Jackie Thomae erzählt in ihrem Roman „Brüder“ die Geschichte zweier Männer, die nichts gemeinsam haben außer ihrer Hautfarbe. Ein Gespräch über Identität und Abgrenzung.
Was hätte anders laufen können?
Die Schriftstellerin Jackie Thomae arbeitete auch als Journalistin und Fernsehautorin. 2014 veröffentlichte sie ihren Debütroman „Momente der Klarheit“. Im August erschien nun ihr neuer Roman „Brüder“. Darin erzählt Thomae die Geschichte zweier Brüder. Mick und Gabriel, beide 1970 geboren, wachsen bei ihren Müttern in der DDR auf. Ihr Vater, zum Studieren aus dem Senegal nach Leipzig gekommen, spielt früh schon keine große Rolle in ihren Leben. Die beiden kennen sich nicht und könnten unterschiedlicher nicht sein. Das Einzige, das sie eint, ist ihre Hautfarbe. Der Roman verfolgt die Schicksale der zwei Brüder von ihrer Kindheit über den Mauerfall bis in die Gegenwart. „Brüder“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Im Gespräch, in dem wir durchaus auch kontrovers zu manchen Themen diskutiert haben, erzählt sie, welche Fragen ihre Protagonist*innen für sie beantworten müssen und welche Rolle Hautfarben in ihrem Roman spielen.
Sie haben einmal gesagt, dass Ihre Romanfiguren auch immer Ihre eigenen Fragen beantworten müssen. Welche Fragen beantworten die Protagonisten, Mick und Gabriel, in „Brüder“?
„Es geht um die Fragen des Lebens, die wir uns immer wieder stellen, die wir uns aber in jeder Lebensphase anders beantworten: Was anders hätte laufen können, warum wir so sind, wie wir sind, an welcher Stelle wir uns anders hätten entscheiden können oder müssen. Und was überhaupt eine Entscheidung ist. Denn auch Liebe wird von manchen Leuten als Mysterium betrachtet, von anderen als Entscheidung. Und dann gibt es da noch diese Fragen, die Mick- oder Gabriel-typisch sind. Mick fragt sich nach seinen Qualitäten als Liebhaber oder ob er in der Lage wäre, selbst Vater zu sein, während Gabriel sich irgendwann fragt, wie er das Leben, das er sich selbst ausgesucht hat, zeitlich meistern soll. ,Brüder‘ ist ein Gesellschaftsroman. Er erzählt deshalb, was Menschen in unserer Zeit beschäftigt, nicht nur die Brüder, auch ihre Frauen, Freund*innen, Familien, und er zeigt auch, dass wir hier an einem Ort leben, an dem wir viel mehr als anderswo das Gefühl haben, wir hätten die Wahl (gehabt). Was es nicht immer einfacher macht. Denn die nächste Frage wäre dann, ob wir selbst immer unsere weisesten Ratgeber*innen sind. Die Brüder werden sich erst begegnen, wenn viele dieser Entscheidungen bereits gefallen sind. Ich als Autorin stelle all diese Fragen, mir selbst, meinen Figuren und Leser*innen. Als mir auf meiner Buchpremiere eine Freundin sagte, der Reiz des Romans liegt für sie darin, dass er diese Fragen stellt und die Antworten den Leser*innen überlässt, hat mich das sehr gefreut. Schlaue Freund*innen und Leser*innen sind ein großes Glück.“
Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagen Sie, bezogen auf das Berlin der 90er Jahre: „Für einen kurzen Zeitraum gab es die Vorstellung, dass Kategorien wie Hautfarbe, Nationalität oder sexuelle Orientierung immer unwichtiger werden könnten.” In einer solchen Welt scheint auch ihr Protagonist Mick zu leben. Wie viel ist davon heute noch übrig?
„Die Blase, in der Mick seine Neunziger verbringt, ist die Partyszene Berlins. Diese Welt in ihren Grundzügen hat sich zu einer der touristischen Hauptattraktionen dieser Stadt entwickelt. Auch damit konnten wir damals nicht rechnen. Sie hätte verschwinden können, wie vorher Disco oder New Wave, aber sie existiert weiter. Inwieweit das Lebensgefühl der heute 20-30-Jährigen unserem damals gleicht, kann ich nicht sagen, weil man Lebensgefühle nicht konservieren kann.“
Es gibt in Deutschland noch nicht viel Belletristik mit Schwarzen Protagonist*innen. In Ihrem Roman ist die Hautfarbe Thema, aber es dreht sich bei Weitem nicht alles darum. War es Ihnen wichtig, eine Geschichte zu schreiben, die auch frei davon existiert?
„Unbedingt! Sie muss sogar frei davon existieren können. Ich habe meinen Roman nicht geschrieben, weil ich mich unterrepräsentiert fühle oder mich an einen speziellen Kreis an Leuten richte, ich habe ihn geschrieben, weil ich eine Geschichte erzählen wollte. Toni Morrison hat gesagt, sie richte sich an niemanden. Denn würde sie für Schwarze schreiben, wäre das so, als hätte Tolstoi nur für russische Leser*innen geschrieben. Sie hat niemand gesagt und alle erreicht. Denn so denken nicht nur Autor*innen, sondern auch Leser*innen. Sie suchen sich ihre Stoffe nicht nach der Herkunft oder dem Aussehen der Protagonist*innen aus, sie möchten Geschichten lesen, die sie interessieren. Die wirklich guten Geschichten, wie eben die von Toni Morrison, sind universell menschlich, deshalb berühren sie uns so.“
Inwiefern kann der Roman sich davon lösen? Soll er das überhaupt?
