Ein Leben mit ALG II gilt als Stigma, kann aber auch Freiheit vom Leistungsethos bedeuten. Anne Waak lässt Kreative von ihrem prekären Leben erzählen.
Rund 4,5 Millionen Menschen leben in Deutschland vom Arbeitslosengeld II, in Berlin ist es sogar fast jeder Fünfte. Die gängigen Klischees über die sogenannte Unterschicht: Leistungsempfänger von Hartz IV sind schlecht ausgebildet, unselbstständig und faul. Klar, dass das angesichts der Zahlen nur ein Teil der Wahrheit sein kann. Auch viele Künstler und Kreative müssen ihre Honorare mit staatlichen Leistungen aufstocken lassen. Die Kreativwirtschaft gilt zwar als Wachstumsbranche, doch der schöne Schein trügt: Selbstverwirklichung geht gerade hier häufig mit Selbstausbeutung einher. Die schöpferische Bildungselite wird mit Dumping-Honoraren abgespeist oder arbeitet zum Teil sogar unbezahlt. Wer sich ein solches Leben nicht leisten kann, sattelt um. Oder beantragt Hartz IV.
2010 begann die Journalistin Anne Waak damit, über das Thema zu recherchieren. Sie sprach mit Betroffenen aus verschiedenen Branchen, mit Filmemachern und Designern, mit Musikern, Schauspielern und Philosophen. Die Gespräche über das Leben mit Hartz IV fasste sie in Protokollen zusammen. Sie lernte dabei, dass das System von Hartz IV vor allem eins ist: willkürlich. Aber auch, dass es eine Chance sein kann: Für manche kann es fast so etwas sein wie das bedingungslose Grundeinkommen, aber mit großen Mängeln. Dann wurde der Verlag, bei dem Waak unter Vertrag stand, verkauft. Das Projekt nahm eine Zwangspause ein. Jetzt, vier Jahre später, hat die Autorin das Buch doch herausgebracht, als E-Book bei Waahr.de, einem Online-Archiv für literarischen Journalismus, das sie gemeinsam mit den Schriftstellern Joachim Bessing und Ingo Niermann gründete, im Verlag Marienbad.
Wie bist du überhaupt auf das Thema Hartz IV gekommen?
„Im Frühjahr 2010 habe ich das erste Mal beobachtet, dass mehrere Leute in meinem Umfeld Hartz IV bezogen. Und das waren nicht nur Leute, die direkt nach dem Studium eine Überbrückungsphase hatten. Ingo Niermann, mit dem ich zusammen auch Waahr.de betreibe schlug vor, ein Buch daraus zu machen und nicht nur einen Artikel. Er hatte 2003 „Minusvisionen“ veröffentlicht, einen Protokollband über Unternehmer ohne Geld. Hier lag nun, ein paar Jahre nach der Einführung von Hartz IV, eine neue Situation vor. Ich habe also angefangen, Leute zu treffen. Das war sehr einfach, ich habe nie eine Anzeige geschaltet oder aktiv in meinem Freundeskreis herumgefragt. Eigentlich sind mir alle, die im Buch sind, so begegnet: Ich habe erzählt, woran ich arbeite und immer mehr Leute haben mir von diesem oder jener Bekannten erzählt.“
Was hat dich daran konkret interessiert? Wolltest du aufräumen mit den Klischees, die es über Hartz-IV-Empfängers gibt?
„Wahrscheinlich ist es das, was ich auch im Vorwort beschreibe: Es ist ja schon so, dass Hartz IV – so wird es ja auch in den Medien häufig dargestellt – lange als eine Sache von schlecht ausgebildeten, ein bisschen schluffigen Leuten galt, die nicht so richtig wissen, wohin mit ihrem Leben oder die es verpasst haben, Entscheidungen zu treffen. Mich hat daran interessiert, dass es eben anders zu sein scheint. Und natürlich ging es auch darum – das kenne ich als freie Journalistin selbst – dass Hartz IV ein Szenario ist, das zumindest immer mal wieder auftaucht. Das wollte ich erkunden.“
Im Vorwort sprichst du auch diesen Widerspruch an zwischen der Wahrnehmung von Kreativität als neue Ressource und der prekären Wirklichkeit vieler Kreativer …
„Das kam bei allen, die ich interviewt habe, zur Sprache. Es scheint so, als basiere der unglaubliche Erfolg, den Berlin aufgrund seiner Ressource Kreativität hat, zu großen Teilen darauf, dass die Leute sich selbst ausbeuten, ausbeuten lassen und das querfinanzieren. Unter anderem mit Hartz IV.“
Hattest du das Gefühl, dass die Betroffenen, die du interviewt hast, darauf gewartet haben, dass sie jemand darauf anspricht?
