Das Jungfernhäutchen und alles, was viele mit ihm verbinden, ist schlichtweg nicht existent. Wem aber nutzt der Mythos, sodass er sich bis heute vehement hält? – Es ist vor allem eines: Symbol für die tief verankerte Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung und eine patriarchal geprägte Gesellschaft.
Das Hymen
Das Hymen wird hierzulande selbst in medizinischen Fachkreisen häufig fälschlicherweise noch „Jungfernhäutchen“ genannt. Es handelt sich um ein dünnes, dehnbares Gewebe, das sich an der Öffnung der Vagina befindet. Der Begriff „Jungfernhäutchen“, unter dem das Hymen oft noch bekannt ist, ist nicht nur veraltet, sondern auch irreführend. Zunehmend wird von der „Corona vaginalis“ gesprochen, wie das Hymen seit 2009 in Schweden genannt wird – also die „vaginale Krone“, denn es handel sich um ein rundliches Gebilde; dieser Hautkranz befindet sich dort, wo die zwei Organe Vagina und Vulva aufeinandertreffen.
„Wenn man mich fragen würde, verdient dieser Bereich überhaupt kein Wort, weil er so unspektakuär ist“, sagt Dr. Mandy Mangler, Gynäkologin und Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und dem Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin in der BR-Dokumentation „Mythos Jungfernhäutchen“. Trotzdem werden Frauen anhand dieser so unspektakulären Schleimhautfalte seit jeher eingeordnet.
Welche Funktion hat das Hymen?
Die genaue biologische Funktion des Hymens ist nicht vollständig geklärt. Einige Forscher*innen vermuten, dass es sich um eine Art Schutzbarriere handelt, die Krankheitserreger abwehren soll, klare Beweise dafür gibt es nicht. Wie auch bei Vulven, Penissen und anderen Körperteilen kann die genaue Form des Hymens von Person zu Person variieren. Das Hymen ist bei allen Frauen – ganz gleich, ob sie jung sind oder schon älter, ob sie Kinder geboren haben oder schon mal Sex hatten oder nicht – sichtbar. Es kann sich im Laufe des Lebens leicht verändern. Während es bei Säuglingen oft noch empfindlicher ist, wird es mit steigendem Östrogenspiegel (z.B. in der weiblichen Pubertät) dehnbarer und kann sich verschiedenen Bewegungen anpassen.
Wie sieht das Hymen aus?
Die Form des Hymens ist sehr vielfältig und individuell. Im Allgemeinen können jedoch folgende Typen unterschieden werden:
- Ringförmiges oder halbmondförmiges Hymen
- Komplett verschlossenes Hymen
- Mikroperforiertes Hymen
- Zweigeteiltes Hymen
- Siebförmiges Hymen
Die genaue Form der Teile ist nicht festzumachen, da das Hymen bereits im Embryonalstadium gebildet wird. Am ehesten kann man sich das Hymen als elastisches Band oder Haargummi vorstellen (s. Abbildung).
Kann das Hymen reißen?
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass Frauen beim ersten penetrativen Sex manchmal bluten und manchmal nicht – und das ist vollkommen unabhängig vom Hymen. Studien zufolge sind in dem Schleimhautkranz gar keine relevanten Blutgefäße vorhanden. Wenn also Blutungen auftreten, dann kommen sie meist durch leichte Verletzungen von Vulva oder Vagina.
Einige Hymen sind breiter, andere schmaler, beim ersten penetrativen Geschlechtsverkehr oder bei der Masturbation können manche einreißen, andere nicht. Das Hymen kann sich bei verschiedenen Aktivitäten dehnen, wenn etwas daran reibt. Das kann einen leichten Schmerz oder einen Riss verursachen.
Viele Menschen berichten, dass sie weder beim penetrativen Geschlechtsverkehr noch beim Sport ein „Reißen“ oder Dehnen des Hymens gespürt haben. Selbst bei einer vaginalen Geburt kann sich das Hymen anpassen. Wie bei so vielen körperlichen Dingen sind Elastizität und Schmerzempfinden sehr individuell.
Mythen der Jungfräulichkeit
Häufig wird im Zusammenhang mit Sex und dem sogenannten „ersten Mal“ auch vom „Jungfernhäutchen“ gesprochen, welches reißen, bluten, „zerstört“ werden und offenbar allerlei Schmerzen und Scham mit sich bringen könne.
Jungfräulichkeit ist kein medizinischer Begriff
Schon der Begriff „Jungfernhäutchen“ ist ein Fehlschluss mit schwerwiegenden Folgen. Tatsächlich ist „Jungfräulichkeit“ weder ein medizinischer noch ein wissenschaftlicher Begriff. Die Vorstellung, die Unversehrtheit des Hymens symbolisiere die Keuschheit eines Menschen, impliziert, dass gerade Frauen und Mädchen vor der Ehe sexuell „unberührt“ sein sollten. Tatsächlich ist „Jungfräulichkeit“ ein soziales, kulturelles und religiöses Konstrukt, das die geschlechtsspezifische Diskriminierung von (meist) Frauen und Mädchen widerspiegelt.
