Janina Nagel

Über Behindertenfeindlichkeit & Inklusion: Janina Nagel im Interview

In unserem Podcast Echt & Unzensiert spricht Influencerin und Inklusionsaktivistin Janina Nagel über ihr Aufwachsen und Leben mit Kleinwuchs, über Ableismus und was getan werden muss, um Inklusion in unserer Gesellschaft endlich voranzubringen.

Die ganze Podcastfolge hört ihr über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Janina Nagel lest ihr hier.

Janina – viele Menschen sind verunsichert, wie sie mit dem Wort „behindert“ umgehen sollen. Was denkst du, woher diese Unsicherheit kommt?

„Ich glaube, weil Behinderung immer etwas Böses war – vor allem früher. Behinderte Menschen wurden versteckt, man hat da gar nicht drüber gesprochen. Auch mir wurde von der Gesellschaft immer wieder vermittelt: ,Wir wollen das nicht weiter thematisieren. Du bist einfach kleiner.’ Und diese Ansicht habe ich als Kind dann auch übernommen.

Irgendwann habe ich aber gemerkt: ,Ich bin nicht einfach nur kleiner, sondern ich stoße an Grenzen. An einem Kindergeburtstag kann ich beispielsweise nicht teilnehmen, weil es in den Kletterpark geht.’

Ich finde, man sollte das von Anfang an mitgeben: Nein, du hast auch eine Behinderung – das ist nichts Schlimmes und du kannst es sagen.“

Ist es deiner Meinung nach wichtig, einen Unterschied zu machen zwischen den Formulierungen „Mensch mit Behinderung“ und „behindert“?

„Bei der einen Variante handelt es sich um Person-First-Sprache, bei der also die Person im Vordergrund steht. Bei der anderen Variante steht die Identität im Fokus, also: ‚Ich bin eine behinderte Person.‘

Tatsächlich benutze ich oft die Identity-First-Sprache, weil mir wichtig ist, gezielt darüber zu sprechen und die Betonung auch darauf zu legen. Aber beides ist okay.

Und an alle, die sich unsicher fühlen und das Wort ‚behindert‘ am liebsten gar nicht aussprechen möchten: Doch, nutzt es – im richtigen Kontext! Bitte vermeidet Euphemismen wie ‚Handicap‘ oder Ähnliches. Ich spiele kein Golf, habe auch noch nie Golf gespielt und werde es auch nicht tun.“

10 Prozent der Bevölkerung sind schwerstbehindert – das heißt, jede zehnte Person hat einen Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent. Viele dieser Behinderungen sind natürlich nicht sofort sichtbar. Dennoch fragt man sich: Warum sieht man so selten Menschen mit Behinderung im Alltag? Wo sind die alle?

„Leider oft in Pflegeheimen und in Werkstätten – versteckt vor der Gesellschaft, was ja schon immer irgendwie so war.

Mir wurde in der neunten oder zehnten Klasse bei der Berufsberatung auch signalisiert, man müsse etwas ,Spezielles’ für mich finden. Die Berater waren komplett überfordert, wo ich mir dachte: ,Fragt mich doch einfach, was ich gerne mache!?’ Warum sollte ich mich nicht ganz normal bewerben können? Warum muss für mich etwas Besonderes gefunden werden? Das habe ich nie verstanden. Ich denke, das Problem besteht immer noch.

Natürlich kenne ich jetzt viele Menschen mit Behinderung, vor allem durch meine Aktivitäten auf Social Media und den Austausch dort. Aber ohne diese Plattform und mein Engagement in diesem Bereich wäre mein Freundeskreis wahrscheinlich nicht so divers.“

Eins steht fest: Behinderte Menschen müssen sichtbarer werden. Wie gelingt das?

„Indem wir Inklusion nicht nur als Wort nehmen, mit dem wir uns schmücken. Indem Unternehmen ihr Firmenlogo nicht nur für einen Monat bunt gestalten. Es geht darum, Inklusion wirklich zu leben – in den Austausch zu gehen, Barrieren abzubauen und echte Veränderungen zu schaffen.

So wie es beim Umweltschutz das sogenannte ,Greenwashing’ gibt, gibt es auch ,Diversitywashing’. Wie oft sehe ich Unternehmen, die sich damit rühmen, besonders divers zu sein, aber in Wirklichkeit bleibt es oft bei leeren Versprechungen.

Man sieht dann bei diversen Talks oft eine Person of Color, eine Frau und vielleicht jemanden, der nicht cis-männlich ist, und das Ganze wird als ,super divers’ verkauft. Aber ich frage mich: Wo ist die Person mit Behinderung? Eine Person kann natürlich auch mehrere dieser Merkmale gleichzeitig verkörpern, aber Behinderung wird oft separat betrachtet, als ob es ein zusätzliches Extra wäre. Es gehört selten von Anfang an dazu, wenn über Diversität gesprochen wird – und daran müssen wir arbeiten.“

Wenn es um Barrieren geht, fällt häufig der Satz: „Du bist nicht behindert. Die Umwelt behindert dich.“ Was sind deine Gedanken dazu?

