Wenn sich das Gedankenkarussell einmal in Gang gesetzt hat, kommt es meist stundenlang nicht mehr zum Stehen. Es dreht Runden um Runden. Aber kann es ein Zuviel an Nachdenken geben? Ist das, was man ‘Overthinking’ nennt, wirklich rein negativ?
Sei kein Maybe. Dieser (längst verbotene) Werbespruch einer Zigarettenmarke meint mich. Denn ich bin ein Maybe. Manche Menschen würden mich als chronisch unentschlossen bezeichnen. Als zögerlich. Als kopflastig und unspontan. Ich selbst würde das nicht ganz so negativ ausdrücken. Ich empfinde mich als nachdenklich unentschieden. Meist kann ich auf der Suche nach einer Entscheidung beiden Seiten etwas abgewinnen und muss das dann für mich erstmal durchdenken. Und das braucht mitunter Zeit.
Unsere Gesellschaft sieht das anders. Unentschlossenheit und langes Grübeln sind keine Tugenden. Wer sich schnell und klar entscheiden kann, wird dafür hingegen gefeiert. Nicht nur in den einschlägigen Werbespots. „You can.“ – „Morgen kann kommen.“ – „Just do it.“
Eine Kollegin sagte kürzlich zu mir, ich könne ja mal über das Thema Overthinking schreiben und sie hoffe, sie trete mir damit nicht zu nah. Tut sie nicht. Ich lese mehrere Artikel über den Begriff und erkenne mich wieder. Etwas Negatives soll das sein, steht da aber auch. Auf der Seite einer Krankenkasse steht: „Wenn wir (…) aus dem Gedankenkarussell nicht mehr herauskommen und uns nur noch auf die negativen Dinge konzentrieren, dann spricht man von ‚Overthinking‘“, und gibt Tipps, wie wir das böse Gedankenkarussell stoppen können. Das klingt logisch.
Es geht also nur um die negativen Gedanken. Die allerdings haben gemeinhin die Oberhand in unseren Köpfen, wie eine Erhebung des Forscherduos Dr. Poppenk and Julie Tseng der Queens University in Kingston ergab. So haben wir am Tag bis zu 6.200 Gedanken. Und davon ist leider nur ein verschwindend geringer Anteil positiv, nämlich gerade mal drei Prozent. Die absolute Mehrheit unserer Gedanken ist entweder negativ oder unwichtig. Ist man als Overthinker also ein negativer Mensch, der sich mit unwichtigen Gedanken herumschlägt?
Als wäre man mit dem Fuß gegen einen Ameisenhaufen gestoßen, sprudeln die Gedanken nur so hervor. Nehmen sich den Raum, der doch leer sein muss, um in den Schlaf fallen zu können.
Fiona Rohde
„Wie ein Ohrwurm, der einen tagelang verfolgt“
Ich liege nachts wach und denke darüber nach, ob ich zu viel nachdenke. Zu viel Denken ist also ein Problem. Etwas, was man sich in der heutigen Zeit auf den ersten Blick kaum vorstellen mag. Aber nachts, wenn ich wieder stundenlang wachliege, merke ich, dass das Denken in Dauerschleife sehr wohl seine Schattenseiten hat. Wenn man nur kurz aufwacht und sich plötzlich in einem schnellen Strudel von Gedanken wiederfindet, obwohl man eben noch geschlafen hat. Als wäre man mit dem Fuß gegen einen Ameisenhaufen gestoßen, sprudeln die Gedanken nur so hervor. Nehmen sich den Raum, der doch leer sein muss, um in den Schlaf fallen zu können. Über Stunden bleiben sie da, die Ameisen. Wie ein Ohrwurm, der einen tagelang verfolgt, schafft man es nicht, sie wegzuschalten.
Aber auch tagsüber gibt es sie, die nicht enden wollenden Gedanken. Und ich weiß, dass ich damit viele Menschen nerve. Mich selbst am meisten. Wenn ich zum Beispiel einen Tag freihabe und die Hälfte des Tages dafür draufgeht, dass ich mir Gedanken mache, wie ich die freie Zeit für mich verwenden will. Schwups. Tag rum.
