Foto: Mateus Lunardi Dutra – Flickr – CC BY 2.0

Warum wir alle noch einen zweiten Lebenslauf brauchen

Der Lebenslauf ist keine Aneinanderreihung von Fakten. Durch gezieltes oder unbewusstes Hervorheben und Weglassen wird aus objektiver Beschreibung subjektive Interpretation, und das ist gut so. Denn so können wir umschreiben und uminterpretieren. Nur warum nutzen wir das nicht?

Der alternative Lebenslauf – eine Schreibübung für deine Träume

Der Lebenslauf ist unser Aushängeschild bei der Suche nach einem neuen Job. Dabei suchen wir nicht nur nach einem neuen Arbeitgeber, Projekt oder Umfeld, sondern vor allem nach neuen Herausforderungen, nach einer Verbesserung des Status Quo, nach Möglichkeiten, unsere Fähigkeiten noch konstruktiver zu nutzen, und uns nicht nur fachlich, sondern auch persönlich zu entfalten. Anstatt im CV unsere Persönlichkeit zu beschreiben, richten wir diese aber viel zu oft nach dem Lebenslauf – ganz unbewusst.

Wir erzählen beim Smalltalk mit Bekanntschaften oder beim Kennenlernen neuer Kollegen, was wir zuvor so gemacht haben – und erzählen unseren Lebenslauf. Wir erzählen von Stationen auf unserem Weg, die uns dahin gebracht haben, wo wir jetzt sind, die aus uns gemacht haben, wer wir jetzt sind. Ein Werdegang eben. Aus dem Papier der Bewerbungsunterlagen wird unsere Identität, weil wir die Geschichte immer wieder erzählen. Getreu dem Motto „Fake it until you make it“ glauben wir irgendwann selbst an die Kohärenz, die Logik in der Geschichte. Der rote Faden macht sich gut, denn so ist es einfach, zu erzählen, so müssen wir keine unangenehmen Fragen beantworten, uns nicht verteidigen und legitimieren. Aber der rote Faden ist erfunden.

Der Mensch liebt Kohärenz, dafür können wir nichts, und daran können wir auch nichts ändern. Was nicht passt, wird eben passend gemacht. Ist eine Geschichte logisch, ist sie leicht wiederzugeben, freut sich das Gehirn, sie schnell zu verstehen. Auch wenn „holprige“ Lebensläufe von außen oft als nicht so schlimm wahrgenommen werden, wollen wir einen Bogen über die eigene Geschichte spannen, um im Gleichgewicht mit uns selbst zu sein. Daran wird auch der zehnte Artikel über das Verteidigen von Lücken im Lebenslauf nichts ändern.

„Aber der alte war doch noch gut?“

Die erste Version unseres heutigen Lebenslaufes schreiben wir auf der Suche nach einem Schülerpraktikum, vielleicht in der neunten Klasse. Es folgen erste Nebenjobs, die Uni-Bewerbung, Bachelor, Master, der erste Job, und so weiter. Wir bekommen Feedback, von Leuten, die unseren Lebenslauf gesehen haben. Wir ändern Dinge, lassen vielleicht Dinge aus, fügen neue hinzu, heben neue Aspekte hervor, schwächen anderes ab und lassen es aus. Das Grundkonstrukt bleibt das gleiche.

Bewerben wir uns heute auf eine Stelle, wollen wir, dass unser Lebenslauf sagt „dieser Job ist wie gemacht für mich“, oder „ich bin perfekt für diese Stelle“ – Kohärenz ist wichtig, der rote Faden, der vermittelt, dass man genau an der richtigen Stelle steht, persönlich wie fachlich, um diese Herausforderung anzunehmen. Daran klingt erstmal nichts falsch. Doch dahinter stecken zwei große Probleme: Zum einen liegt der Anfang dieses roten Fadens so weit zurück, dass wir uns fragen müssen: Ist das noch meiner? Ist der Anfangspunkt meiner Karriere, und damit der Bewerbung, die ich mit 30 schreibe, immer noch das Praktikum im Grafik-Studio nach dem Abi, oder vielleicht doch das Nebenfach im Studium, das man irgendwie doch immer lieber mochte? Hat mich das Studium an einer in irgendeinem Fach renommierten Uni wirklich so sagenhaft geprägt, oder war der entscheidende Wegweiser in Wahrheit die Schwester, der Kommilitone im Asta oder ein Songtext der Lieblingsband?

Zum anderen versuchen wir, auch die persönlichen Interessen mit dem professionellen Werdegang in Einklang zu bringen – nur sollten wir diese nicht dem Lebenslauf unterordnen. Das kann aber unbewusst ganz schnell gehen. Daher gilt es, genau diese Punkte zu hinterfragen: Welche Dinge, die meine Persönlichkeit ausmachen, verstecken wir im Lebenslauf?

Damit wir mit uns selbst in Einklang sind und wissen, was unsere gesamte Persönlichkeit ausmacht, sollten wir uns die Zeit nehmen, einen zweiten Lebenslauf zu schreiben. Selbst, wenn kein Personaler diesen jemals zu Gesicht bekommen sollte. Denn in jedem Leben steckt garantiert mehr als nur eine kohärente Story. Und diese alternativen Entwicklungen gilt es zu entdecken – für uns selbst – denn sie verraten uns jede Menge über uns.

