Inwiefern wirkt sich ADHS auf den Alltag aus? Warum wurde es erst im Erwachsenenalter diagnostiziert? Und, was ist ADHS überhaupt? Wir haben mit betroffenen Frauen gesprochen – Katarina B. ist eine davon.
ADHS aus zwei Perspektiven
Katarina B. hat seit 2013 Multiple Sklerose, einige Monate später bekam sie zusätzlich die ADHS-Diagnose – eigentlich nur per Zufall. Als ihr Sohn nämlich mit ADS diagnostiziert wurde, wälzte sie viel Literatur, arbeitete sich in das Thema ein und erkannte dabei viele Parallelen.
Dass Eltern über ihre Kinder zu der eigenen Diagnose kommen, komme häufiger vor, erklärte uns Dr. Ahlers von der psychiatrischen Abteilung des Campus Benjamin Franklin in Berlin bereits im Interview.
Doch, wie ergeht es einem dabei, wenn man nicht nur selbst ADHS-Patientin ist, sondern auch einen Sohn hat, der von ADS betroffen ist? Wie viel Struktur braucht man im Alltag? Was hilft? All das hat uns Katarina im Interview erzählt.
Wie sah dein Alltag vor der Diagnose aus?
„Im Prinzip hat sich mein Alltag seit der Diagnose nicht groß verändert. Der einzige Unterschied ist, dass ich mit bestimmten Situationen besser umgehen kann, weil ich weiß, wieso ich gerade genau so reagiere oder, warum mich etwas stört.
Momentan ist die Reizüberflutung ein großes Thema bei mir. Denn ich nehme extrem viele Informationen auf und kann mich dadurch schwer abgrenzen. Seit der Diagnose bin ich in dieser Hinsicht etwas entspannter und lasse mich davon nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen.“
Anhand welcher Indizien hast du gemerkt, dass du von ADHS vielleicht betroffen sein könntest? Wie alt warst du zu dem Zeitpunkt?
„Eigentlich bin ich durch meinen Sohn auf die Idee gekommen, dass ich auch betroffen sein könnte. Da er die ADS-Diagnose bekommen hat, habe ich sehr viel Literatur dazu gelesen und einige Parallelen zu mir entdeckt. Da war ich 36, heute bin ich 37.“
Wie wurde es letztlich festgestellt?
„Meine Symptome wie Reizüberflutung und Gereiztheit wurden immer stärker, aber ich wusste nicht, was die Ursache dafür sein könnte. Deshalb habe ich mit meinem Neurologen darüber gesprochen. Ich hatte anfangs die Vermutung, dass es mit meiner Multiple Sklerose zu tun hat. Mein Neurologe, der von der ADS meines Sohnes wusste, riet mir dann, auch einen Test zu machen.“
Wie hast du dich gefühlt, als die Diagnose bestätigt wurde?
„Zum einem habe ich mich verstanden und bestätigt gefühlt, zum anderen hat die Diagnose zu unglaublich viel Selbsterkenntnis geführt. Es hat mich dazu bewegt, über die Vergangenheit nachzudenken und mich zu fragen, wieso es zu manchen Situationen gekommen ist. Es war schön zu wissen, dass ich nicht unbedingt einen schwierigen Charakter habe oder zu ungeduldig bin, sondern, dass schlichtweg die ADHS der Grund für dieses Verhalten ist.
Als ich die Therapeutin fragte, warum ich denn erst mit 36 Jahren merke, dass ich ADHS habe, erklärte sie mir, dass man in der Jugend spezielle Strategien gegen das Chaos im Kopf entwickelt. Man findet einen Weg, um mit ADHS umzugehen – bei mir war es die pingelige Planung. Sie hat mir auch erzählt, dass viele ADHS-Patienten erst davon etwas merken, wenn etwas Ungewöhnliches eintrifft, etwas nicht mehr so funktioniert wie bisher oder, wenn sie den Job wechseln.
Was wiederum zeigt: ADHS ist keine temporäre Störung, die mal auftritt und sich dann wieder auswächst – ADHS bleibt. Nur lernen die Betroffenen irgendwann, mit diesem Defizit zu leben und entwickeln dafür eigene Strategien. Diese Erkenntnis hat mich auch, meinem Sohn betreffend, sehr beruhigt. Ein ADS- bzw. ADHS-Kind ist tatsächlich sehr, sehr anstrengend. Aber ich weiß, dass er früher oder später seinen eigenen Weg finden wird.“
Inwiefern wirkt sich die ADHS auf deinen Alltag aus? Welche Lebensbereiche sind besonders betroffen?
