Der weibliche Orgasmus hat schon so manch männlichen Autor zu Fantastereien bewegt. Doch wie steht es eigentlich um die Sexualität älterer männlicher Philosophen? Diesem vernachlässigten Fachgebiet widmet sich nun ein erotisch-philosophischer WhatsApp-Roman.
„Versaut, assoziativ, konzeptuell und etwas durcheinander“
Die Philosophin Pia Lekkerlojk ist die deutsche Expertin für das Begehren älterer Intellektueller. Ihr WhatsApp-Roman „Das Fichte-Projekt“ gibt neue und kluge Antworten auf ein Thema, das noch viel zu wenig erforscht ist. Die Autorin hat exklusiv mit EDITION F über männliche Erotik und ihre kontroverse Romanfigur P. Schlotterdick gesprochen.
Frau Lekkerlojk, Sie setzen Sie sich mit der Sexualität alter, männlicher Philosophen auseinander. Ein heikles Thema. Wie kamen Sie dazu?
„Nun ja, ich bin jung, weiblich und Philosophin. Ich denke, es hat sich so lange bewährt, dass männliche Wissenschaftler über weibliche Sexualität, den weiblichen Orgasmus und weibliche Gefühle geforscht und geschrieben haben. Das geht ja schon bei Platon los. Da ist es nur logisch und folgerichtig, nun als weibliche Wissenschaftlerin den Mythos männlicher Sexualität und männlichen Begehrens genauer zu untersuchen.“
Und Ihr Roman erklärt das Begehren alter Männer?
„Nicht nur. In meinem aktuellen Schreibprojekt, einem WhatsApp-Roman, geht es nicht nur um alte Männer und ihre Sexualität. Es geht um eine Gruppe von jungen Frauen und Männern, die allesamt im Kulturmilieu unterwegs sind und zusammen interdisziplinär sowie performativ an der Schnittstelle Sexualität und Gesellschaft, sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten und praktisch in ihrer Gruppe forschen. Es gibt im Roman eine größer angelegte Figur des alten Philosophen, der unglaubliche Angst vor vielem hat, aber kaum etwas zu befürchten.“
Sie spielen auf Ihre Figur P. Schlotterdick an. Ein alternder, ehemaliger Philosophieprofessor. Da liegen gewisse Assoziationen zu einem bekannten Philosophen nahe, der gerade selbst einen erotisch-philosophischen Roman veröffentlicht hat, in dem die Figuren anzüglich-zotige Namen tragen …
„Ja, lustig, oder? Der schlotternde Schwanz des alten Denkers. Das passt so gut, finden Sie nicht? Er heißt halt so ähnlich, ist Philosoph und macht sich Sorgen um die weibliche Sexualität. Dafür, dass er einen Schwanz hat, kann er ja nichts. Er gehört jenen an, die dem Verbreitungsmechanismus sozialer Netzwerke misstrauen, in denen meine ProtagonistInnen hauptsächlich kommunizieren. Zu jenen, die dem kritischen Ton misstrauen, der sich gegen das Althergebrachte wehrt. Schlotterdick sieht darin eine Bedrohung seiner und der gesamten weiblichen Sexualität und des tabulosen Genießens. Meine WhatsApp-Truppe verkappter KünstlerInnen will ihm zeigen, dass Konsens, neue Begriffe und multiple Orgasmen sich nicht ausschließen. Aber er sieht in ihren Praktiken und Sprechweisen eine Korrektheit und Überwachung angelegt, die seine Macht und seine Witze und die ganzen Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hat, in Frage stellen. Nach einer ,schief gelaufenen‘ Gruppensex-Situation ist er im Endeffekt dafür verantwortlich, dass die Gruppe eine wichtige Förderung nicht genehmigt bekommt. Sie findet dann andere Wege …“
Ihr Roman ist nicht nur der Versuch, eine neue Sexualität zu beschreiben. Er ist auch als eine Wissenschaftskritik beziehungsweise Institutionskritik zu verstehen, die sich in der Form des Romans als stetes Changieren zwischen erotischer-sexueller und wissenschaftlich-philosophischer Sprechweise zeigt.
„Es ist ein grandioses Gefühl, wenn Form und Inhalt beginnen, sich im Prozess zu beeinflussen. Ich wollte erotisch schreiben, aber ich wollte auch die Philosophie und die Künste nicht aufgeben, oder war es andersherum? Ich habe also alles zugleich gemacht und das Interdisziplinäre, das Assoziative, das Nicht-Lineare im Schreiben immer wieder und immer weiter bejaht. Die Schreibweise bildet meine Denkweise ab: versaut, assoziativ, konzeptuell und etwas durcheinander, aber in einem intuitiven Verknüpfen verbunden.“
Wie vollzieht sich dieser Prozess inhaltlich? Wie wird das thematisch sichtbar?
