Gut überlegte Entscheidungen schlagen das Bauchgefühl – so denken viele. Dabei bedeutet Reife und Erwachsenwerden mehr als rational zu handeln.
Verzweigte Wege
Struktur und Reihenfolge sind Dinge, die mir zunächst einmal nicht besonders gut liegen. Viel eher fliege ich vom einen zum anderen Gedanken, lese hier, überspringe da und starte manchmal sogar ein völlig neues Buch, einen anderen Artikel oder eine ganz andere Sache. Meist geht es dabei wirklich nicht strukturiert zu, mein Weg führt mich dann kreuz und quer durch Gefühle, Ideen und Impulse, ich denke mich also quasi in Rage – am Ende, so glaube ich zumindest, kam ich aber doch immer da an, wo ich ankommen sollte. Nicht unbedingt immer da, wo ich geplant hatte anzukommen, aber eben immer da, wo ich letztendlich hingehörte. Für irgend einen Grund. Und das fühlte sich bisher auch immer irgendwie richtig an.
Eine ganze lange Weile hat mich diese Herangehensweise nicht gestört, im Gegenteil sogar, meinen Weg bin ich immer (zwar durch Höhen und Tiefen, dennoch beständig) gegangen – ich habe es als eine Art kreativen Prozess verstanden und mir einfach dabei vertraut, mehr noch, ich habe das Ganze nicht zu sehr hinterfragt. Eine kindliche Tugend, wie ich heute finde.
Erwachsen werden = vernünftig werden?
Dann aber ist etwas passiert, das ich im Nachhinein als den Prozess des ‚Erwachsenwerdens’ definiere. Eine sehr schöne Sache an sich. Ich habe es aber wohl mit zu viel Schwere genossen. Plötzlich kreuzten nämlich „Müsste, sollte und hätte doch“ meinen Weg. Besonders unangenehm wurden diese unglücklichen Begegnungen auch in Kombination mit Phrasen wie: „Aber Du kannst doch nicht einfach..“, „Aber dann war ja alles umsonst…das ganze Studium…“ und „Wie sieht das denn aus, das macht doch gar keinen Sinn!“, die mit dem magischen Wort „Verantwortung“ so richtig schwer im Magen liegen sollten. Soll heißen: Vernunft, Struktur und die vermeintliche Kontrolle über mein Leben liefen mir über den Weg und versprachen mir – natürlich unter Einhaltung ihrer Regeln – einen Deal: „Wenn Du alles nach Reihenfolge machst, logisch und strukturiert arbeitest, wenn Du hart an Deiner Karriere feilst, bei Entscheidungen mit Pro und Contra abwägst, Dich möglichst sinnhaft verhältst, auch mal die Zähne zusammenbeißt und daran denkst, dass alles immer schön rund aussieht und man sich gute Dinge im Leben erkämpfen muss, dann versprechen wir Dir, Du wirst ein ernstzunehmender, rationaler Erwachsener sein, den die Menschen wertschätzen, als souverän empfinden und dem sie –karrieremäßig – vertrauen. Dann bist Du ein gutes Vorbild, zeigst einen klaren Verstand, Reife und auch, dass Deine Prioritäten richtig gesetzte sind!“
Zwar klang die Ansage hart, dennoch war ich gewillt zu tun, was das Leben scheinbar von mir verlangte, um ein echter und ernstzunehmender reifer (!) erwachsener Mensch zu werden, der mit beiden Beinen fest im Leben steht. Die Zeiten der Impulsentscheidungen sollten erst einmal vorbei sein, um Platz zu machen für Rationalität und Verantwortung.