Bei alltäglichen, kleinen Entscheidungen hilft es Menschen mit Entscheidungsschwierigkeiten sehr, Routinen zu haben. Das ist ein Weg, den verkopften Momenten zu entgehen. Es gibt viele Dinge, die ich immer in einer bestimmen Art oder zu einem bestimmten Termin mache. Wenn das Gedankenchaos aber einmal in Fahrt ist, wird es schwer. Da helfen weder Pro- und Contra-Listen, noch einmal um den Block zu laufen. Scheinbar kann sich das Gehirn extrem gut an den Moment erinnern, an dem man versucht hat, dem Karussell zu entfliehen. So wie das Word-Dokument, mit dem freundlichen Reminder „Willkommen zurück: Sie können dort weitermachen, wo Sie aufgehört haben.“ Nein, will ich nicht. Ich hätte gern eine Skip-Taste gedrückt, wäre gern woanders im Text gelandet.
Ich merke irgendwann, dass sich in meinem Kopf eine Art Gedankenknoten bildet, und ich weiß, dass ich diesen Knoten nicht werde lösen können. Ich komme dann keinen Schritt mehr voran oder zurück. Das sind so Momente, in denen ich mir kaum zu helfen weiß, und diese Erkenntnis sorgt dafür, dass es noch schlimmer wird. Der einzige Ausweg, den ich dann oft sehe, ist ein ebenso hilfreicher wie bescheuerter Trick: Wenn ich mich nicht mehr klar für X oder Y entscheiden kann, dann hilft nur noch die Helmut Kohl-Methode: aussitzen. So lange warten, bis eine der zwei Optionen entfällt, weil es zeitlich gar nicht mehr möglich ist, sie zu wählen. – Aber gut fühlt sich das nicht an.
Unsicherheiten und das Überangebot an Informationen und Fakten
„Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken.“ „Lern einfach mal, eine Entscheidung zu treffen.“ „Sag ja oder nein, aber nerv’ dein Gegenüber nicht mit deinem Zögern, deinen Pro- und Contra-Gedanken, deinem ständigen Hin und Her, ohne Ergebnis.“ Das sagen meist Menschen aus dem näheren Umfeld von Overthinkern. Das hilft nur so semi gut, denn meist sorgt das für noch mehr Gedanken. Und noch mehr Entscheidungsdruck beim nächsten Mal. Und noch mehr Scheitern. Denn Overthinking hat auch sehr viel mit der Überzeugung zu tun, unfähig zu sein. Und mit Unsicherheit. Ein Gespräch auf einer Party, ein unbedachter Spruch in der Firma, und schon ist da diese Stimme in meinem Kopf. Die sagt: Das hättest du nicht sagen sollen. Wie das bei meinem Gegenüber angekommen sein mag? Hat meine Unbedachtheit Konsequenzen und wenn ja: welche? Wie schön wäre hier ein einfaches „Schwamm drüber“. Funktioniert aber nicht. Die Gedanken hören nicht auf solche Kommandos.
Und es gibt noch zwei Dinge, die der endlosen Grübelei in die Karten spielen. Das ist zum einen das Überangebot an Fakten und Wegen der Informationsbeschaffung und somit die Möglichkeit, immer noch mehr Informationen und Entscheidungswege zu sammeln. Die Gedankenspirale dankt und schaltet in den vierten Gang. Was es noch schwerer macht, beschreibt der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Steve Ayan in seinem Buch „Lockerlassen“: „Je mehr Informationen in Umlauf sind, desto verunsicherter sind wir. Denn diese Informationen sind in aller Regel ja keine beglaubigten Fakten, sondern ein Cocktail aus Behauptungen, Gerüchten, Meinungen, Verdachtsmomenten, Warnhinweisen und Verleumdungen“. Das ständige Filtern und Bewerten von Informationen macht Entscheidungen logischerweise nicht einfacher.
Fakt ist aber auch: Die meisten Menschen müssen heute weit mehr Entscheidungen treffen, haben unfassbar viel mehr Möglichkeiten als frühere Generationen, deren Weg oft stärker vorgegeben war. Das ist zwar ein Privileg. Dennoch kann genau das auch einigen Menschen schwerfallen. Ein Multioptionsleben eben, das uns planlos zurücklässt. In einer Gesellschaft mit vollkommen freien Optionen entscheidet sich der Mensch nicht mehr für alle, sondern für gar keine Option, könnte man frei nach Adorno und Horkheimer sagen.
Der Blick von außen
Oft wird der Gruppe der Unentschlossenen unterstellt, dass sie sich alle Möglichkeiten offenhalten möchte. Dass ihre Unentschlossenheit in Wahrheit Berechnung sei. Dass sie auf etwas Besseres warten. Zum Beispiel, wenn es um eine Verabredung geht. Schließlich kann ja niemand derart verkopft sein. Wie oft ich mit meinem Kaputtdenken Freund*innen enttäuscht habe, mag ich gar nicht überlegen. So kann zum Beispiel die Planung eines Urlaubs mit Overthinkern durchaus zu einer Zerreißprobe werden.