Den alternativen Lebenslauf auf ein leeres Blatt Papier zu kritzeln
kann da eine gut Übung sein. Vor allem, wenn man ihn immer mal wieder aus der Schublade kramt.

Einfach nur so, und nur für dich: Schreib deinen alternativen Lebenslauf auf

Und warum sollte ich das tun? Die Antwort ist ganz einfach. Um den heiß ersehnten Traumjob zu finden, der wirklich zu dir passt (und wer will das schließlich nicht), musst du dich selbst kennen. Und dazu gehört zuallererst, ehrlich zu sich selbst zu sein. Betone ich in meinem letzten Job die hohe Budget-Verantwortung, weil das Fertigkeiten beweist, die bei meiner nächsten Bewerbung gut ankommen, oder hatte ich in Wahrheit mehr Spaß daran, das Poster für das Event zu entwerfen? Lasse ich bestimmte Nebenjobs aus, die ich während des Studiums gern gemacht habe, weil diese nicht ins Bild passen, oder eventuell sogar schlecht ankommen könnten? Sich diesen Fragen offen und ehrlich zu stellen, erfordert nicht nur Mut, sondern auch Zeit. Vielleicht aber auch nur einen Abend ganz für sich, eine Flasche Rotwein, Stift und Papier.

Deine eigene Geschichte

Genauso, wie wir einst die erste Version unseres Lebenslaufes zu Papier gebracht haben, sollten wir uns also die Zeit nehmen, heute nochmal mit einem weißen Blatt Paper anzufangen und einen alternativen Lebenslauf zu schreiben. Denn „thinking outside the box“ passiert nicht einfach so – es braucht Übung, Zeit und Geduld, besonders, wenn es dabei um den eigenen Werdegang geht. Und Werdegang bedeutet, was aus uns geworden ist, oder werden soll. Das eigene Leben, die Ausbildung, die Persönlichkeit und die Erfahrungen, die wir gemacht haben, auf eine Seite zu packen, ist eine Aufgabe und eine Übung, die nicht als „Pflicht“ angesehen werden sollte, sonders als Chance. Denn wie wir unsere Geschichte schreiben, hängt von uns selbst ab.

Der alternative Lebenslauf gibt uns die Möglichkeit, frei von gesellschaftlichen und branchenspezifischen Konventionen die Beziehung zwischen unserem Charakter und unserem Job zu reflektieren. Vor allem in Phasen, in denen wir überlegen, in welche Richtung wir uns bewegen wollen, in denen wir mit der Möglichkeit liebäugeln, mal etwas anderes auszuprobieren, oder  wir uns schlicht und einfach aus Notwendigkeit umorientieren müssen, tut es gut, sich konstruktiv mit dem eigenen Werdegang auseinanderzusetzen. Anstatt sich destruktiv zu überlegen, was man bei der letzte Bewerbung falsch gemacht hat, sollten wir konstruktiv reflektieren, und etwas Neues schaffen. Heben wir also Seiten an uns hervor, die wir ansonsten unterschätzen, listen wir Fähigkeiten auf, die uns einfach nur Spaß machen, und das erst mal einfach nur so, nur für uns.

Und zuletzt: Schreiben wie zu Grundschulzeiten

Dein Lebenslauf ist keine Aneinanderreihung von Fakten. Durch gezieltes oder unbewusstes Hervorheben und Weglassen wird aus objektiver Beschreibung subjektive Interpretation, und das ist gut so. Denn so können wir umschreiben und uminterpretieren.

Meine liebste Übung im Deutschunterricht in der Grundschule ging so: Unser Lehrer schrieb fünf Worte an die Tafel, alle schrieben sie ab. Als Hausaufgabe sollten wir aus diesen Worten eine Geschichte schreiben. Am nächsten Tag waren 25 völlig unterschiedliche Geschichten entstanden. Genau so sollten wir mit den Daten in unserem Lebenslauf umgehen: Die Substanz bleibt die gleiche, doch wie wir die Wörter verknüpfen, und welche Geschichte wir daraus schreiben, bleibt uns überlassen.

Wir haben die Freiheit, die einzelnen Wörter zu verknüpfen, wie wir wollen, denn wir haben sie einst selbst geschrieben. Sie gehören uns, und niemandem sonst. Deshalb sind wir auch die einzigen, die damit experimentieren dürfen. Denn selbst wenn es nur auf dem Papier ist, schafft die Möglichkeit, in Gedanken frei zu sein, neue Realitäten – denn sie bringt uns auf neue Ideen. Nutzen wir also diese Freiheit, denn sie bringt uns mit Sicherheit näher zu uns selbst. Deine eigene Geschichte, dein alternativer Lebenslauf, bringt dich vielleicht so näher zu deinem Traumjob. Oder ein Stück näher zu dir selbst.

Titelbild: Mateus Lunardi Dutra – Flickr – CC BY 2.0

Mehr bei EDITION F

Wieso es völlig okay ist, öfter den Job zu wechseln. Weiterlesen

„Ich habe eine Lücke im Lebenslauf – wie schlimm ist das?“ Weiterlesen

Was bitte ist ein Bullet Journal und warum sollte ich damit beginnen? Weiterlesen

Anzeige