„Menschen erzählen grundsätzlich gern ihre Geschichte. Man muss nur fragen. Es gab nicht viel Schüchternheit, allerdings habe ich die Beobachtung gemacht, dass in dem Moment, in dem ihre Erzählung dann verschriftlicht vor ihnen liegt, eine Entfremdung einsetzt. Ich habe allen zugesichert, dass sie ihr Protokoll noch einmal gegenlesen können. Und es bestand immer die Möglichkeit, den Text zu anonymisieren. Es gab ja eine zeitliche Lücke zwischen Interview und Veröffentlichung, die lag teilweise bei vier Jahren. So kam es vor, dass die Leute sich nicht mehr mit dem identifizieren konnten, was sie mir erzählt hatten oder dass es ihnen dann doch unangenehm war. Manche wollten ihr Protokoll dann nicht einmal mehr unter Pseudonym veröffentlichen. Das ist auch in Ordnung, ich will niemanden zwingen, einen Text freizugeben, in dem er oder sie sich nicht mehr erkennt.“
Haben die Betroffenen, mit denen du gesprochen hast, ihre Situation als ein persönliches Scheitern aufgefasst?
„Die wenigsten, aber es gab alle Positionen: »Das steht mir zu.« »Das ist nur eine Phase.« »Dafür ist es ja da.« Und so weiter.“
Wie hast du deine Protagonisten ausgewählt?
„Das hat sich von selbst ergeben. Aber ich wollte schon, dass es Geschichten sind, die man gerne liest und die irgendwie spektakulär sind. Der Drogendealer ist dafür ein gutes Beispiel. Mir war zuerst gar nicht klar, wie er sein Geld verdient. Den habe ich getroffen und dachte: ‘Okay, das war jetzt ganz interessant, aber ich weiß nicht, ob es das in das Buch schafft.’ Dann fing er an, in eine Stille hinein weiterzuerzählen. Außerdem habe ich darauf geachtet, dass ich Leute aus vielen verschiedenen kreativen Bereichen dabeihabe. Ich habe 2010 jemanden interviewt, der beim Jobcenter gearbeitet hat und tatsächlich mit Hartz-IV-Empfängern oder zukünftigen Hartz-IV-Empfängern und deren Anträgen zu tun hatte. Er hat dann gekündigt, weil er den Job so ungern gemacht hat und wurde dann selbst Hartz-IV-Empfänger. Dieser Blickwechsel hat mich interessiert. Der Mann hatte aber richtiggehend Angst vor den Konsequenzen dessen, was er da erzählt hat und hat das Protokoll, so anonym es gewesen wäre, zurückgezogen.“
Du hast viele der Protokolle anonymisiert. Was war da der Grund dafür? War das Scham oder hatten die Betroffenen Angst, ihre Tricksereien könnten enttarnt werden?
„Letzteres. Scham war es selten, zumindest nicht offenkundig, sondern wirkliche Angst, dass da noch was zurückkommt. Teilweise haben die Leute sich einfach strafbar gemacht. Es ist zwar relativ unwahrscheinlich, dass das irgendjemand im Jobcenter liest, aber wenn, will ich nicht daran Schuld sein, dass sie angeklagt wird wegen Sozialbetrugs und mehrere tausend Euro zurückzahlen muss. Die Gründe für die Anonymisierung waren meistens, dass die Leute sich in eine rechtliche Grauzone begeben haben. Oder diese tatsächlich überschritten haben, was aber bei Hartz IV relativ einfach ist. Dafür muss man nur unabgemeldet die Stadt verlassen.“
Inwiefern hat sich dein Blick auf Hartz IV verändert durch die Begegnungen?
„Was ich wirklich verstanden habe, ist, wie willkürlich das Sytem ist. Es hat mich erstaunt, wie sehr dein Leben davon abhängig ist, wer dir dort gegenüber sitzt. Ob das jemand ist, mit dem du gut kannst, der prinzipiell nett ist, ob der dir Gutes will oder dich bestrafen möchte. Und natürlich auch davon, wer du bist, mit welcher Haltung du diesen Leuten entgegentrittst, ob du mit privilegiertem Hintergrund da bist, deine Unterlagen zusammen hast, ob du deren Sprache sprichst, dich verteidigen kannst oder ob du einfach schon mit den ganzen Formalitäten überfordert bist. Ich finde das immer noch beängstigend.“
Du vergleichst du Hartz IV in deinem Vorwort mit dem bedingungslosen Grundeinkommen und nennst es eine mangelhafte Vorstufe. Wo siehst du Parallelen zwischen beiden Modellen?
