Kind oder Karriere – eine Frage, die viele Frauen noch immer beschäftigt. Wer beides will, hat es oft schwer. Starre Arbeitszeitmodelle, überlastete Kitas und verständnislose Vorgesetzte stehen im Weg. Doch es geht auch anders, wie ein Beispiel aus der Pflegebranche zeigt.
Eine Meldung sorgt im August für Schlagzeilen: Thüringens Landtagspräsident Christian Carius verweist die Grünen-Abgeordnete Madeleine Henfling aus einer Landtagssitzung, weil sie ihren neugeborenen Sohn dabeihat. Der Verweis wird vor allem unter Müttern kontrovers diskutiert. Von „das muss schonmal möglich sein“ bis hin zu „Kinder haben bei der Arbeit draußen zu bleiben“ reichen die Kommentare. Während im Netz und in der Politik noch gestritten wird, wie weit
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehen sollte, zeigt ein Beispiel aus der Pflegebranche, wie es gehen kann:
Agnes Brzozowska arbeitet seit sechs Jahren bei der Wohngemeinschaft für Senioren (WGfS), einer Pflegeeinrichtung in Filderstadt bei Stuttgart. Genauso lange ist ihre siebenjährige Tochter Maya mit dabei. „Nicht jeden Tag, aber regelmäßig“, so die junge Mutter. Wenn Brzozowska bis 20 Uhr Dienst hat, bringt ihr Mann die Kleine um 17 Uhr bei ihr vorbei; kurz bevor er selbst zur Arbeit muss, denn Brzozowskas Mann arbeitet nachts. „Maya hilft beim Essen vorbereiten, spielt mit den Senioren Mensch-ärgere-dich-nicht oder hilft beim Blumengießen“, so die Pflegefachkraft. Kollegen und Bewohner haben sich längst an das Mädchen gewöhnt und freuen sich über die kleine Helferin.
„Die Familie gehört dazu“, weiß WGfS-Geschäftsführerin Rosemarie Amos-Ziegler, die vor 30 Jahren zunächst einen ambulanten Pflegedienst und drei Jahre später auf Wunsch ihrer Klienten die erste sechsköpfige Wohngemeinschaft für Senioren gegründet hat. Heute umsorgen 250 Mitarbeiter mehr als 150 Bewohner in drei Häusern und einer Demenz-WG. Rund die Hälfte des Personals hat Kinder. Etwa 60 davon im Betreuungsalter. „Für mich war es immer selbstverständlich, dass meine Kinder nach der Schule zu mir in die Wohngruppe kommen“, erzählt die 58-Jährige, „ich sehe
keinen Grund, warum wir es heute anders machen sollten.“ Eltern, die ihre Kinder gut behütet wissen, arbeiten motivierter, begründet Amos-Ziegler ihr Engagement.
Eine Studie des Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik untermauert die These der
Baden-Württembergerin. Laut Erhebung verzeichnen familienbewusste Unternehmen 42 Prozent weniger Fehlzeiten als Konkurrenten. Produktivität, Anzahl und Qualität der Bewerbungen steigen jeweils um ein Drittel. Weil sich Mitarbeiter gehört und unterstützt fühlen, sinkt die Fluktuation. Personaler schätzen, dass pro offene Stelle etwa 10.000 Euro für Ausschreibung, Bewerbungsprozess und Einlernen anfallen. Familienfreundliche Unternehmen können nicht nur Geld sparen, sie werden auch als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen. Die WGfS etwa gehört zu den Top Arbeitgebern des Mittelstandes. In der Rangliste von Focus-Online steht das Unternehmen auf Platz zehn in der Sparte „Gesundheit und Soziales“.
Für Agnes Brzozowska ist das Arrangement mit ihrem Arbeitgeber ein Glücksfall. „Ich bin sehr früh Mutter geworden und hatte Angst, aufgrund der Betreuung keine Ausbildung machen zu können“, so die 23-Jährige. Ein Praktikum überzeugt sie damals vom Gegenteil. „Ich beschloss es einfach zu
probieren und Maya – immer, wenn es nicht anders geht – mitzubringen.“ Inzwischen hat die motivierte Pflegerin sogar eine Fortbildung zur Praxisanleiterin für Auszubildende absolviert. Die Befürchtung, dass die Anwesenheit ihrer Tochter sie zu sehr von ihren Aufgaben ablenken könne, hat sich schon innerhalb der ersten Wochen verflüchtigt. „Im Gegenteil, ich bin beruhigt, weil ich jederzeit weiß, dass es meiner Kleinen gut geht.“