„Eine unbeschwerte Spontanität fehlt mir manchmal. Ich bin bezüglich meines Umfelds sehr wählerisch geworden und stehe zu meinen Eigenarten. Wenn ich jemanden kennenlerne, ich aber schnell merke, dass ich mit dieser Person nicht viel anfangen kann, dann akzeptiere ich das jetzt eher als früher. Heute versuche ich nicht mehr, mich meinem Umfeld anzupassen.“
Wie hat die ADHS deinen Lebenslauf geprägt, beispielsweise in der Schule, in der Ausbildung, im Studium, im Beruf und in der Partnerschaft?
„In der Schulzeit war ich genauso wie mein Sohn. Wenn mich etwas nicht interessiert hat, konnte ich es mir einfach nicht merken. In Mathematik war ich sehr schlecht, dafür in Geometrie und Algebra richtig gut, was meinen Lehrer immer irritierte.
Ich bin in Kroatien aufgewachsen und bin während des Kriegs in die Schweiz gekommen. Nach einem Jahr Deutschklasse konnte ich bereits so gut Deutsch, dass ich die Prüfungen für die weiterführende Schule problemlos geschafft habe. Dass manche Schweizer Kinder die Prüfungen nicht geschafft haben, konnte ich nicht verstehen. In Französisch war ich dafür richtig schlecht.“
Und in deinem Job?
„Meinen Job habe ich etwa alle zweieinhalb Jahre gewechselt. Ich mochte es, in einem chaotischen Umfeld zu arbeiten und eine Linie reinzubringen. Organisation ist mein Steckenpferd, daher sehe und suche ich überall Optimierungsmöglichkeiten. Sobald alles organisiert war und sich eine gewisse Routine eingestellt hat, wurde es mir langweilig und ich habe eine neue Stelle gesucht. Monotone Arbeit wäre mein Untergang gewesen.“
Inwiefern hat sich dein Alltag geändert, als du Mutter geworden bist?
„Der Alltag bis vor zwei Jahren war eigentlich ganz normal. Ich war sehr aktiv und mochte das Gefühl, selbst in Stresssituationen noch die Kontrolle zu haben. Ich war sprunghaft, hatte gleichzeitig viele Ideen und manchmal hakte es an der Umsetzung.
Als ich Mutter wurde, habe ich aufgehört zu arbeiten und der Haushalt wurde mein großes Projekt. Ich fing an, bestmögliche Optimierungsplanungen auszuarbeiten, beispielsweise: Wann muss ich die Wäsche machen, um schnellstmöglich damit fertig zu werden? Wie komme ich möglichst schnell mit möglichst wenig Aufwand zum Ziel?
Durch meinen Sohn habe ich festgestellt, dass er ganz klare Strukturen braucht. Immer um die gleiche Zeit Essen, morgens wird der Haushalt gemacht, nachmittags spazieren gehen, um 18.00 Uhr ist das Abendessen fertig. Irgendwann wurde mir bewusst, dass das auch mir hilft, mit der Mutterrolle klar zu kommen. Sobald sich eine seiner Wachstumsphasen änderte, musste ich ganz schnell wieder neue Ordnung schaffen, weil ich das Gefühl hatte, es herrsche Chaos in meinem Ablauf bzw. Kopf. Ich brauche einfach das Gefühl, alle Zügel sehr fest im Griff zu haben. Für mein Vorgehen wurde ich ausgelacht, als Kontrollfreak bezeichnet oder als sehr pingelig betitelt…“
Was sind die größten Hürden, die zu bewältigen hast?
„Meine größte Hürde ist definitiv die Reizüberflutung. Mein Kopf und alle meine Sinne gleichen einem offenen Fenster. Ich höre alles, sehe alles, sauge zu viele Informationen in mich auf und kann dann gar nichts mehr filtern.“
Wie gehst du mit der Krankheit um? Welche Medikamente helfen dir und, bist du vielleicht auch in Therapie?
„Ich empfinde die ADHS nicht als Krankheit sondern als eine Besonderheit. Medikamente wollte ich ausprobieren, auch schon aus reiner Neugier. Leider habe ich im Herbst einen neuen MS-Schub bekommen und wollte deshalb nicht noch mehr Medikamente einnehmen.
Mein Neurologe empfiehlt mir, eine Verhaltenstherapie zu machen. Durch die MS sollte ich alles etwas langsamer angehen, bin aber von meiner ADHS etwas getrieben und brauche den Stress. Es ist schwierig, in der jetzigen Situation einen Mittelweg zu finden.“
Kannst du der Diagnose auch positive Eigenschaften abgewinnen?
„Definitiv ja. ADHS macht einen sehr großen Teil meiner Persönlichkeit aus, da ich nicht weiß, wie ich mich ohne ADHS entwickelt hätte. Wir haben außerdem einen Elternkurs für Eltern mit ADHS-Kindern gemacht. Dadurch, dass wir uns intensiv mit der ADS unseres Sohnes auseinandergesetzt haben, habe ich für mich festgestellt, dass ADHS-Menschen einfach toll sind. Wir sind etwas anders, aber macht uns dieses Spezielle nicht gerade aus? ADHS-Menschen sind sensibel, sehr aufmerksam, leicht zu begeistern, gesellig, kreativ und sie passen halt nicht immer in vorgegebene Raster.“
Wie stehst du zu dem Vorwurf „Modekrankheit“ und wie beurteilst du die massive Steigerung im Bereich diagnostizierter Kinder und verschriebener Medikamente?