„Lassen Sie es mich mit einer Analogie versuchen. Sehen Sie, ich habe eine Katze. Die pirscht die ganzen Nächte herum. Sie hat in dieser Kleinstadt so unglaublich viel Sex, davon kann ich nur träumen. Morgens, wenn sie sich etwas ausgeruht und sehr gut gefressen hat, liest sie verschiedene philosophische und kulturwissenschaftliche Abhandlungen und den Politikteil aus allen Abonnements. Die Postmoderne hat sie quasi gefressen. Ich muss sagen, Butler hat sie besser verstanden als so mancher Philosoph. Sie hat einen kleinen Zirkel sexualfreundlicher Haustiere und diverses Sexspielzeug. Mit ihrem Strap-On nimmt sie sowohl Kater als auch Katzen und alle anderen mit vier Beinchen, die Lust haben, von hinten. Es ist ganz wunderbar zu sehen, wie Katzen es vermögen, Theorie und Praxis zu verbinden. Sie lesen was und dann probieren sie’s aus. Oder sie erleben etwas und lesen dann etwas dazu, wobei diese Grenzen in der Wiederholung verschwimmen.“
Was hat das mit männlicher Erotik zu tun?
„Sehr viel, um nicht zu sagen, alles.“
Bleiben wir also bei der Biologie. Oder der Analogie. In einer längeren Passage Ihres Romans beschreiben Sie den Phallus als wunderbaren Pilz, den man in einem Gewächshaus züchten muss.
„Ja, damit man ganz ganz viele davon hat. Sie mögen es feucht, warm und dunkel, soviel wissen wir. Pilze sind lecker, nahrhaft und aromatisch. Sie vermehren sich unglaublich schnell und suchen und behaupten sich Lebens- und Wachstumsräume. Der Pilz ist ein ganz wildes Ding mit natürlichem Drang an der Schwelle zur Sumpfigkeit. Dieser Drang ist zu begrüßen, aber er muss in gewisse Bahnen gelenkt werden, um sein ganzes Potenzial entfalten zu können. Wissen Sie, ,Kultur‘ bedeutet ursprünglich Ackerbau, kultivieren bedeutet das Feld zu bestellen. Die Schönheit des wild gewachsenen Pilzes entfaltet sich erst, wenn man weiß, wie man ihn züchten und zubereiten kann.“
Von einer ,Krise der Männlichkeit‘ ist derzeit in den Feuilletons immer wieder die Rede. Das Theater Hebbel am Ufer veranstaltete im vergangenen Jahr ein Festival mit dem Titel „Weiß Männlich Hetero“ – drei Begriffe, die in den Kulturwissenschaften längst zur einer beliebten Trias avanciert sind. Im Kontext der Brüderle-Debatte sprach der deutsch-italienische Philosoph Luca Di Blasi von der Befürchtung, dass „ein bestimmter Typ von weißem Mann als Fossil, als Relikt einer vergangenen Zeit verabschiedet werden könnte“. Er sieht den weißen, heterosexuellen Mann in einem Dilemma, das im Bröckeln seiner privilegierten Position besteht. Verfolgen Sie solche Debatten?
„Früher habe ich mich ausgiebig mit der sogenannten Männerfrage beschäftigt. Ich habe alles gelesen, was ich dazu in die Finger bekam. Aber das Thema ist mittlerweile durch. Es erschöpft sich in dem immer gleichen Jammern der Männer um den Verlust ihrer Definitionsmacht darüber, was Sex, was Gewalt, was lustig, was ein Kompliment ist, was Familie, was Frau, was Mann ist und so weiter. Mich ermüdet das nur noch. Das ist kein Dilemma, die Situation, in der diese alten Männer sind. Aus einem Dilemma kommt man, in der Definition des Dilemmas, nicht heraus. Die Debatte selbst ist ein Dilemma. Die Debatte ist nostalgisch, aufgewärmt oder redundant. Was nicht weiterführt, ist Rückschritt.“
Luca Di Blasi behauptet des Weiteren, dass die Krise der White Heterosexual Men, kurz: WHM, auch aus der Tatsache entstünde, dass diese Gruppe keinen nennenswerten Diskriminierungsstatus und damit kein Zugehörigkeitsgefühl beanspruchen könnte. Endet die Suche der WHM nach einer Gemeinsamkeit dann im Orgasmus?
