Foto: eigene Aufnahme

Ich will nicht von Urlaub zu Urlaub leben!

Ich nehme an einem Experiment teil. Schon seit über 30 Jahren. Das Experiment nennt sich Leben. Manchmal sind die Studienbedingungen besser, mal schlechter. Im Moment ist die Lage stabil. Trotzdem gibt mein Gehirn keine Ruhe.

 

Ich denke viel über diese Sache nach, die wir als Leben bezeichnen. Was will ich denn überhaupt damit, wann fühle ich mich überhaupt so, dass ich am Leben bin? Wann bin ich ein lebendiges Wesen – ein sogenanntes “Lebewesen”? Ich weiß, ich könnte jederzeit Schluss machen und mir eine Pause von diesem Denkmarathon nehmen. Alkohol, Pillen oder Brücke. Aber das will ich nicht!

Ich frage mich manchmal, was andere Menschen mit ihrem Gehirn den ganzen Tag so treiben und welche Gedanken in ihnen vorgehen. Heute Mittag erzählte mir ein Bekannter, er habe eine Hirnhautentzündung gehabt und konnte drei Wochen nicht aufstehen. Sicherlich nicht vom vielen Denken, sondern eher vom stillen Gehirnkonsumieren, was ich den meisten Menschen meines Alters einfach mal so zuschreibe. Ist der Körper krank, rennen sie zu den Ärzten und
Physiotherapeuten, sie putzen ihre Wohnung und ihre Kleidung, aber wer säubert ihre Gedanken, den Mist den wir uns jeden Tag immer wieder aufs Neue vorsagen und für die Realität halten?

Im Schnitt denken wir 17.000 Gedanken pro Tag.

Diejenigen, die ihr Gehirn aktiv benutzen, sicherlich mehr. Ich behaupte, ich gehöre zur letzten Gruppe. Ich denke oft anders als die Mehrheit der Gesellschaft es tut, außer einer kleinen Oase von Mittätern, die ich habe. Eine Bekannte beschrieb dies letztens als “Enklave” – was ein schönes Wort für uns Aussätzigen. Dort ziehen sich also diejenigen zurück, die keine Lust mehr auf das Leben haben – zumindest auf das, was man uns scheinbar als “Leben” verkauft. Wer ist aber der Verkäufer, frage ich mich manchmal. Sind wir nicht alle ein bißchen Bluna?

Freunde, ich muss etwas loswerden.

Die Anrede Freunde stammt dabei nicht von mir, sondern von einem lehrreichen Mann, den ich das erste Mal in meinem Autoradio hörte: Karlfried Graf Dürckheim, Zen-Lehrer und Begründer der Körpertherapie. Dürckheim wiederum lernte ich durch einen anderen besonderen Mann kennen, der in meinem Auto saß – physisch.

Freunde, ihr werdet mich kritisieren, wenn ich das jetzt schreibe, aber ich verstehe euch nicht: Ihr fangt an, Ringe zu tauschen, Eigentumswohnungen zu beziehen, Kinder zu zeugen, gut dotierte Jobs anzunehmen – ohne dass ihr euch je fragt, ob ihr das eigentlich wollt. Ihr dekoriert eure Wohnzimmer – ich besitze noch nicht mal ein richtiges. Geht zeitig ins Bett, um morgens wieder früh zur Arbeit zu fliehen – damit euch der Alltag nicht auf die Decke fällt. Deckel verteilt ihr auf Tupperparties – oder doch lieber an trauten Kochabenden im symbiotischen Pärchenmodul. Diskutiert Kochrezepte, analysiert Fernsehprogramme, entwerft den nächsten Sommerurlaub – oder doch den im Winter? Kritisiert den Vorgesetzten, den Kollegen, die Firma, die Nachbarn. Haben sie gestern schon wieder so laut gefeiert! Müsst euer Fitnessstudio suchen, euer Handy, euren nächsten Partner, weil als Single ist es doch scheiße und im Alter ist man dann allein. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag – die Woche war wieder so stressig – endlich Wochenende –  and again. Hängt in der Endlosschleife. Punkt. Vorbei. Tot.

Ich fühle mich in diesem Spiel wie eine Fata Morgana. Finde noch nicht mal die
Telefonnummer meines eigenen Kameltreibers. Oder, um es mit Franz-Josef Degenhardt zu beschreiben, “ich friere vor Gemütlichkeit”.

Ihr werdet mir vorwerfen, ich würde euch beneiden.

Ein Teil von mir tut das sogar, aber ein anderer, und das behaupte ich, größerer, nicht. Er ist gelangweilt von dieser Banalität, von dem, was ihr Leben nennt; von dem, mit dem ihr euch zufrieden gebt. Habt ihr nicht einmal nach des Pudels Kern gesucht? Dieses sinnlose Dasein in vielerlei Hinsicht, das wir fristen, aber eigentlich gar nicht richtig wollen.