„Das ist die These, die ich aufstelle: Am Anfang, als die erste Version entstanden ist, war das Vorwort noch sehr viel betroffener, auch betroffen machender. Irgendwann habe ich angefangen, Hartz IV anders zu sehen. Vielleicht gar nicht so sehr als Stigma und als Riesenproblem, was es davon abgesehen trotzdem ist, sondern vielleicht wirklich als eine Chance. Da kommt es dann wieder darauf an, es gibt unterschiedliche Positionen im Buch. Für manche ist es sehr viel einfacher, z.B. für Thorsten Peters, den ich in New York getroffen habe. Der war relativ entspannt und nannte sich scherzhaft „New York-Thorsten“ – nach „Florida-Rolf“, dem deutschen Dauerurlauber auf Hartz-IV, den die Bild-Zeitung vor Jahren skandalisiert hat. Für andere war das sehr viel aufreibender, die konnten das natürlich nicht so entspannt sehen. Wie gesagt: Hartz IV bleibt immer mangelhaft. Es ist sehr wenig Geld und wird ganz schnell zu einem eigenen Job. Und es bleibt natürlich immer – das will das bedingungslose Grundeinkommen ja gerade nicht – an sehr viele Bedingungen und Forderungen geknüpft. Man muss ständig einen Bedarf nachweisen, nachweisen, dass man nichts hat, dass man aber irgendwas kann. Wenn man nichts kann, was dem Jobcenter sinnig erscheint, muss man sich in Maßnahmen qualifizieren. Dennoch stehen diese beiden Sachen, Hartz IV und das bedingungslose Grundeinkommen, nah beieinander. Auch in den Gesprächen kam oft der Punkt, an dem es hieß: Es wäre so viel besser, wenn es eine positive Sicht auf die Sache gäbe. Wenn nicht Hartz IV das Stigma wäre, sondern das bedingungslose Grundeinkommen die Chance.“
Es ist fast ein wenig ironisch: Während du an dem Buch gearbeitet hast, wurde der Verlag, bei dem du unter Vertrag warst, verkauft. Zuerst lag das Projekt auf Eis, jetzt hast du es als E-Book auf eurer Plattform Waahr veröffentlicht. Das passt ins Bild, das du in deinem Buch entwirfst und zeigt vielleicht auch eine Möglichkeit abseits von Hartz IV auf, wie Kreative mit der Situation umgehen können: indem sie Projekte selbst verwirklichen. Siehst du das auch so?
„Vielleicht gibt es eine Tendenz dahin, dass Leute heute Sachen eher in die eigene Hand nehmen. Im Verlagswesen hat sich das in den vergangenen Jahren auf jeden Fall verändert. Es gibt mittlerweile viele kleine Digitalverlage. Die Leute müssen jetzt nicht mehr, so sehr sie es sich vielleicht dennoch wünschen, darauf spekulieren, ihre Bücher in etablierten Verlagen unterzubringen. Ob man da dann Geld verdient, ist allerdings eine ganz andere Frage.“
Ist das Problem, das du beschreibst Berlin-spezifisch? Einer deiner Protagonisten sagt ja explizit, dass es in Berlin etwas anderes bedeute, von Hartz IV zu leben als anderswo.
„Darüber habe ich auch nachgedacht. Letztendlich glaube ich, ist es wie mit allem: In Berlin tauchen Phänomene eher und schärfer auf als woanders, eben durch die eigenartige ökonomische Situation und dadurch, dass Berlin Treffpunkt für alle möglichen Kreativen ist. Es kann schon sein, dass sich die Konkurrenzsituation um die oft lächerlich bezahlten Jobs seit 2010 noch mal verschärft hat, durch die Wirtschaftskrise und den vermehrten Zuzug von Menschen aus den USA und dem europäischen Ausland. Was andere deutsche Städte angeht, kenne ich mich zu wenig aus. Diese Anfragen an Kreative, für wenig oder gar kein Geld zu arbeiten, kenne ich aber auch aus New York, Paris oder London.“
Was willst du mit deinem Buch erreichen? Willst du etwas verändern?
„Das ist eine schwierige Frage. Wenn man will, dass sich der Blick auf Hartz IV verändert und es nicht mehr so ein Stigma ist, dann arbeitet man nicht an der Abschaffung von Hartz IV, sondern eher daran, dass es dableibt. Ich wünsche mir natürlich keinesfalls, dass Hartz IV in der Form bestehen bleibt, wie es heute existiert. Gleichzeitig muss ich sagen: Zum Glück gibt es Hartz IV. Mich hat sehr überrascht, wie wenig darüber gesprochen wird. Das möchte ich erreichen: dass die Leute mehr darüber sprechen. Je weiter du guckst, je mehr du herumfragst, desto mehr Betroffene lernst du kennen, aber trotzdem wird da nicht so richtig drüber gesprochen. Aber wenn man sich schämt und es einem unangenehm ist, dann verändert man auch nichts an seiner Situation. Es kann von heute auf morgen passieren, dass man von Hartz IV abhängig wird, aber es ist auch nicht das Ende der Welt. Und ein wichtiger Punkt in meinem Buch: Viele nutzen die Zeit, den Raum und die Freiheit, die ihnen Hartz IV verschafft, eben sehr produktiv und sinnvoll. Deswegen habe ich die Aktualisierung gemacht: Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, sind heute nicht mehr von Hartz IV abhängig und wenn, dann ist es auch in Ordnung für sie selbst. Es war für die meisten eine Phase, auch eine gute und wichtige, die ihrer Persönlichkeit nicht geschadet hat. Ich weiß nicht, ob das bedingungslose Grundeinkommen funktionieren würde, aber die Idee ist auf jeden Fall charmant.“
Anne Waaks Buch Hartz IV und wir ist im Mai als E-Book bei Waahr im Verlag Marienbad erschienen