Und es gibt noch einen großen Gegner für alle Grübelnden und Unentschlossenen. Die Meinung der anderen. Denn wenn man selbst viel abwägt und hier und da zu keiner schnellen Entscheidung gelangt, kann uns die Meinung der Entschlossenen vereinnahmen. Man wird auch gern missioniert. Wo man doch keine klare Meinung hat. Ein leichtes Opfer, vermeintlich. Dabei sollte man die Verkopften nicht unterschätzen. Overthinking ist nicht das Ergebnis von keiner Meinung. Und manchmal entscheidet man sich im Leben nicht gegen etwas, sondern halt nur nicht dafür.
Was Overthinking noch empowert, sind Stimmungsschwankungen. Manchmal denke ich, mich gibt es zweimal. Mal bin ich stark und geerdet. Mal schwebe ich orientierungslos im luftleeren Raum. Auch das macht es nicht einfach, diesem Narrativ zu entsprechen, dass man immer aktiv sein Leben gestalten muss, dass man alles sein darf, was man will – aber nicht nichts sein darf. Kein Maybe eben. Wenn die eigene Stimmungslage sich wie ein Blättchen auf einem Luftschacht benimmt, keine leichte Aufgabe.
Abseits von vielen zugegebenermaßen unnötigen alltäglichen Kämpfen, gibt es aber auch Schauplätze, wo ich das Grübeln streng verteidigen möchte. Denn wenn es um wirklich wichtige und folgenreiche Entscheidungen geht, sollte man sich in jedem Fall den Kopf zerbrechen. Mir ist da die Bemerkung einer Nachbarin meiner Eltern noch sehr präsent, obwohl sie Jahre zurückliegt: „Nicht zu lang drüber nachdenken. Einfach machen.“ Wohlgemerkt: Hierbei ging es ums Kinderkriegen. Just do it. Es kann aber nicht der goldene Weg sein, im Zweifelsfall das zu tun, was man schon immer so gemacht hat. Oder blind das tun, was andere machen, nur um der Entscheidungsschlacht im Kopf zu entgehen.
Im Internet lese ich den Satz: „Die Unentschlossenheit ist eine Zeitdiebin – sie richtet sich nach nichts. Die Verzögerung ist ihr Komplize – freudlos und ohne Lächeln“. Für eine Gesellschaft des schneller, höher, weiter ist Verzögerung verständlicherweise ein No-Go. So kommt niemand voran, sagen dann viele. Aber müssen wir denn immer vorankommen?
Overthinking kann nämlich so viel mehr sein. Ein Rückzugsort. Ein Ort, der nur einem selbst gehört, an dem man wegfliegen und jemand anderes sein kann. Auch das sind mitunter große Gedankenwolken. Konstrukte zum Abtauchen. Und das ist gut und wichtig.
Das Analysieren und Überlegen gehört zu manchen Menschen dazu. Solange das Grübeln konstruktiv ist, solange es um Dinge wie Selbstreflexion geht, um wichtige Perspektivwechsel, dann kann Overthinking auch extrem gut sein. Wenn es allerdings destruktiv bleibt und es nur darum geht, uns selbst zu zerfleischen, wenn die Grübelei in Stress oder sogar Depression mündet, dann sollte man dagegen angehen und sich Wege und Hilfe suchen.
Es wäre schön, wenn jede*r eine Escape-Taste hätte, wenn sie*er in einer Negativ-Spirale festhängt. Und wenn wir dafür sorgen könnten, dass sich die Quote positiver Gedanken, die traurigen kleinen drei Prozent, massiv erhöht. Und ich würde mir wünschen, dass es gleichzeitig den Nichtigkeiten und destruktiven Gedanken an den Kragen geht. Dann wäre wieder Platz im Kopf für wirklich wichtige Dinge, und die Nächte nicht so voller Karusselle und Ameisen.
Dieser Text erschien erstmals in unserem „Voices“-Newsletter, für den ihr euch hier anmelden könnt. Jede Woche teilt darin ein*e EDITION F-Autor*in ganz persönliche Gedanken zu Themen wie Sex, Gesellschaftspolitik, Vereinbarkeit, Popkultur, Mental Health und Arbeit.