Wollt ihr wirklich jeden Tag Alltag üben? Von Urlaub zu Urlaub dahinsiechen? Das Auto des Nachbarn runtermachen, weil ihr ihn im Stillen um seinen Luxus beneidet, den ihr euch nicht erlaubt; den Partner festhalten, weil es so schön bequem ist, nicht allein zu sein, aber ihr vor Langeweile verkrustet? Ihr eigentlich Angst davor habt, einsam zu sein – aber das darf keiner wissen; die Frau mit dem kurzen Kleid niedermachen, weil ihr fürchtet, euer Beindurchmesser sei dagegen viel zu breit und keiner würde euch sonst mehr ansehen? Ihr die Beförderung oder den Jobwechsel eigentlich schon lange wollt, aber keiner euch dies anbietet und ihr ja nicht einfach so großspurig fragen könnt?

Freunde, für was haben wir denn diese, zwar mickrige, Großhirnrinde, wenn wir sie nicht nutzen wollen?

Warum fangt ihr nicht einmal an, über das nachzudenken, was ihr den ganzen Tag in euren Gehirnwinden so denkt – und vor allem, warum ihr das denkt – und nicht etwas anderes? Oder euer Denken einfach mal zu beobachten, ohne es – und damit euch und andere – sofort zu bewerten. Wer sagt, dass es so etwas wie richtig und falsch, normal und unnormal überhaupt gibt? Warum habt ihr so viel Angst, eure Schleifen einfach mal zu ändern und eine Abkürzung später zu nehmen? So viele Stopp-Schilder in uns sind nicht mehr notwendig, stehen eben noch da von der letzten Baustelle…who cares? Vielleicht ist der Streckenabschnitt dahinter sogar noch besser!

Was wäre, wenn unser Glaubenssystem, das sich aus unseren Erfahrungen, Werten und Überzeugungen formiert, von dessen Richtigkeit wir überzeugt sind, als überholt herausstellt? Wenn solche Stopp-Schilder die Leistung unseres Verstandes beeinträchtigen und uns hindern unser volles kognitives Potential auszunutzen?

Vielleicht werden ihr mich verrückt nennen, naiv, romantisch oder realitätsfern – aber ich habe eine Vision:

Das beste Projekt, an dem ich je arbeiten werde, bin ich – und ihr. Ich möchte nicht in diesem Leben bleiben, weil ich es muss. Ich möchte nicht von irgendjemand diktiert bekommen, was ich will – und vor allem, was ich in meinem Alter, in meiner Situation, in meinem Geschlecht, in meinem Beruf, zu wollen habe. Ich möchte andere, manchmal alte, manchmal neue, Gedanken denken können – und dürfen. Warum baut ihr immer wieder Vollsperrungen ein?

Ich möchte auf meinen Synapsen umherkurven. Menschen draußen zuwinken und lächeln. Mit Sprache und ohne. Jeden lieben. Ich möchte eine Freundin von Mehrspurigkeit sein, von Gedankenstraßen, die sich kreuzen, aber auch manchmal ambivalent verlaufen. Unmögliche Gärten neben der Autobahn pflanzen – nicht nur Sicherheiten ernten. Jemanden in mein Auto einladen, in mein Nicht-Wohnzimmer. Ich möchte eine Reifenschlacht machen und in eure Warnwesten einfallen – am liebsten nachts. Bäume neben der Straße umarmen. Jeden Tag die Verkehrsordnung bunt anmalen. Mir und euch Liebesbriefe schreiben – keine Strafzettel.

Josef Beuys hat einmal ein sehr schönes Gedicht geschrieben: Jeder Mensch ist ein Künstler. Zeilen tanzen mir gerade durch den Kopf:

öffne Dich. Tauche ein. Sei frei.
Preise Dich selbst.

[…]

Lass die Angst fallen, spiele mit
allem.

Unterhalte das Kind in Dir. Du bist unschuldig.

[…]

Ich weiß nicht, wie das Experiment ausgehen wird, das wir Leben nennen – nicht mit mir und nicht mit euch. Ich weiß nur, dass ich mir gern selbst meine Autobahn machen möchte. Ich entscheiden möchte, wie mein Denken, und damit mein Leben, auszusehen hat. Und nach dieser Straßenführung fahre ich. Nach meiner Perspektive. Weder ist sie richtig – noch falsch, aber sie ist meine! Von meinen Synapsen durchdrungen. Genau so bin ich richtig. Ich kann nicht anders. Ich lebe mein Denken. Und denke mein Leben. Vielleicht sollte diese semantische Leerformel mal von Daimler oder VW geklaut werden – wer weiß das schon.

Wer jetzt schon lebt, stört die Autobahn. Wer gern lebt, stört noch mehr. Wer gern denkt und lebt, ist absolut fahrlässig.

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