„Wer meinen Roman liest, wird feststellen, dass ich darin sehr viele Themen behandle. Ich erzähle die Leben zweier Männer, die jetzt Ende vierzig sind. Es geht um Zeitgeist, um Berlin vor und nach dem Mauerfall, um Familie, Karriere, Sex – um die Fragen, die uns im Laufe unseres Lebens so umtreiben. Und über weite Strecken geht es um Freundschaft und natürlich um Liebe. Literatur und auch Film, also das Geschichtenerzählen, hat die Aufgabe und im besten Fall die Kraft, dem Publikum andere Menschen näherzubringen. Das ist es, was mich reizt, als Leserin und als Autorin.“
Welche Rolle spielt das Cover von „Brüder”, wenn der Fokus des Romans nicht auf der Hautfarbe liegen soll, wie in einem Beitrag des Deutschlandfunks erklärt?
„Das Cover spielt mit dem Thema Hautfarben – im Plural – und funktioniert ohne diesen Hintergrund einfach auch grafisch als schönes Streifendesign in sogenannten Nude-Tönen. Ich bin sind sehr zufrieden mit dieser Entscheidung, in die mich der Verlag eng eingebunden hat. Trotzdem kann ich sagen, dass es keine Geschichte ist, in der es ausschließlich um Hautfarben geht. Es ist eins der Themen, das grafisch umgesetzt wurde. Ein Buchcover hat ja auch erst einmal nur die Aufgabe, dass man neugierig aufs Buch wird, dass man in der Buchhandlung danach greift. Kennen Sie ein Cover, das einen Roman in seiner ganzen Vielschichtigkeit repräsentiert?“
Sie beschreiben mit den beiden Charakteren Mick und Gabriel eine Realität vieler mixed Menschen in Deutschland. Aufgewachsen ohne den Zugang zum Schwarzen Elternteil, sich gegebenenfalls nicht als Schwarz zu empfinden und trotzdem ständig in die Rolle der*des Schwarzen gedrängt. Beim Charakter Gabriel führt das dazu, dass er sich von allem „Schwarzen“ abgrenzen möchte. Ist das eine Realität, die Sie öfter beobachten konnten?
„Gabriel möchte als Einzelperson wahrgenommen werden, nicht als Angehöriger einer Gruppe. Er lehnt Gruppen generell ab, und, ja, ich kenne Leute, die das tun. Dieses konsequente Für-sich-stehen gehört zu den Eigenschaften, die mich an dieser Figur fasziniert haben. Er fragt sich also, wieso er sich über seine Hautfarbe einer Gruppe zugehörig fühlen sollte und er fragt sich auch, warum er sich diese Frage überhaupt stellen muss, die er sich als Weißer nämlich nicht stellen müsste. Beide Brüder, Gabriel wie Mick, sind ja im Osten geboren, was eine weitere riesige Schublade an Klischees aufmachen könnte, in die sie sich beide nicht einordnen lassen. Was diese so grundverschiedenen Männer ebenfalls eint ist, dass sie sich zu keinem Zeitpunkt als Opfer sehen. Was uns prägt, ist unser soziales Umfeld, unsere Kultur, unsere Sprache. Gabriel geht nach London. Wie viele Menschen, die auswandern, bekommt er außerhalb seines Landes einmal mehr gespiegelt, wo er herkommt.“
Im „Spiegel“ sagten Sie kürzlich, dass der Begriff „People of Color” die Welt in zwei Lager teilt. Dieser wird in dem Artikel jedoch falsch definiert. Es geht nicht nur um alle nicht-weißen Menschen, sondern um ein Bündnis an Menschen, die bestimmte Rassismuserfahrungen machen. Können Sie näher erklären, warum Sie das nicht richtig finden?
„Worte sind mein Job, sie zu hinterfragen, gehört dazu. Ich verstehe den Gedanken dahinter, finde es aber wichtig, dass dadurch individuelle Identität und Erfahrungen nicht einfach in kollektive Schablonen gepresst werden. Und ich bin mir nicht sicher, ob uns die über die letzten Jahrzehnte gewandelten Begrifflichkeiten im Miteinander vorangebracht haben. Ich glaube auch nicht, dass alle Begriffe, die im US-amerikanischen Kontext entstehen, im Rest der Welt eins zu eins übernommen werden sollten. Ich bin der Meinung, dass es sehr viele Eigenschaften gibt, über die Menschen sich definieren und zugehörig fühlen können, nicht nur den Umstand, nicht weiß zu sein, was ja erst einmal nur eine Zuschreibung durch andere ist. Die Brüder in meinem Roman lassen sich jedenfalls beide nicht darauf reduzieren, People of Color zu sein. Sie sind Männer, sie gehören einer bestimmten Generation an, sie haben Schwächen, Stärken, Talente. Sie möchten verstanden werden, wünschen sich Normalität und Akzeptanz. Nachvollziehbare Wünsche, die sie mit einem Großteil der Weltbevölkerung teilen.“
In dem Artikel sagen Sie auch, dass Sie zu „ihren Leuten” nicht „Weiße” sagen würden. Kurz zuvor geht es aber darum, wie sie als Schwarzer Mensch beschrieben werden müssen. Ist es nicht widersprüchlich, dass Sie als Schwarzer Mensch immer mit der Hautfarbe beschrieben werden, während das bei weißen Menschen nicht passiert?
„Ich habe einen weißen und einen schwarzen Elternteil. Dadurch hebe ich mich hier in Deutschland aus der Masse hervor, wenn auch immer weniger, und werde dementsprechend benannt. Diese Benennung unterliegt dem Zeitgeist und lautet im Moment „of color“. Dennoch sehe ich keinen Grund, die Leute in meinem Umfeld anhand ihrer Hautfarben zu beschreiben oder zu unterscheiden.“
Jackie Thomae: Brüder. Hanser Berlin, August 2019, 23 Euro.
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