch. Sie sollen nichts Besonderes mehr sein. Und sie sollen mich auch nicht an meine Stärke erinnern. Sie sind einfach nur verheilte Haut. Und das ist gut so. Dass es verheilt ist.“

Genau das wird mir aber verwehrt, wenn ich ständig auf meine Narben angesprochen werde. Jeder Kommentar holt diese Erinnerungen von ihrem bewusst einsortierten Platz zurück, sie müssen mühevoll wieder eingefangen und sorgfältig zurückgelegt werden. Und dabei ist es fast egal, ob die Kommentare positiv oder negativ gemeint sind. Denn sie alle erinnern mich an den Unfall. Und sie erinnern mich daran, dass mein Körper jetzt Merkmale besitzt, welche viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das möchte ich nicht mehr. Meine Narben sollen zu mir gehören, wie jedes andere Körperteil auch. Sie sollen nichts Besonderes mehr sein. Und sie sollen mich auch nicht jedes Mal an meine Stärke erinnern. Sie sind einfach nur verheilte Haut. Und das ist gut so. Dass es verheilt ist.

Ich wünsche mir eine friedvolle Akzeptanz meines neuen Körpers. Von mir und von anderen. Und kein regelmäßiges, wellenaufrührendes Erinnern. Darüber hinaus möchte ich nicht immer an gesellschaftlichen Schönheitsidealen gemessen werden. Ich fordere: Lasst uns aufhören, Körper zu kommentieren und zu bewerten. Lasst Körper Körper sein. Ich weiß, dass das nicht leicht ist. Ich weiß, dass vieles automatisch und in Sekundenschnelle passiert. Und genau deshalb müssen wir aktiv daran arbeiten, Körper nicht mehr zu bewerten oder uns nicht mehr zu jenen zu äußern.

Das Streben nach dem normschönen Körper

Viele werden sich jetzt fragen, ob wir denn Körper auch nicht mehr schön finden dürfen. Da möchte ich sagen: Doch. Denn ich kann und möchte niemandem etwas verbieten. Das Problem ist aber, dass der Versuch der Bewertung der Schönheit von Körpern immer auch die „Unschönheit“ aufzuzeigen versucht. Unschöne Körper. Ganz zu schweigen von dem Druck, den dieses ständige Streben nach einem (norm-)schönen Körper und das dauernde Darauf-aufmerksam-gemacht-Werden, wenn der Körper oder Körpermerkmale nicht (norm-)schön sind, mit sich bringen.

Aus diesem Grund reizt mich der Gedanke, die Schönheit ganz abzuschaffen, wenn es um Körper geht, zugegebenermaßen sehr. Da dies momentan leider noch Wunschdenken ist, wäre ich erstmal damit zufrieden, wenn ich zumindest keine Kommentare oder Bewertungen mehr zu meinem Körper hören muss. Außerdem wünsche ich mir, dass sich jede*r einmal mit der Frage auseinandersetzt, warum er*sie denn überhaupt diesen Drang danach hat, andere Körper oder Körpermerkmale zu kommentieren oder bewerten zu müssen. Mir würde es viel Leid ersparen, wenn das aufhört. Und ich bin mir sicher, dass ich damit nicht alleine bin.

  1. Wie wäre denn, wenn wir andere Menschen grundsätzlich nicht bewerten, in Bezug auf gar keine Eigenschaft (Schönheit, Intellekt, Moral, Fleiß, …), sondern sie entweder in Ruhe lassen oder uns ernsthaft mit Ihnen auseinandersetzen. Ich denke dann wäre viel gewonnen.

  2. Vielen Dank für diesen tollen und ehrlichen Artikel. Ich erlebe das von dir genannte Aufzwingen von Fremdeinschätzungen und -bewertungen auch in meinem Leben z.B. in Bezug auf das Thema Kinder/Kinderwunsch. Und ich empfinde es auch als sehr anstrengend, dass andere von mir erwarten, dass ich ihre gut gemeinten schlauen Meinungen implementiere. Auch ich empfinde das als Fremdbeeinflussung, die mir aufgezwungen wird. Deshalb Danke für diese offenen Worte.

  3. Sie hat völlig recht. Wir schauen alle zu sehr auf die Hülle und erst dann auf das Wesen und die Ausstrahlung der Person. Daher dauert es oft lang, bis ein”Makel” nicht mehr abwertend gesehen wird, sondern als ein nicht mehr negativer Teil des Menschen und einfach dazu gehörend. Die Fältchen beim Altern akzeptiert man doch schliesslich auch als dazu gehörend.

  4. Vielen Dank für diesen wundervollen Artikel, Frau Waldmann, Sie sprechen mir aus der Seele!
    Ich weiß selbst, dass man meine Narben nicht sieht, wenn ich normal angezogen bin, das braucht mir nicht jeder, der mich im Badeanzug oder nackt sieht, mitzuteilen. Und was meiner Meinung nach richtig mies ist: Wie oft mir schon vorgeschlagen wurde, ich könnte die Narben doch einfach mit einem Tattoo verstecken. Da denke ich mir auch nur “Aha, du findest also, ich müsste etwas verstecken – Danke für die ungefragte Meinung!”

    Beste Grüße

  5. Danke für die Offenheit und die klaren Worte!
    Ich erschrecke manchmal, wenn ich merke, wie automatisch solche Bewertungsprozesse bei mir im Hirn stattfinden – aber das ist wohl der erste kleine Schritt, um dem entgegenzuwirken…

  6. Das ist richtig. Eine Ausnahme machen Kinder. Sie dürfen mich fragen oder meine Behinderung kommentieren, finde ich. (Ich bin amputiert.)

  7. Liebe Frau Waldmann,

    danke für den Spiegel, den Sie mir vorhalten. In der Tat sind wir / bin ich in diesem Bewertungsmuster verfangen. Und das ist eigentlich gar nicht notwendig, da haben Sie recht. Ich denke darüber nach, danke für den Anstoss.

    Alles Gute, Dirk Scharfe

  8. Carina,
    Deine Zeilen berühren – mich !
    Mit mehr als 2 Meter (OP-)Narben am Körper kenne ich die Blicke der “Menschen”,
    denn ich vewrstecke sie -im Sommer- nicht.

    “Sie sind einfach nur verheilte Haut” – eine superschöne Beschreibung.

    Viel Erfolg im Leben wünsch ich Dir !

  9. Sehr geehrte Frau Waldmann, es ist schon spät und ich habe eben Ihren Artikel gelesen. Sie haben so emotional und wissend geschrieben, dass ich mit jeder Zeile näher bei Ihnen war. Sie haben die richtigen Worte gewählt die mich nicht verletzt somit aufnerksam gemacht haben. Solche Worte wünsche ich mir öfter in unserer Presse. Danke! Christian Grupe

  10. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. ich habe eine große Narbe am Arm, auf die ich früher sehr oft angesprochen wurde. Teilweise wurde ich von fremden Menschen gefragt, woher ich denn diese Narbe habe. Ich fand das auch immer sehr übergriffig (damals kannte ich dieses Wort noch gar nicht). Zum Glück bin ich jetzt schon lange nicht mehr darauf angesprochen wurden, aber es würde mich sehr stören.

  11. Hallo Carina,

    “Und ich bin mir sicher, dass ich damit nicht alleine bin.” Das sehe ich auch so und hoffe, dass es noch mehr werden, die das auch aussprechen und vorleben.

    Danke für Deinen Text –

    Grüsse aus Hannover
    Stefan

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Anzeige