Rationalität frisst Zufriedenheit
Die erste Zeit dieses Ansatzes fühlte sich wider Erwarten ganz gut an, es war schön, meinen Gefühlen eine Pause zu gönnen, nach Verstand zu entscheiden, einen klaren Weg zu gehen und das Ganze nicht hinterfragen zu müssen, weil es unter dem Deckmantel des „verantwortungsvollen Lebens“ getarnt war. Auch die Außenwelt schien mehr oder weniger zufrieden damit, rechtfertigen brauchte ich mich kaum noch und es schien anfänglich, als würde jeder bunte Hund früher oder später einmal ‚normal’ werden. Aber nach einer Zeit fühlte ich mich – obwohl ich mehr Struktur hatte als jemals zuvor – als würde ich schwimmen und dabei keinen Zentimeter vorankommen. Ich hatte das Gefühl, irgendwie verloren zu sein. Ich wurde zunehmend unzufriedener, obwohl eigentlich alles gut war, wurde unruhig und griesgrämig und hatte sowohl Kopf- als auch Rückenschmerzen. Der Ein oder Andere hätte es wohl auch Psychosomatik genannt.
Während mir beim Schreiben und Euch beim Lesen dieser Sätze schon glasklar ist, was in dieser Episode meines Lebens nicht richtig lief, brauchte ich im echten Leben noch ein bisschen mehr Zeit bis ich meinen Heureka-Moment erleben durfte. Bis ich ihn fühlte, sich in mir alles wieder gerade rückte und ich mich wieder richtig – bis in die Zehenspitzen – spürte. Bis dahin waren schon eine ganze Weile (und eine gefühlte Ewigkeit) vergangen und ich hatte mich irgendwie verloren und abgewandt von der größten Macht, die wir in uns tragen: Unserer Intuition.
Ich habe sie ignoriert und stets vertröstet auf eine Zeit, von der ich selbst nicht wusste, wann sie eintreten oder wiederkehren sollte – irgendwann vielleicht, wenn ich in Rente bin und es verdient hätte, aus dem Bauch heraus zu entscheiden, zu tun, wonach mir den Sinn steht und zu machen, was vielleicht niemand versteht, außer mir und meinem Gefühl. Ich habe mich irgendwann gar nicht mehr richtig an meine inneren Wünsche getraut, weil ich wusste, dass mit ihnen womöglich Umbruch und Chaos verbunden wären. Das habe ich so lange erfolgreich gemacht, bis ich nicht einmal mehr richtig hören konnte, was meine Intuition mir sagen wollte. Dabei wurde ich zusehends unsicherer in Bezug auf meine Bedürfnisse und das was blieb, waren eine große Unsicherheit und das Gefühl, das falsche Leben zu führen.
„Schon die größten Krieger haben Schlachten gewonnen, weil sie ihrer Intuition folgten, nicht, weil sie den besten strategischen Plan hatten.“
Irgendwann habe ich dann nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch verstanden, dass ich nur dann wirklich gut leben, arbeiten und Mensch-sein kann, wenn ich bei mir und meinen Bedürfnissen bin. Wenn ich aus einer inneren Überzeugung heraus entscheide, die manchmal rational nicht erklärbar ist. Wenn ich Dinge tue, die zunächst keinen Sinn ergeben, weil ich darauf vertraue, dass sie auf lange Sicht einen Weg für mich ebnen. Und wenn ich mich auch mal gegen den Wind auflehnen muss, weil Hindernisse kommen, die sich auf einem anderen Weg zunächst verhindern ließen. Inzwischen kommen Struktur und ein gesundes Abwägen ganz automatisch dazu, weil ich auch diese Anteile schätzen gelernt und ihren Sinn verstanden habe. Aber sie haben niemals das allerletzte Wort bei mir.
Dein Bauch weiß mehr als du denkst
Wir alle haben eine gut funktionierende Intuition. Wir haben höchstens verlernt, auf sie zu hören, weil unsere Intuition nicht immer 1:1 unsere Sprache spricht. Aber sobald wir uns die Mühe machen und uns ihrer wieder annähern, sobald wir also in unserer rationalen Welt den Weg dorthin zurückfinden, dann – so glaube ich – , lösen sich auch Ängste und Zweifel auf und es entsteht Raum für ein Gefühl namens Zuversicht.
Titelbild: Mateus Lunardi Dutra – Flickr – CC BY 2.0
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