„Die Aussage ist nicht zu Ende gedacht. Also klar: Hier bei der Bühne, auf der wir gerade sitzen, behindert mich die Umwelt, indem da eine Stufe ist. Aber es geht ja nicht nur um bauliche Barrieren – ich werde auch von Menschen diskriminiert, weil ich behindert bin. Das lässt sich nicht einfach durch eine Rampe oder bauliche Anpassungen lösen, sondern nur durch Aufklärung und gesellschaftlichen Wandel.

Es wirkt oft, als wäre die Diskussion damit abgehakt: ,Die Umwelt behindert dich, Thema erledigt.’ Aber so einfach ist es nicht. Natürlich schafft die Umwelt viele Barrieren, wie Stufen oder andere Hindernisse – aber auch Menschen mit Kinderwagen sind davon betroffen.

Wir müssen als Gesellschaft verstehen, dass es auch strukturelle Diskriminierung gibt, und dass Menschen, die dafür verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden müssen.“

Diskriminierung muss nicht immer absichtlich passieren. Wie oft kommt es vor, dass jemand unwissentlich bei dir eine Grenze überschreitet?

„Das passiert oft. Und ich spreche es dann auch an. Ich bin nicht nachtragend, denn die Menschen können nur daraus lernen, wenn sie Fehler machen. Ich mache ja auch Fehler, vielleicht in Bezug auf andere marginalisierte Gruppen.“

Welche Fehler sind dir schon mal passiert?

„Ich habe mich bestimmt schon unwissentlich rassistisch geäußert. Aber Unwissenheit darf nicht als Entschuldigung dienen.

Das Beste, was man in solchen Momenten tun kann, ist zu sagen: ,Okay, das war falsch. Bitte erklär es mir, damit ich es verstehe.’ Und dann lernt man daraus und macht es beim nächsten Mal besser. Sich einfach nur darauf zu berufen, dass es nicht böse gemeint war, reicht nicht. Das ist auch meine Einstellung, wenn Leute bei mir eine Grenze überschreiten.“

Wann hat jemand das letzte Mal eine Grenze bei dir überschritten?

„Neulich meinte eine Person, die nicht behindert ist, dass sie Rückenschmerzen habe, weil sie jetzt über 30 ist. Daraufhin sagte sie: ,Ja, ich bin jetzt auch ein bisschen behindert.’ Sie fand das lustig, und ich dachte nur: ,Äh, nein.’

Ich mag es nicht, wenn ich offensichtliche Dinge erklären muss, aber manchmal bleibt mir nichts anderes übrig. Man muss dann der ,Erklärbär’ sein und hoffen, dass es ankommt. Es geht darum, dass die Person es annimmt und versteht: ,Okay, das war nicht cool’, anstatt sich zu rechtfertigen und zu sagen: ,Aber ich hab’s doch nicht böse gemeint.’“

Wie zuversichtlich bist du, dass Deutschland sich in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten in Richtung Barrierefreiheit und Teilhabe aller am öffentlichen Leben entwickelt?

„Wenn ich die aktuellen Wahlergebnisse sehe und den Rechtsruck in Deutschland, der leider oft geleugnet wird, sieht das nicht so gut aus, muss ich sagen. Dennoch bin ich eine optimistische Person und glaube fest daran, dass wir noch viel bewirken können.

Inklusion ist kein einmaliges Projekt, das irgendwann abgeschlossen ist, sondern ein fortlaufender Prozess. Wir alle entwickeln uns weiter, die Technik schreitet voran, und auch Architektur und Infrastruktur ändern sich. Viele Menschen begreifen nicht, dass Barrierefreiheit allen zugutekommt.

Jede*r, der einen Fuß verstaucht hat oder mit einem Kinderwagen unterwegs ist und plötzlich vor einem nicht funktionierenden Aufzug steht, wird sagen: ,Verdammt, ich brauche diesen Fahrstuhl!’ Barrierefreiheit ist nicht nur für behinderte Menschen gedacht, sondern für alle. Deshalb sollte es viel mehr Offenheit und Unterstützung geben.

Und man sollte sich auch immer klarmachen: Die meisten Menschen erwerben ihre Behinderungen im Laufe ihres Lebens und sind nicht von Geburt an betroffen.“

Du willst mehr über das Thema erfahren?

Mehr über Janina und ihre persönliche Geschichte erfährst du in der 48. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Dort spricht sie spricht unter anderem über ihr Aufwachsen mit Kleinwuchs, Herausforderungen im Alltag und ihren Umgang mit Vorurteilen und Männern, die sie fetischisieren. Reinhören lohnt sich!

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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!

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