„Naja, gemeinsam haben sie ja ihr Jammern über diesen Verlust, der, hört man genau zu, auch nur das Echo eines steten Jammerns ist, den ein Abspritzen notwendigerweise auslöst. Ein Zucken, ein Wimmern, ein Verlust. Die ganze Flüssigkeit! Herrje! Also möglicherweise, ja. Wobei, auch Orgasmus ist nicht gleich Orgasmus. Vielleicht geht es vielmehr darum, zu erkennen, dass Sex nicht gleich Orgasmus ist. Manchmal wird gespritzt wie verrückt. Manchmal gar nicht. Sex ist auch, wenn niemand kommt. Der männliche Orgasmus ist wunderschön, wir müssen ihn befreien und ihm zu neuen, ungeahnten Höhen verhelfen. Er hat das Potenzial – wenn die Männer lernen, sich hinzugeben.“
Sorgen Sie sich um diese Männer?
„Sehen Sie, diese Männer haben viel in dem Kampf um die sexuelle Freiheit von Frauen getan. Sie haben den weiblichen Orgasmus geliebt, erforscht und befreit. Möglicherweise haben sie es damit etwas zu gut gemeint. Ich meine, die Frauen sind jetzt soweit, sie haben sich den Männern angenähert und es ist nur eine Frage der Zeit, dass der Druckkessel weiblicher Lust beginnt zu dampfen. Dafür sollten Vorkehrungen getroffen werden. Es geht dabei um ganz konkrete Maßnahmen – Verhaltens- und Selbstbestimmungskurse für Jungen und Männer sollten schon in der Schule angeboten werden, da kann man nicht früh genug ansetzen. Männer und Jungen müssen lernen, Nein zu sagen, auch wenn für dieses Nein die Gesetzeslage noch nicht so weit ist. Das ist dann erst einmal Aufgabe der PädagogInnen und Familien. Solange die Frauen ihre neu gewonnene Lust noch nicht richtig im Griff haben, wäre es auch sinnvoll, über Kleidungsregeln für Männer nachzudenken, um keine unnötigen Konflikte zu nähern. Natürlich müssen Frauen auch auf der Hut sein, die Zahl der Falschbeschuldigungen wird zunehmen – durch ihre neu entdeckte Sexualität ist es der Frau möglich, sich zu nehmen, was sie will, und andere Männer zu verschmähen. Diese verschmähten, um ihr Sexleben betrogenen Männer, deren Avancen zurückgewiesen wurden, gleichen tückischen Tellerminen, ihr angeknackstes Selbstwertgefühl kann sie zu falschen Aussagen verleiten. Sie werden versuchen, über den Sexualitätsdiskurs Aufmerksamkeit zurückzuerlangen, die ihnen früher selbstverständlich zuteil wurde und jetzt den Frauen gilt. Beide Parteien müssen erst einmal lernen, mit dieser neuen Situation umzugehen. Das sind neue gesellschaftliche Herausforderungen, aber ich denke, wir schaffen das.“
Haben Sie erotische Literatur von Männern gelesen, Frau Lekkerlojk?
„Ja, ich liebe Groschenromane einfach.“
Ist eine Frau gut beraten, über das Sexualempfinden von Männern zu schreiben?
„Gut beraten ist nicht das richtige Wort. Sich dazu beflügelt fühlen wäre der bessere Ausdruck.“
Obacht, Persiflage: Dieses Gespräch nimmt Bezug auf ein Interview mit Peter Sloterdijk, das in der Süddeutschen Zeitung vom 16. September veröffentlicht wurde. Anlass dafür war sein kürzlich erschienener E-Mail-Roman „Das Schelling-Projekt“, in dem sich eine Forschungsgruppe dem weiblichen Orgasmus als „Höhepunkt der Naturgeschichte“ annähern möchte. Im Interview erscheint Sloterdijks Argumentation in ihrem biologistischen Rückgriff nicht nur zutiefst reaktionär (“In evolutionärer Sicht ist die frühe weibliche Sexualität eher passiv geprägt und wenig spektakulär. (…) Ich hatte einmal eine Katze, die war eine Blamage für die Hälfte der Säugetiere. Sie ohrfeigte den Kater während des Liebesspiels, als hätte sie Judith Butler gelesen.”), auch äußert er sich gegenüber aktuellen feministischen Diskursen, auch gegenüber dem Fall Lohfink, zutiefst ignorant („Früher habe ich alles gelesen, was mit Frauenfragen zu tun hatte, heute fällt es mir schwer, mich dafür zu interessieren. (…) Die Debatten der Gegenwart erscheinen mir nostalgisch, aufgewärmt oder redundant“). Des Weiteren erscheint seine Position gerade in Anbetracht der Diskussion um die Reform des Sexualstrafrechts nicht ungefährlich: „Das Begehren selbst steht heute vor dem Richter. Es ist mit einem Mal, als ob aus jedem Männergesicht der Vergewaltiger hervorgrinste.“ Das obige Gespräch möchte sich gegen eine Debatte aussprechen, in der sich Männer als Experten für weibliche Sexualität ausgeben.
Interview: Josefine Soppa, Ann-Kristin Tlusty
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