„Eine Modekrankheit ist es ganz bestimmt nicht. Plump ausgedrückt, ist es eine eine neurologische Störung verbunden mit einer Hormonstörung. So etwas kann nicht plötzlich in den letzten zehn Jahren entstehen.
Meiner Meinung nach passen die heutigen ADHS-Kinder nicht mehr in das Raster der Schule. Es werden gewisse und vorgefertigte Fertigkeiten erwartet. Sobald ein Kind nicht in dieses Raster hineinpasst, wird verlangt, dass dieses Kind abgeklärt wird. Früher gab es in jeder Klasse einen Zappelphilipp, einen Träumer, einen Klassenclown. Damals hat man die Kinder akzeptiert und so gelassen wie sie sind. Heute hat das Kind keine Zeit, in seinem eigenen Tempo dem Unterricht zu folgen.“
Ist es bei deinem eigenen Sohn auch so?
„Mein Sohn wird ständig als langsam bezeichnet. Die Lehrerin verteilt fünf Übungsblätter und die Kinder sollen diese selbständig lösen. In der vorgegebenen Zeit schafft er aber nur, zwei oder drei Aufgaben zu lösen, weil er sich schnell ablenken lässt. Wenn das die Lehrperson nicht merkt, fehlt ihm nach einigen Monaten ein großer Teil des Schulstoffes. Dann wird er als langsam bezeichnet, obwohl sein IQ über dem Durchschnitt liegt.
An der Schule unseres Sohnes ist es so, dass die Schule eine Abklärung verlangt, sobald das Kind eben nicht zum Muster aus dem Lehrbuch passt. Dann bekommt das Kind den ADHS-Stempel, aber die Lehrperson weiß nichts damit anzufangen. Dabei verlangt es nur ein wenig an Eigeninitiative und Information, die sich die Lehrperson aneignen muss. Die Zusammenarbeit zwischen Kindern, Eltern und Lehrperson ist sehr wichtig. Denn durch eine aufmerksame Lehrperson kann sich ein ADHS-Kind auch sehr gut ohne Medikamente in eine Klasse integrieren und sich weiterentwickeln.“
Nimmt euer Sohn denn Medikamente?
„Wir haben uns entschieden, unserem Sohn keine Medikamente zu geben. Manchmal wird argumentiert, ob ich ihm auch keine Brille zur Korrektur geben würde, wenn er kurzsichtig wäre. Und ja, auch wir kommen manchmal in diese Situationen, in denen wir ihm liebend gerne Ritalin geben würden.
Die Therapeutin, die meinen Sohn abgeklärt hat, hat mir etwas sehr Beruhigendes gesagt: Er hat ,nur‘ die Diagnose ADS bekommen, ihrer Meinung nach fehlt bei ihm diese extreme Hyperaktivität, weil wir von Anfang an, sehr strukturiert bei ihm waren. Eigentlich haben wir es instinktiv richtig gemacht.“
Gibt es aus deiner Sicht noch gesellschaftlichen Aufklärungsbedarf oder fühlst du dich mit deiner Diagnose ernst genommen und akzeptiert?
„Vor allem in den Schulen gibt es viel Aufklärungsbedarf. Ich kann aber nur von unserer Schule sprechen. Eine Lehrperson, die sich mit ADHS beschäftigt und auskennt, hilft auch den nicht betroffenen Schülern. Einem ADHS-Kind die Schule spannend zu machen, ist nicht sehr schwer, man muss nur offen sein und etwas ausprobieren.
Vor allem besteht Aufklärungsbedarf bei der Annahme, dass sich ADHS auswächst. Nein, ADHS hat man ein Leben lang und bleibt auch im Erwachsenenalter.“
Welcher Tipp hat dir am meisten geholfen, den du gern weitergeben würdest?
„Einen speziellen Tipp habe ich nicht. ADHS möchte ich weder verharmlosen noch verteufeln. Da ich ADHS sowohl aus eigener als auch aus Elternperspektive kenne, kann ich sagen: Es ist manchmal sehr anstrengend, für den Betroffenen selber, genauso wie für sein Umfeld. Ein Leben als ADHSler ist nicht immer einfach, weil man ständig aneckt. Manche kommen damit besser klar, andere schlechter.“
Wer mehr über ihr Leben mit MS, ADHS und Familie erfahren will, zu Katarinas Blog geht es hier entlang.
Themenwoche: Frauen mit ADHS
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Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“. Weiterlesen
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