Noch einmal alle im Chor: Der Zustand des Hymens ist kein Beweis für sexuelle Aktivität oder deren Fehlen.
Die von Religion und Patriarchat auferlegte Scham
Kulturell geprägte Vorstellungen von Jungfräulichkeit, Ehre und sexueller Reinheit und ein kleines Häutchen als „biologischer Beweis“ dafür setzen vor allem junge Frauen seit Jahrhunderten unter immensen Druck. Doch woher kommt die auferlegte Scham?
Jungfräulichkeit und „sexuelle Reinheit“ haben in patriarchal geprägten Kulturen und Religionen einen hohen Stellenwert. Geschlechtsspezifische Diskriminierung insbesondere von Frauen und Mädchen sind das Resultat. Von Marias „unbefleckter Empfängnis“ über Redewendungen wie „die Unschuld verlieren“ bis hin zu Purity Rings im Disney Channel: Die Bedeutung von „Jungfräulichkeit“ und die damit verbundenen Erwartungen haben sich über Jahrhunderte in Kulturen und Religionen verfestigt und beeinflussen bis heute das Verständnis von Frauen und ihrer Sexualität.
Virginity Testing & Hymenrekonstruktionen
Der Brauch, nach der Hochzeitsnacht das Bettlaken auf Blut zu untersuchen, um die „erfolgreiche“ Erfüllung der ehelichen Pflichten und die voreheliche Keuschheit der Frau zu überprüfen, ist nur eine Form der Kontrolle über die sexuelle Integrität von Frauen. Solche Praktiken sind ein klarer Ausdruck von Geschlechterdiskriminierung, die auch heute noch stattfindet.
Sogenannte „Rekonstruktionen“ des Jungfernhäutchens ohne medizinische Notwendigkeit und sogenannte „Jungfräulichkeitstests“, um die Reinheit einer Frau vor der Ehe medizinisch zu „garantieren“, tragen zur weiteren Stigmatisierung bei. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft dies in ihrem Bericht als Menschenrechtsverletzung ein.
Überwindung des Mythos
Wie kommen wir da raus? „Wir können den Mythos Jungfernhäutchen überwinden“, sagt die Gynäkologin und Chefärztin Mandy Mangler in der BR-Dokumentation Mythos Jungfernhäutchen, „wenn wir als Gesellschaft verstehen, dass wir mehr aus der Perspektive der Frau denken sollten.“
Das Wissen und die Informationen rund um das Hymen sind zugänglich. „Doch warum“, fragt die Journalistin Ninve Ermagan in der BR-Dokumentation, „wiegt die Tradition oftmals schwerer als das Wissen?“
Der Weg zu echter Veränderung muss über das Wissen erfolgen und über die Bereitschaft, sich dieses Wissen anzueignen: Wie ist der Körper einer Frau aufgebaut? Wie funktioniert er? Wie empfindet eine Frau überhaupt Lust? – Bildung und Aufklärung sind dringend notwendig. Beginnen wir bei der Anerkennung der Tatsache, dass das Jungfernhäutchen ein gesellschaftlich konstruiertes Bild ist, das so nicht existiert.
Jede Person muss über ihren Körper selber entscheiden dürfen.
Film Tipp: “MYTHOS JUNGFERNHÄUTCHEN” räumt mit Irrglauben auf
Dass die Jungfräulichkeit anhand des sogenannten Jungfernhäutchens medizinisch nicht nachweisbar ist, wissen wenige. Und doch hält sich dieser Mythos hartnäckig. Warum können wir uns davon nicht befreien? Warum beeinflusst ein Irrglaube, eine Legende, unser Leben?
Ninve Ermagan trifft auf die Gynäkologin Mandy Mangler, die als gynäkologische Chefärztin in Berlin alles dafür tut, diesem Irrglauben ein Ende zu setzen. Sie unterhält sich mit Frauen wie Yasemin Toprak, die von ihrer streng gläubigen Familie verstoßen wurde, und trifft mit Anne Fleck eine bekennende Jungfrau. Aber auch die Männer des Berliner Vereins „Heroes“ kommen zu Wort, die mit Schulungen Menschen unterstützen, die nicht länger nach überholten patriarchalen Regeln leben wollen. Und sie interviewt die engagierte Lehrerin Sina Krüger, die es geschafft hat, dass überholte Darstellungen in Lehrbüchern für deutsche Schulen korrigiert wurden.
Die Dokumentation der UFA Documentary ist in der ARD-Mediathek abrufbar.